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Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912)

gewöhnt, daß nicht mit offenen Karten gespielt wird. Es ist ihm unbehaglich zumute, wenn er sich auch nur eines geringen Vergehens bewußt ist. Vielleicht ist irgendeine alte Sünde ans Licht gekommen. Er horcht also aufmerksam hin, kann aber diesmal die Anspielungen überhaupt nicht verstehen.

Dann ist Luise allein im Zimmer und sofort ändert sich ihr Benehmen. Sie ist zwar zurückhaltender als sonst, spricht aber mit Franz und macht sich in seiner Nähe zu schaffen. Der Knabe liebt sie seit einiger Zeit mit Leidenschaft, was sie zu einem Doppelspiel veranlaßt. Hinter seinem Rücken beschimpft sie ihn nicht minder als vorher. Sie gönnt ihm kein freundliches Wort, wenn andere dabei sind, doch sie kokettiert mit ihm, wenn es niemand sieht, und läßt es zu, daß er ihr die Hand küßt. Es ist ihr auch um diesen Liebhaber zu tun. Trotzdem hat Franz einiges Zutrauen zu ihr. Er erzählt ihr sogar, daß er die süße Speise aus der Küche geholt hat und bittet sie, es niemandem zu verraten.

„Du wirst es der Großmutter nicht sagen, nicht wahr?“

„Sei nur ruhig, ich werde es niemandem sagen!“

Sogleich aber geht sie hin und erzählt es der Großmutter. Später leugnet sie den Verrat und behauptet, die Großmutter hätte es selbst entdeckt.

Dennoch erfaßt den Knaben das Verlangen, Luise zu sehen, nachdem alle zu Bett gegangen sind. Er erhebt sich und schleicht zur Tür ihres Zimmers. Durch die Spalten dringt Licht, doch die Großmutter ist drin, er horcht, wie er es oft getan hat. Sie kommen auf ihn zu sprechen, senken aber die Stimmen zu einem unhörbaren Geflüster. Dann wird es still. Er läuft zurück und kritzelt ein paar Verse auf Papier. Er schiebt den Zettel durch die Türspalte und hört ein leises Kichern, das ihn ermutigt. Fünf oder sechs solcher Zettel, alle mit Versen beschrieben, wirft er hinein, merkt nicht einmal, daß die Lampe erloschen ist. Lange drückt er seine Lippen an das Holz der Türe, ehe er sich zur Ruhe begibt.

Am nächsten Nachmittag entdeckt Franz auf der Treppenwand eine unflätige Zeichnung, die sich seit zwei Tagen dort befand, ihm aber entgangen war. Die Zeichnung dient einer Reihe von ordinären Schimpfworten, die in großer, zittriger Schrift danebenstehen, zur Illustration. Zuhause wird der Knabe noch unfreundlicher behandelt als Tags zuvor. Er sieht höhnische Mienen, aber man will mit der Sprache nicht herausrücken. Auf dem aufgedunsenen Gesichte des Großvaters steht Entrüstung geschrieben, die Großmutter ist schweigsam und hart; Luise wendet sich verächtlich von ihm ab. Eine

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Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (6. Juni 1912). Hammer-Verlag G.m.b.H., Berlin 1912, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pan_(6._Juni_1912).djvu/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)