Im Gottesländchen/Heimwärts
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29. Juli. Noch blinkten am Himmel die Sterne und Nebel bedeckte die Flur, als ich mich erhob, um beim ersten Schimmer der Morgenröte heimwärts zu wandern. Ringsum war alles still, nur in der Ferne ließ sich Hundegeheul vernehmen. Immer heller leuchtete links im wogenden Nebel das Morgenrot, was schon phantastisch aussah. Der niedrige Wacholder am Wege schien mit Laken bezogen zu sein, denn auf den Spinngeweben zwischen seinen Ästen lagerte überall der weiße Schimmer des Morgentaues. Gar bald gelangte ich beim raschen Gehen zur Fähre bei der Windau, wo diesseits das Dorf Laxdünen (l. Lagsdihnu ziems) sich befand. Diese Stelle führte auch den Namen Bolderi, welches Wort möglicher Weise auf das Schießen mit einer Wurfmaschine hinweist[1]. Wenn diese Annahme richtig ist, wird hier auf dem [116] hohen Ufer am Flusse vorzeiten eine Befestigung des Stiftes Pilten gelegen haben. Noch schlief in der frühen Morgenstunde der alte Fährmann drüben den Schlaf des Gerechten, und lange mußte ich seiner warten. Folgende Zeilen wurden da zur Erinnerung ins Tagebuch geschrieben: „Nebel bedeckt die Flur. Wie ein weißes Gewebe hat er sich über der Windau und ihren Uferweiden gelagert. Bei einem großen Gebüsche auf der Uferanhöhe schießen hinter hellgrauen Wolken die ersten Strahlen der eben aufgegangenen Sonne empor. Schon wird es drüben lichter, und die jenseitigen Ufer lassen ihre Umrisse erkennen. Die Vöglein sind erwacht: ein Gezwitscher ertönt überall als Morgengruß für die liebe Sonne. Man hört in der Nähe das Geläute des zur Weide ziehenden Viehes. Hähne krähen hin und wieder. Nebenbei sprudelt ein erquickender Quell aus den Uferanhöhen hervor und fließt rauschend zur Mutter Windau hinab. Taubedeckt sind noch die Wiesen.“ Endlich erschien der Fährmann und setzte mich über. Er trug noch die altmodische Tracht. Auf dem Kopfe hatte er eine Mütze mit Ohrenklappen ; die Jacke mit den großen metallenen Knöpfen hielt oben eine Ssakta fest; die Hosen gingen bis zu den Knöcheln, wo sie mit den Bändern der Pasteln umwickelt waren. Der siebzigjährige Mann lahmte auf einem Beine. Er war sehr freundlich und hinterließ mir das beste Andenken an die Wentinji, den lettischen Volksstamm am unteren Laufe der Windau, zu dem er seinem tahmischen Dialekte nach zu gehören schien. — Hinter dem Neuenkruge erholte ich mich im schattigen Fichtenwalde, da die Sonne schon wieder lange vom Himmel herabbrannte und ich müde geworden war. Durch Fichten- und Tannenwald, vorüber an einem nahen See (bei Tigwen), dem ein Bach zuströmte, ging es weiter. Allmählich wurde [117] die Gegend freier, und ich näherte mich dem Windautale bei Goldingen. Rechts lag an einer Stelle das nette weiße laubbeschattete Herrenhaus von Kimahlen. Auf den freien Anhöhen, über die der Weg führte, brannte die Sonne heiß. Das veranlaßte mich im Wagenhöfschen Kruge Einkehr zu halten. Bis Goldingen waren es noch 8 Werst. Es war Abend und die Luft kühler geworden. Ich traf ein Weiblein, das nach Krahzen unterwegs war. Wir gingen zusammen und unterhielten uns. Vertrauensvoll erzählte sie mir von ihren Sorgen, von ihrem Sohne, der in der Fremde als Soldat gestorben, wobei ihr die tiefe innere Bewegung anzumerken war. Wenn man mit dem einfachen Volke menschlich redet, als Mensch zum Menschen, so lernt man seine Gesinnung und sein Denken kennen, gewinnt tiefe Einblicke in die Volksseele … Das von der Abendsonne beschienene Goldingen grüßte mich freundlich von ferne. Ich ging durch die Stadt, über die Windaubrücke, mich nochmals am Anblicke der Rummel ergötzend, und dann durch die Alleen weiter. Die rote Sonne verschwand seitwärts von Goldingen und hinterließ die herrliche purpurne Abendröte. 8 Werst hinter Goldingen übernachtete ich in einem Kruge. Die Krugsleute waren Deutsche.
30. Juli. Um 3 Uhr morgens setzte ich meinen Heimweg fort. Der Himmel war bewölkt. Als ich mich hinter großen, sich durch Reichtum an Beeren auszeichnende Wälder Kabillen näherte, das, von Gesinden, Feldern und Wiesen umgeben, auf einer freien hügeligen Fläche lag, fing die Sonne an zu scheinen. Einige Werst hinter diesem Orte kehrte ich unweit der Wassermühle in dem Bunzen-Knechtsgesinde ein, wo man Pferde zum Fahren erhalten konnte. Als hier die Frauen mein Wolltuch sahen, meinten sie, man habe nicht gar lange zurück auch in Rönnen (15 Werst von hier entfernt) ähnliche „Willaines" getragen. Während ein Knecht sein Pferd anspannte, um mich 27 Werst weiter nach Samiten zu [118] fahren, unterhielt ich mich mit zwei freundlichen treuherzig blickenden Bauernknaben, von denen besonders der eine sehr geweckt und begabt schien. Gern, erzählte er, würde er mehr lernen, als ihm die Gemeindeschule bieten könne. Doch heißt es in dieser Beziehung bei einem Knechtskinde oft, wie der Lette sagt: „Kas tuo duos?“[2] — Um die Mittagszeit fuhr ich nun weiter. Am Wege lag das alte Gut Wahnen. Die Kirche mag noch die Zeiten erlebt haben, wo Herzog Gotthards Rat Salomon Henning hier sein Heim gehabt hat. Überall sah man nur Felder und grüne Wiesen. Erst bei der schön gelegenen Matkulnschen Forstei fing der Wald wieder an, der sich bis Samiten hinzog. Mächtige Eichen rauschten am Wegesrande, während vom blauen Himmel die goldene Sonne herabschien und ein erfrischender Wind über die Fluren wehte. Es war ein schöner echter Julitag. An vielen Stellen wurde Getreide eingeführt. Nach mehreren Stunden näherten wir uns Samiten, wo mir das Schloßgebäude inmitten eines Parkes auffiel. Im Schulhause erholte ich mich bei guten Menschen, worauf ich nach dem Mittagessen zu Fuß weiterwanderte. Heiß brannte die Sonne. Dennoch fiel einem das Gehen nicht schwer, da die Gegend längs der Chaussee viel Abwechslung bot: Anhöhen und Täler, Wälder und Felder, Güter und Gesinde. Vor Sahten lag ein großes schloßartiges Schulhaus am Wege. Die von Bäumen umgebene Sahtensche Kirche stand auf einem Berge. Am Ufer eines der nahen Abau zufließenden Baches lud hier ein schattiger Hain zum Rasten ein. Hinter dem Kirchberge zweigten von der Tuckumer Landstraße zwei Wege ab. Links lag seitab an der Kandauschen Straße die Sahtensche Ackerbauschule, rechts an der Doblenschen — das Irmlausche Lehrerseminar, [119] dem viele tüchtige Volksschullehrer Kurlands ihre Ausbildung verdanken. Über eine steinerne Brücke passierte ich wieder die hier noch recht kleine in einem wiesenreichen Tale fließende Abau. Im Frühjahr soll sie austreten und sehr reißend werden. Hier begegneten mir Zigeuner, die achtungsvoll grüßten und meine Willaine priesen. Ungern wäre ich ihnen im Walde begegnet, der nun begann und bis Tuckum mein Begleiter blieb. Es war ein schöner Laubwald, dessen Bäume hoch zum Himmel emporragten. Auch Nadelwald erschien stellenweise. Bis Tuckum waren es noch gegen 12 Werst. Da traf ich im Walde einen Fuhrmann, der mich mitnahm. Unterwegs machte mich dieser bei einer Lichtung in einem Tale — die Gegend war bergig — auf das Gehpen-Gesinde aufmerksam, dessen Besitzer den Obstbau sehr rationell betrieb: sogar längs den Gräben zwischen den Kornfeldern hatte er Obstbäume gepflanzt. Meine Willaine anlangend, sagte der Fuhrmann, daß auch in der Tuckumer Gegend früher ähnliche Umlegetücher im Gebrauch gewesen, jetzt aber schon seit Jahrzehnten verschwunden seien. Wir begegneten Equipagen, deren Insassen zum Teil eingenickt waren: die Sommersaison in Plönen war zu Ende und die Badegäste kehrten auf ihre Güter zurück. Einige Werst vor Tuckum hatten wir von einem Berge, über den der Weg führte, einen schönen Ausblick auf die Gegend vor uns. Dort lag auf einer grünumfangenen Anhöhe am Fuße mächtiger bewaldeter Höhenzüge, über die der Hüningsberg sein Haupt emporhob, das Städtchen Tuckum mit seinen weißen Häusern. Es war eine lohnende Fernsicht. Kurz vor Tuckum fuhren wir an der Mühlenstauung vorüber, die in einem sumpfigen Tale lag. Hier badeten sich unweit der Landstraße ganz sans gene verschiedene Menschlein. Im Städtchen selbst gab es ein reges Leben: ausgeputzte Juden spazierten, da es Schabbes war, überall umher, und dann fanden sich auch schon verschiedene Fremde, z. B. Zigeuner, [120] zum großen Markte ein, der hier Montag stattfinden sollte. — Am Abend führte mich das Dampfroß wieder meiner Vaterstadt zu. Das Abendrot leuchtete wie zum Abschiede über den Wäldern, Feldern und Mooren Kurlands am Wege, das ich, reich an schönen Erinnerungen und voll Dankbarkeit für genossene Gastfreundschaft, in Kemmern, wo ich es bei der Hinfahrt betreten hatte, wieder verließ.
- ↑ Vergl. dazu auch die „Bolder-аа“ bei der Festung Dünamünde (Ustj Dwinsk), in der Nähe von Riga, wie auch das lettische Verbum „bulderäht“, das nach Ulmann in Edwahlen „poltern, Lärm machen“ bedeutet; gleichfalls das mittelhochdeutsche „boler“ = Wurfmaschine, wie auch das damit zusammenhängende neuhochdeutsche „der Böller“ — Schießmörser; vor allen die Erläuterungen zum Verbum „boldern“ in „Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm“, II. Band, Leipzig, 1860.
- ↑ „Wer wird das geben?“ — Wer wird das einem zuteil werden lassen?“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Kapitelüberschrift ergänzt.