Textdaten
Autor: Alexander Solomonica
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Titel: Im Schoße der Familie
Untertitel:
aus: Pan, 2. Jahrgang, No. 29, S. 828–832
Herausgeber: Alfred Kerr
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 6. Juni 1912
Verlag: Hammer-Verlag G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Princeton-USA*, Commons
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Neulich in Berlin mit seltsamer Wirkung vorgelesen.


Im Schoße der Familie
Von Alexander Solomonica

Der kleine Franz setzt sich in gedrückter Stimmung zu Tisch. Daran ist nicht die schlechte Note schuld, die er heute in der Schule erhalten hat, denn er ist entschlossen, sie für diesmal zu verheimlichen. Aber er kann trotz seiner dreizehn Jahre sehr wohl in den Gesichtern der Anwesenden lesen. Wenn sie auch scheinbar nur die Unfreundlichkeit zur Schau tragen, die ihm vertraut ist, so errät er doch, daß etwas Besonderes gegen ihn im Spiele sei.

Darüber macht er sich aber vorläufig keine Gedanken. Er ist hungrig und hat alle Ursache, aufgebracht zu sein, da es Erbsensuppe gibt, die er nicht leiden mag. In gewissen Dingen wird aber streng auf seine Erziehung geachtet; er bekommt also einen Teller voll Erbsensuppe. Die alte Frau, die sie ihm reicht, seine Stiefgroßmutter, hat ein eingefallenes Gesicht, etwas hervorstehende Augen und schmale welke Lippen. Sie ist adlig von Geburt, die Tochter eines Barons, den die Armut gezwungen hatte, einen Bürgerlichen zum Schwiegersohn zu wählen. Jedenfalls besitzt sie gute Umgangsformen. Ihr Mann aber war später gleichfalls verarmt. Der Großvater nimmt jetzt schüchtern an der Mahlzeit teil und führt mit seiner Frau eine trockene Unterhaltung. Auch Franzens Tante Luise ist zugegen, zum Leidwesen ihrer Eltern, die sie zu verheiraten wünschen. Ein etwa zwanzigjähriges, sehr dummes und häßliches Mädchen; nur die blonden Haare sind hübsch, dennoch weiß sie auf die Männer ihren Einfluß auszuüben.

Bei Tisch kümmert sich niemand um das Kind. Es stellt selbst die eine oder andere Frage, das geschieht aber gleichfalls in unfreundlicher Absicht. Die Suppe läßt es stehen, was mit Stillschweigen übergangen wird, dafür aber wird ihm die süße Speise entzogen. Doch plötzlich wendet ihm der Großvater seinen weißen buschigen Schnurrbart zu und fragt streng:

„Was gabs in der Schule? Prüfung, was?“

„Nein“, lügt Franz mit klarer Stirn.

Damit ist die Sache abgetan. Nachmittags ergibt sich für ihn die Gelegenheit, in die Küche zu schleichen und ein großes Stück der süßen Speise trotzalledem in seine Gewalt zu bekommen. Die Bosheit erwacht in ihm, während er sie ißt, so daß er eine Überraschung im Augenblick fast herbeisehnt. Da [829] aber niemand kommt, nimmt er sich vor, später jede Schuld in Abrede zu stellen. Prügel hat er nur im äußersten Falle zu gewärtigen, da es sich um eine gesittete Familie handelt. Übrigens weiß er wohl, daß irgendwelche mächtigen Verwandten, die hier die Pension für ihn bezahlen, auch ein Wörtchen mitzureden haben.

Die Verwandten kennt er allerdings nur flüchtig und ist auf gut Glück diesen Großeltern ausgeliefert. Er hatte seit jeher wenig Sympathie für sie, war aber bereit, sich ihnen wie allen Menschen gegenüber anständig zu verhalten. Da er jedoch ihrer Feindseligkeit begegnet, hat er keinen Grund, tugendhaft zu sein. Zudem wird es deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß man ihn für einen besonders ungezogenen Jungen ansieht. Auch pflegen die Großeltern seine Streiche überall auszuposaunen, daher hatte er ohne weiteres den Ruf eines Bösewichts erlangt. Er hält sich nun selbst für schlecht, nimmt es sich aber nicht zu Herzen, hat übrigens auch von seinen Gegnern nicht die beste Meinung. Da man ihm Mißtrauen zeigt, lügt er aus Notwehr; es gilt für ihn, auf jedes Wort, jede Geste der Erwachsenen zu achten, sich selbst keine Blöße zu geben und das, was Strafe verdient hat, zu verheimlichen. Gegen Verleumdungen jedoch vermag er sich nicht zu schützen. Er wird als miserabler Schüler hingestellt, obgleich er beinahe zu den guten zu rechnen ist. Franz hat seinerseits im Hause an manchem etwas auszusetzen, darf aber seine Meinung nicht frei heraussagen. Hier herrscht Unreinlichkeit, was ihn mit Ekel erfüllt, da er von Natur peinlich sauber ist. Es widerstrebt ihn, von schmutzigen Tellern zu essen; man zwingt ihn sogar aus Gläsern zu trinken, die kurz vorher ein anderer benutzt hat. Jeder Winkel in den alten Zimmern ist stauberfüllt, der Abtritt eine Hölle. Dabei sorgt man nicht ordentlich für seine Wäsche, so daß er sich langsam an die Umgebung gewöhnt. Der Knabe wird selbst liederlich, da er fühlt, daß sein Widerstand vergeblich ist. Nun zeigt man mit Fingern auf ihn, nennt ihn „ein Ferkel“. Franz kann jedoch den Zusammenhang nicht durchschauen, er schämt sich sogar zuweilen seiner schmutzigen Hände.

Nun lernt er aus einem großen Geographiebuche, vergißt aber dabei keinen Augenblick, daß er sich in Feindesland befindet. Er hat kein Kinderzimmer, sondern muß die Wohnstube mit den Erwachsenen teilen. Die Großmutter näht am selben Tisch und führt mit Luise ein Gespräch. Beide reden mit leiser Stimme, gleichwohl merkt er, daß die Luft nicht rein ist. Man hat es auf ihn abgesehen; er ist übrigens daran [830] gewöhnt, daß nicht mit offenen Karten gespielt wird. Es ist ihm unbehaglich zumute, wenn er sich auch nur eines geringen Vergehens bewußt ist. Vielleicht ist irgendeine alte Sünde ans Licht gekommen. Er horcht also aufmerksam hin, kann aber diesmal die Anspielungen überhaupt nicht verstehen.

Dann ist Luise allein im Zimmer und sofort ändert sich ihr Benehmen. Sie ist zwar zurückhaltender als sonst, spricht aber mit Franz und macht sich in seiner Nähe zu schaffen. Der Knabe liebt sie seit einiger Zeit mit Leidenschaft, was sie zu einem Doppelspiel veranlaßt. Hinter seinem Rücken beschimpft sie ihn nicht minder als vorher. Sie gönnt ihm kein freundliches Wort, wenn andere dabei sind, doch sie kokettiert mit ihm, wenn es niemand sieht, und läßt es zu, daß er ihr die Hand küßt. Es ist ihr auch um diesen Liebhaber zu tun. Trotzdem hat Franz einiges Zutrauen zu ihr. Er erzählt ihr sogar, daß er die süße Speise aus der Küche geholt hat und bittet sie, es niemandem zu verraten.

„Du wirst es der Großmutter nicht sagen, nicht wahr?“

„Sei nur ruhig, ich werde es niemandem sagen!“

Sogleich aber geht sie hin und erzählt es der Großmutter. Später leugnet sie den Verrat und behauptet, die Großmutter hätte es selbst entdeckt.

Dennoch erfaßt den Knaben das Verlangen, Luise zu sehen, nachdem alle zu Bett gegangen sind. Er erhebt sich und schleicht zur Tür ihres Zimmers. Durch die Spalten dringt Licht, doch die Großmutter ist drin, er horcht, wie er es oft getan hat. Sie kommen auf ihn zu sprechen, senken aber die Stimmen zu einem unhörbaren Geflüster. Dann wird es still. Er läuft zurück und kritzelt ein paar Verse auf Papier. Er schiebt den Zettel durch die Türspalte und hört ein leises Kichern, das ihn ermutigt. Fünf oder sechs solcher Zettel, alle mit Versen beschrieben, wirft er hinein, merkt nicht einmal, daß die Lampe erloschen ist. Lange drückt er seine Lippen an das Holz der Türe, ehe er sich zur Ruhe begibt.

Am nächsten Nachmittag entdeckt Franz auf der Treppenwand eine unflätige Zeichnung, die sich seit zwei Tagen dort befand, ihm aber entgangen war. Die Zeichnung dient einer Reihe von ordinären Schimpfworten, die in großer, zittriger Schrift danebenstehen, zur Illustration. Zuhause wird der Knabe noch unfreundlicher behandelt als Tags zuvor. Er sieht höhnische Mienen, aber man will mit der Sprache nicht herausrücken. Auf dem aufgedunsenen Gesichte des Großvaters steht Entrüstung geschrieben, die Großmutter ist schweigsam und hart; Luise wendet sich verächtlich von ihm ab. Eine [831] drückende Verlegenheit befällt ihn, seine Gedanken sind zerstreut. Abends schleicht er an eine Türe, um zu horchen; drinnen läßt man alle Vorsicht außer acht und spricht laut und vernehmlich.

„So ein Lump“, sagt der Großvater und räuspert sich.

„Er ist es sicher gewesen“, meint die Großmutter mit ihrer kränklichen Stimme, „niemand sonst im ganzen Haus ist einer solchen Gemeinheit fähig.“

Da sagt Luise: „So jung und schon verdorben! Schrecklich, nicht? So etwas sollte man doch ausrotten!“

Franz erschrickt, denn er kann sich das nicht zusammenreimen. Da fällt ihm die Zeichnung ein, die er vorhin gesehen hat, und alles wird ihm klar. Man glaubt, daß er es gewesen sei. Der Knabe verliert die Fassung und wird bleich. Er haßt und verachtet seine Großeltern, dennoch beunruhigt ihn dieser Verdacht. Dabei kann er sich nicht einmal dagegen verwahren, da ihn niemand beschuldigt hat. Er müßte ja eingestehen, daß er an der Tür gehorcht habe.

Während des Abendbrodes kann er niemandem in die Augen sehen. Alle aber blicken auf seine Augen, die niedergeschlagen sind. Er ißt nur wenig, obgleich ihn Hunger quält. Er hat keine klare Vorstellung von den Beziehungen der Geschlechter, ahnt jedoch, daß man nun seine gemeine Gesinnung für erwiesen hält. Man geht zu Bett; auch der Knabe entkleidet sich, läuft aber noch im Nachthemd zur Tür Luisens. Er sieht Licht, doch alles ist still. Plötzlich bricht er in Tränen aus, rüttelt an der Tür und ruft schluchzend:

„Laß mich hinein, Liesel, ich muß dir was sagen.“

Das Mädchen befürchtet einen Skandal und beschließt, ihn hereinzulassen. Franz steht in ihrem Zimmer, aber ein Nebel ist vor seinen Blicken. Sie fragt:

„Wie siehst du denn aus? Was willst du denn?“

„Ich bin es nicht gewesen, wirklich nicht, ich habe die Zeichnung nicht gemacht!“

Einen Augenblick Schweigen; er weint.

„Es hat dich ja niemand beschuldigt!“

„Ich weiß es doch, ich weiß, ich hab gehorcht! Wie kannst du das von mir denken?“

„Also du horchst, schämst du dich nicht? Schämst du dich nicht, an der Tür zu horchen?“

Da wird die Tür vom Schlafzimmer der Großeltern ein wenig geöffnet. Franz läuft im Nachthemd hin und drückt sie sofort wieder zu. Er schluchzt, die Tränen rollen ihm über [832] die Wangen. Er weiß, daß sein Gesicht jetzt zur Grimasse verzerrt ist, kann das aber nicht ändern; er hat einen Weinkrampf.

„Wer ist es denn gewesen, wenn nicht du, was?“

„Ich bin es jedenfalls nicht gewesen“. Er blickt durch den Tränennebel erstaunt nach ihr hin. Sie liegt im Bett, ein Buch ist auf den Teppich gefallen. Ihre Brust ist halb entblößt, und auf ihrem Gesichte, das er so liebt, sitzt ein höhnisches, kaltes und grausames Lachen. Sie sagt:

„Warum weinst Du denn? Mach’ lieber solche Schweinereien nicht!“

Wieder wird die Nachbartür geöffnet und Franz schließt sie wie zuvor. Das wiederholt sich sogar noch ein drittes Mal. Der Knabe hat einen Anfall und kann vor Weinen nicht sprechen. Er streckt die Hände nach ihr aus und rührt sich nicht vom Fleck. Da sagt sie, um der Szene ein Ende zu machen:

„Also du warst es nicht! Weine doch nicht so jämmerlich! Hörst du? du warst es nicht, jetzt mußt du schlafen gehen.“

Da begreift er, daß sie ihm nicht glauben will! Er geht sogleich hinaus, noch weinend, ohne ein Wort zu verlieren.

Er dreht seine Lampe aus und legt sich hin; die Müdigkeit überkommt ihn, und so groß sein Kummer noch vor einer Minute war, jetzt ist er vergangen. Er schluchzt leise vor sich hin, ohne es zu wissen; sein Gesicht ist ganz naß. Aber er hat noch Zeit, das Flackern der ausgehenden Petroleumlampe lustig zu finden, ehe er in einen tiefen Schlaf verfällt.