Im Gottesländchen/Am kurischen Strande

Von Talsen nach Rohjen Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Landeinwärts
{{{ANMERKUNG}}}
[54]
Am kurischen Strande.

A. Rohjen war ein ärmliches Fischerdorf mit einer Kirche, einer Seemannsschule und einem Warenhause. Am Strande wurde ein Schiff gebaut. Vom Glöckner, einem jungen Fischerwirt, ließ ich mir das Innere der steinernen, 1878 renovierten Kirche zeigen; einfach und schlicht war die Einrichtung. Einmal monatlich soll der Pastor aus Erwahlen herüberkommen, sonst Sonntags der Sänger ein Gebet verrichten. „Sänger“ sagten die Leute, nicht wie anderwärts „Küster.“ Das ist wohl noch der „Cantor“ der alten Zeit. Vom Kirchturme hatte man einen Ausblick auf den Fichtenwald und das [55] Meer. Bei der Kirche ruhten die verstorbenen Gemeindeglieder, von denen mancher seinen Tod in den Wellen bei Erfüllung seines Berufes gefunden hatte. In alten Zeiten wird Rohjen ein Seeräubernest gewesen sein, denn die Kuren sind aus der Geschichte als gefürchtete Seeräuber bekannt; seine jetzigen Bewohner dagegen sind ehrliche Fischer. Die hier ins Meer fließende Rohje wies besonders flußaufwärts ganz hübsche Partien auf. Ich notierte mir dort auf einem schmalen Stege folgendes: „Die gelblichen Fluten des Flusses ziehen im Abendsonnenscheine unter mir dahin. Der steinige und schlammige Grund läßt seinen Reichtum an Fischen und Krebsen ahnen. Die hohen Flußufer sind mit Fichtenwald bedeckt; hin und wieder sieht man auch eine Birke. Vöglein piepsen. Ein Heimchen zirpt in der Nähe. Mücken spielen im Sonnenstrahle. Hellblauer Himmel mit lichtem Gewölk wölbt sich droben. Abendstille. Leises Waldesrauschen.“ Am Ausflusse der Rohje hiel­ten auf felsigen Riffen krächzende Krähen ein Stelldichein. Dort befand sich beim Kordonhäuschen eine Fähre. — 8. Juli. Unser Wirt besaß eine echte Seemannsnatur. Er war nicht groß von Gestalt, gesetzten Körperbaues, trug einen roten Seemannsbart und hatte etwas Schroffes und Rauhes an sich; doch mußte ich bei seinem Anblicke unwillkürlich an den Spruch „Rauhe Schale, edler Kern“ denken. Auch in Rohjen gab es schmackhafte Butten. Für die Nacht waren im Meere Netze ausgeworfen worden. Am Morgen wurden sie herausgezogen, doch fanden sich darin nur wenig Fische. Unter diesen fiel mir ein Meerochse auf, dessen Haut verschiedenfarbig: schwarz, gelb und rötlich, schillerte und der über dem platten Gesichte ein Paar kleine Hörner trug, was ihm wohl seinen Namen verschafft haben mag. Er war ungefähr 3/4 Fuß lang. In England, sagte unser Wirt, habe er viel größere Meerochsen gesehen. Die Engländer kannte er nur unter dem Namen „Inglischmenn“. Er war dreißig Jahre Schiffsführer gewesen, [56] hatte den größten Teil des Lebens auf weiten Seereisen zugebracht und sich dabei die rauhe, wetter- und schicksalgefeite Natur erworben, die an ihm auffiel. Aus der Zeit des Krimkrieges (1853—56) erinnerte er sich, wie damals bei Rohjen die Engländer, welche die russische Küste blockiert hatten, 11 Böte (Schaluppen) ans Land schickten, nachdem sie vorher die wenigen Häuser am Ufer zerschossen hatten. Hinter Gebüsch verborgen, beobachteten die Rohjer, wie die Feinde landeten und ihre in der Nähe versteckten Böte verbrannten. Noch vor kurzem, sagte er, habe bei seinem Hause eine Fichte gestanden, deren oberer Teil von den englischen Kugeln damals weggeschossen worden sei.

Von Rohjen begab ich mich per pedes apostolorum längs dem Meeresufer nach dem 18 Werst entfernten Uppesgrihwe. Still ruhte die See, denn der Wind kam von der Landseite. Einige Werst hinter Rohjen befand sich das Stranddorf Ilmaten. Am Ufer lagen hier viele Steine, die sich recht weit vom Gestade ins Wasser hineinerstreckten. Strandläufer, die kleinen piepsenden Vöglein, liefen dem Wanderer oftmals über den Weg. Unweit des nächsten Dorfes Kalleten reichte ein Tannenwald bis ans Ufer, was ich hier zum ersten Male sah. Die Sonne schien freundlich vom hellblauen Him­mel herab. Bei Kalleten stieg ich auf einen im Wasser liegen­ den großen Felsblock, um oben zu rasten. Leise plätscherten die Uferwellen, frisch gekräuselt war die Meeresfläche. Wer weiß, welche Schicksalsstürme diesen Felsblock schon umtobt hatten? Ungeachtet seiner Größe war er über das Meer ge­tragen und hier im Sande gebettet worden, wo ihn das Wasser schon seit undenkbarer Zeit bespülte und glättete. Die Sonne brannte ihn, so daß er bereits Spuren von Rissen zeigte; Wind und Wetter umbrausten ihn oft sehr rauh. Rings die kleinen Blöcke nahmen sich neben ihm wie Kinder aus, denn vielemal überragte er sie an Größe.

[57]

„Es flimmern die schäumenden Wellen
Im Mittagssonnenschein,
Und rauschend zum Strande, zerschellen
Sie dort beim Felsgestein.
     Es ruhen die uralten Blöcke
     Schon lange im Ufersand;
     Der eine, ein nordischer Recke,
     Mahnt mich an sein Vaterland.
Am Rande des wogenden Weltmeers
Alt-Norge[1] sich stolz erhebt;
Seit vielen Jahrhunderten dorten
Ein mutiges Völklein lebt.
     Trotz Wetter und Sturm und Gefahren
     Auf Gott es fest vertraut;
     Sein Haus steht auf felsigem Grunde,
     Nicht wankendem, fest gebaut.
So harrt es dort aus, das Völklein,
Ein Riese an Kraft und an Mut;
So harrt es dort aus wie im Winter,
So auch in der Sommerglut.
     Der Felsstein an unserem Strande,
     Dort seine Wiege stand,
     Nun ruht er fern hier im Sande,
     Mahnt mich an sein Vaterland.“

Kalleten zog sich weit am Ufer hin. Es war ein an­sehnliches zu Nogallen gehörendes Dorf mit einer lutherischen Kirche, einem Baptisten-Bethaus und einem Kruge. Die Besitzer von Waldegahlen und Nogallen, beide Barone Fircks und Brüder wohnen hier im Sommer. Sie hatten sich einen Damm aus Felsblöcken ins Meer errichten lassen, auf dem ein Badehäuschen stand. Auch andere Familien aus Talsen, Saßmacken und anderen Orten genießen hier im Sommer das stärkende Meerbad. Eifrig wurde hier der Schiffsbau betrie­ben. Unlängst sollten 7 Schiffe vom Stapel gelassen worden [58] sein. Schon in Mellßillen hatte ich ein im Bau begriffenes Schiff gesehen; in Rohjen und Ilmaten auch welche, und hier schaukelten sich wieder ein paar auf den Fluten der See. Es waren einfache für den Küstenhandel bestimmte Segelschiffe, die jedoch auch weitere Fahrten, sogar über das große Weltmeer, unternehmen. Von den jungen Fischern in dieser Strandgegend sollen viele auf solchen Schiffen ferne Meere befahren. Hinter Kalleten ging ich eine Strecke Weges mit einer Fischerfrau, die ein kleines Mädchen an der Hand führte, das ein Körbchen (lettisch: wahzelihte) trug. Mutter und Tochter gingen in den Wald Beeren lesen. Sie war eine Walljinieze, die Frau eines Fischerknechts. Diese hätten, wie sie sagte, ein schwereres Auskommen als die Wirte. Die kleinen Hütten am Wege gehörten den Walljinieken, die besseren Häuser den Wirten. Zu den Baptisten, die hier wohnten, komme zuweilen aus Windau ein Prediger (Evangelist). Sie selbst schien auch eine fromme Seele zu sein. Bei Bahten erreichten die Dünen eine bedeutende Höhe. Hier soll der Besitzer von Wandsen im Sommer wohnen. Auf den Dünen waren Gärten angelegt. Heiß brannte bei der Windstille die Sonne. Überall längs dem Strande lagen den Fischern gehörige nummerierte Böte. Jedes Frühjahr soll vom nächsten Kordonhäuschen jemand kommen, die Böte mit Nummern ver­sehen und sich anschreiben. Für jedes müsse dann eine Steuer von 10 Kopeken entrichtet werden. Von Rohjen bis in die Nähe von Uppesgrihwe betrug die Zahl der nummerierten Böte schon 300.

В. Vier Werst vor dem zuletzt genannten Orte lag Wildendorf, wo ein Weg rechts nach Uggunziem abzweigte. Noch kam ein langer Fichtenwald und hinter ihm das ansehn­liche Fischerdorf Uppesgrihwe (Flußmündung), wo sich vier liebe Kommilitonen für den Sommer einquartiert hatten, um in Ruhe ihren Studien obzuliegen. Schön war der Wald [59] beim Dorfe. Am Abend gingen wir tief in ihn hinein. Dort wurde so manches herrliche Volkslied gesungen, das im schweigenden Fichtenwalde widerhallte. — 9. Juli. Erquickend war das Meerbad, angenehm der Aufenthalt am Strande im harzigen Fichtenwalde, wo viel Wachholder wuchs. Dünen waren hier fast gar keine vorhanden; erst weiterhin im Walde gab es kleine sich parallel dem Meere hinziehende Bodenerhebungen. Gar schwül wurde es um die Mittagszeit. Der Himmel war zum Teil bewölkt. Das Meer ruhte glatt und eben. In der Ferne zog sich der dunkle Wald längs dem hellen Ufer zum Kap Markgrafen hin, wo der weiße Leuchtturm hinter den Bäumen hervorblinkte. In der Mittagsglut ruhten im Ufersande Schafe, auf deren Rücken ungestört Krähen saßen, die in gefälliger Weise die friedlichen Tiere vom Ungeziefer befreiten. In der Nähe des Dorfes befanden sich 4 eisenhal­tige Quellen. Eine am Strande vor dem Dorfe lieferte den Bewohnern das nötige Wasser zum täglichen Gebrauch. — 10. Juli. Am Flüßchen, das auf steinigem Grunde durch Uppesgrihwe floß und ihm den Namen gab, lag hinter dem Dorfe im Walde ein Friedhof. Ein schlichter Holzzaun umgab ihn. Dort standen einige Trauerbirken, deren Zweige sich über die verfallenen, mit hohem Grase und Unkraute be­wachsenen Gräber ausbreiteten. Nur wenige von diesen wurden gepflegt. Mutter Natur war hier die Hüterin der Toten. Auch die Bewohner des Dorfes schienen noch echte Naturkin­der zu sein. Während sonst überall die Leute beim Familien­namen bekannt sind, wurden sie hier nach altväterlicher Sitte auch noch mit dem Vornamen benannt. So wandten wir uns, als ich die Absicht äußerte, mit einem Boote über das Meer­ nach Angern zu fahren, an einen Fischer, der „klibbais Anßis" (der lahme Hans) hieß. Angesichts der herrschenden Windstille riet er von der Fahrt ab. Als die Sonne am Abend unter­ging, kleidete sie die Wolkengebilde am Strande in ein buntes, [60] phantastisches Farbengewand. Auch hier, besonders bei der Flußmündung, lagen im Ufersande viele Felsblöcke. – 11. Juli. Sand, Wiesenland und Gebüsch bildeten die Signatur der Gegend zwischen Uppesgrihwe und dem 4 1/2 Werst landeinwärts gelegenen Uggunziem (Feuerdorf), wohin wir uns am Morgen begaben. Es war ein Sonntag, und wir besuchten dort das Bethaus der Baptisten. (Die nächste lutherische Kirche befand sich in Markgrafen.) Zuerst sang man ein Lied, dann betete der Vorleser, dann sang man wieder, worauf ein Weiblein seine schluchzende Stimme erhob und ein herzliches Gebet sprach. Zum größten Teil bestand der Gottesdienst aus Gesang, doch wurde auch ein Schriftabschnitt verlesen. Anerkennenswertes leistete der vom Vorsänger eingeübte Chor. Mir ging der Gesang sehr zu Herzen, und lange noch klang mir der Refrain eines Liedes: „Nahzi drihs, kungs Jehsu!“[2] im Ohre nach. Uggunziem lag am kleinen Flüßchen, das sich bei Uppesgrihwe ins Meer ergoß. Rund­ herum war viel Wald. Daher wohnte hier auch ein Forstaufseher. Zu Herzog Jakobs Zeiten (1642—81) muß das Dorf ein bedeutender Industrieort gewesen sein, da sich damals hier ein Eisenhammer, eine Kirche und eine große Ansiedlung befunden haben. Noch jetzt waren auf der Anhöhe beim Forsthause Mauerreste zu sehen. Die Kirche existierte schon lange nicht mehr. Ihre metallenen Leuchter befanden sich jetzt in der Markgrafenschen Kirche, und ihre massiven Eingangstüren waren lange Zeit bei einem hiesigen Wirte zu sehen gewesen, jetzt aber verschwunden.

12. Juli. Am frühen Morgen nahm ich meine Strandtour wieder auf. Bis Markgrafen, einige Werst hinter Uppesgrihwe, bildete reiner Sand das Ufer. Beim Kap aber waren eine Menge Felsblöcke ins Meer hinein und auch [61] weiterhin längs dem Strande gelagert. Von einem Blocke am äußersten Ende des Kaps, der von den Wellen umspült wurde und auf dem ich rastete, konnte man den ganzen Strand bis Domesnäs hin überschauen, denn Markgrafen ist das zweitgrößte Kap Kurlands am Rigaschen Meerbusen. In der Nähe landeten einige Böte vom beutearmen Fischzuge. Hinter mir erhob sich im Dünenfichtenwalde der Leuchtturm. Über felsiges Gestein ging der Weg weiter. Es war schönes, sonniges Wetter. Fast regungslos lag das unendliche Meer vor mir. Am Himmelsrande zogen Wolken auf. In einer Bucht wurde die Flut vom Winde sanft gekräuselt. Unten am Ufer glitzerten dort zwischen den vielen Steinen die Wellen im Sonnenscheine, als ob sie reines Silber wären. In der Ferne zog sich in gerader Linie längs dem Meere der Dünenwald hin, hinter dem der langgestreckte, schilf- und entenreiche Angernsche See liegen mußte. Die Gegend bei der nächsten kleinen Bucht mit den breiten, sumpfigen Ufern, den Häusern auf den sandigen Dünen, wo einige krüppelige Kiefern standen, mit der Windmühle auf der Anhöhe, erinnerte mich lebhaft an die Landschaften der holländischen Maler vergangener Zeiten. Hin und wieder schaukelten sich auf dem Wasser Schiffe. Bei Kuddjenieken („die Schiffsleute“), wo ein Kanal aus dem nahen Angernschen See ins Meer floß, wurde eins gebaut. Der Fichtenwald trat hier wieder näher ans Ufer heran. Im Dünenwalde gab es viele Beeren. Weiterhin war das Ufer mit Gras bewachsen. Möwen und Taucher flogen in Menge vorüber. Beim nächsten Fischerdorfe Lepsten wurde in 3 Segelschiffe Holz verladen. Vor Bährfendorf hör­ten die Steine am Ufer wieder ganz auf. In nächster Nähe der See lag auf flachen Dünen ein ärmlicher Friedhof, wo einige Laubbäume die Gräber beschatteten. Hier, wo die Wellen beim Sturme die Grabhügel benetzten, mußte es schön zu ruhen sein! Im Dorfe befand sich eine Strandwache. Die [62] Mittagsstunde war gekommen, und ich hielt bei Fischern Rast. Diese Leutchen, mehrere Familien, wohnten noch nach uralter Sitte in einem Raume gemütlich beisammen. Auch ihre Sinnesart war eine sehr ursprüngliche. Ein derber Witz, nach unseren Begriffen eine Zote, wurde von Mann und Frau unter herzlichem Lachen wiedererzählt. Dabei waren es durchaus gutmütige Menschen, die von ihrem Pastor in Angern voll Liebe sprachen. Hinter diesem Dorfe bildeten Fichtenwald auf den Dünen, Rasen, Distelgestrüpp und Steine am Ufer lange die Physiognomie des Strandes.

C. Als ich hinter Ahbraggen um einen bewaldeten Strandvorsprung bog, lag jenseit eines aus dem Walde kommenden Baches, in dessen Nähe Holzstapel zu sehen waren, Angern mit seinen Fischergehöften und seiner hochgelegenen Kirche, deren schwarzer Turm einem gleich in die Augen fiel, vor mir. Hinter dem Orte zog sich das Ufer bis zum Raggen­dorfe (Raggaziem) hin, wo der Rigasche Strand schon nahe war. In der Ferne erhoben sich über dem Uferwalde größere Höhenzüge: die Berge bei Tuckum, in deren Mitte der Hünings­berg besonders hoch emporragte. In Angern, 28 Werst von Uppesgrihwe, fand ich bei meinem Kommilitonen W. Aufnahme. — 13. Juli. Zur Pfarre des in Angern woh­nenden lutherischen Predigers gehören 3 Gemeinden: Angern, Markgrafen und Selgerben. Zur Hälfte sind seine 5000 Ge­meindeglieder Fischer, die sehr ärmlich leben, zur Hälfte Land­bauern. Im Garten des ansehnlichen Pastorates stand eine Reihe mächtiger, alter Linden. Eine von diesen zählte gewiß 1000 Jahre, da sich unter ihrem Laubdache ein ganzes Regiment Soldaten hätte lagern können. Eine andere Linde war in historischer Hinsicht bemerkenswert. Als im Jahre 1810 die Gemahlin Alexanders I. des Gesegneten, Elisabeth, in Plonen, 8 Werst von hier, badete, geruhte sie an einem freundlichen Sommernachmittage (den 15. August) nach Angern herüberzu­kommen [63] und gegen 2 Stunden beim Pastor Brandt zu verweilen. Noch zeigte man bei dem erwähnten Baume einen Stein, auf dem sie gesessen und ein Glas Milch getrunken habe. — Ganz nahe beim Pastorate erhob sich am Meere im Fichtenwalde ein hoher Dünenberg, bei dem unten der aus dem Angernschen See kommende Schwarzbach vorüberfloß. An diesen Berg knüpft sich folgende tragische Sage. „Vor vielen Jahren lebte hier in der Nähe ein Baron Nolken. Sein junger Sohn verliebte sich in ein hübsches Bauernmädchen, was dazumal für ein großes Verbrechen galt. Oftmals trafen sich die Liebenden am Berge bei der tiefen, dunklen Schwarzbäche[3], wo sich im Gebüsch eine steinerne Bank befand. Eines Tages wurden sie dort vom Vater des jungen Edelmannes, der sie festnehmen lassen wollte, überrascht. Als sie keinen Ausweg zur Rettung sahen, suchten sie beide den Tod im nahen Bache.“ Noch sah man eine Vertiefung am Berge, wo die Steinbank gestanden haben sollte. Nach Bielenstein hat es hier zwei Schloßberge (pilskalni) gegeben. Vielleicht war der Nolkenberg einer von ihnen, wo in altersgrauer Zeit ein kurischer Seeräuberhauptmann sein Heim gehabt hat. — Von der Markgrafenschen Kirche, einer Filiale der hiesigen, erzählte man, daß sie früher vor dem Umbau durch ihren schlechten Zustand und ihre sonderbare Einrichtung bekannt gewesen sei. So z. B. habe die Kanzel über dem Altare gestanden, und den Ofen in der Sakristei ein Grapen ersetzt, in dem glühende Kohlen gehalten worden seien. — Ein Besuch galt der Angernschen Kirche. Ihr Inneres entsprach durchaus ihrem Äußeren: es war ebenso schlicht und freundlich. Ein Ölgemälde über dem Altare zeigte die Szene aus Christi Leben, wo er dem sinkenden Petrus [64] die Hand reicht. Ein wahrer Gottesgeist schien in der Kirche zu wehen, deren Inneres trotz der Schlichtheit der Ausstattung von dem gläubigen Gemüte der Gemeinde Zeugnis ablegte. Die mit Schleifen versehenen, an den Wänden aufgehängten Kränze zum Gedächtnis an früh verstorbene junge Mädchen, von denen manche Bräute gewesen waren, sowie der Klingbeutel mit dem Bilde eines Schiffes, was auf das Fischerleben voll Mühe und Arbeit hinwies, waren auch ein Beweis dafür. Die Fischer können mit vollem Rechte von ihrer Arbeit sagen: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“ Rechts vom Altare führte eine kleine Tür zum Friedhofe bei der Kirche. Wie so mancher hat hier bei Orgelklang und vielleicht auch Wogensang seinen letzten Gang getan! Außer W. und mir befand sich auch ein Kaufmann aus Mitau mit seinen Kindern in der Kirche. Dieser, gleich mir Gast bei W.s, war ein überaus frommer Mann. Zu jeder Mahlzeit sprach er ein herzliches Gebet, beim Anblicke eines wogenden Kornfeldes blieb er stehen und flehte für dasselbe um Gottes Segen. In der Kirche kniete er mit den Kindern beim Altare und betete. Als W. das schöne Lied: „Wo findet die Seele die Heimat der Ruh?“ auf der Orgel spielte, wurde es mir gar ernst und feierlich zu­mute. … Oben im Kirchturme hingen zwei Glocken. Die eine stammte aus dem Jahre 1620, und die andere trug selt­samerweise eine slavonische Inschrift. Dort konnte man Aus­schau halten auf Angern, seine Häuser und Wiesenländer, die von Wald und Meer begrenzt wurden. Auf dem von Gebüsch umrahmten Friedhof fielen mir zwei Grabhügel auf: derjenige des Predigers Brandt, gest. 1835, welcher sich als Denkmal einen antiken Genius, der eine erlöschende Fackel nach unten kehrt, hat setzen lassen, und dann am Rande des Kirchhofs der Rasenhügel eines von den Wellen ans Land gespülten unbekannten Mannes. Am Abend verschwand die rote Sonne hinter Wolken. Das Meer war bewegt, denn es wehte ein starker Wind.

[65] Am 14. Juli begaben wir uns über Tjesterziem (Küsterdorf) nach dem 8 Werst entfernten Plonen. Bei Tjesterziem war unlängst ein Schiff vom Stapel gelassen worden, das sich jetzt auf den Fluten der See wiegte. Vor Plönen und besonders bei diesem Orte erreichten die bewaldeten Dünen eine beträchtliche Höhe. Dort stiegen wir hinan zum Fried­hofe auf den Dünen. Gegen 20 Kreuze führten den Namen Tuomel. Diese Familie muß hier stark vertreten sein. Plönen bildet für den Juli den Aufenthaltsort des Adels aus der näheren und weiteren Umgegend. Als Badeort soll das Dorf seit 1810 aufgekommen sein, wo sich die Kaiserin Elisabeth im Sommer auf dem mehrere Werst landeinwärts gelegenen Kronsgute Plönen aufhielt und täglich zum Strande gefahren kam, um hier ein Bad zu nehmen. Für die hohe Frau sei zu diesem Zwecke damals ein besonderer Weg durch den Ufersand gemacht und mit Bäumen bepflanzt worden. Jenseit der Dünen erblickten wir, rings um das Kurhaus gruppiert, die Villen der kurischen Adligen. Am Abend hatten sie einen großen Ball. Bis nach Mitternacht umstand eine Menge von Fischern und Juden, deren es am Orte viele gab, das Kurhaus, durch die Fenster dem Getriebe und Gewoge der adligen Herren und Damen zuschauend. Musiker spielten zum Tanze auf. Während die jüngeren Herren vom Adel mit rosigen, duftigen Edelfräulein im Saale umherschwebten, saßen in den Saalecken an langen Tischen die würdigen Mütter, ihre Lieblinge beobachtend und Tee schlürfend. Im Nebenzimmer hatten die Herren Väter an mehreren Spieltischen Platz genommen. In später Nachtstunde stieg ich auf die hohen Dünen und warf einen Blick auf das Meer. Wie eine zaubervolle Masse, von Wolken bedeckt — nur stellenweise brach das Mondlicht durch — wogte es hin und her. Deutlich sah man in der Ferne das Feuer von Markgrafen, und auf der See waren Fischer. Auch ein uns bekannter Wirt tat einen Zug und fing gegen 270 Band [66] Strömlinge[4]. — Unsern Rückweg nach Angern nahmen wir durch den Dünenwald, wo mehrere Bächlein quer über den Weg zum Meere flossen. In Angern war auch eine Seemannsschule. Hinter dieser, am Rande eines versumpften, von hohen Laubbäumen beschatteten Baches, erinnerten uns große Schutthaufen, die Abfälle eines ehemaligen Eisenhammers, an die Regierungszeit Herzog Jakobs. An einigen Stellen, wo sich Erdreich auf die Abfälle gelagert hatte, waren sie vom Grase überwuchert; andere Stellen jedoch lagen bloß, und dort konnte man die Schlacken sehen. Zwei schöne blau-grüne Stücke nahm ich zum Andenken mit. — In Angern hörte ich verschiedenes erzählen, das vom alten Volksaberglauben Zeugnis ablegte. Auffallend war manches davon. So z. B. glaubte das Volk, daß bisweilen der Tod eines Men­schen durch folgende Erscheinung angekündigt werde. Während die Angehörigen eines solchen, der bald darauf stirbt, spätabends im Zimmer beisammen sitzen, hören sie, daß jemand dreimal wie mit einer Gerte an die Fensterscheiben schlägt. So soll es hier vor dem Tode eines Wirtes beobachtet worden sein. Von einem ähnlichen Falle wurde mir später an einem andern Orte (bei Riga) berichtet. Da vor dem Fenster, gegen das die Schläge gerichtet wurden, gerade frischgefallener Schnee lag, wo keine Fußspuren zu sehen waren, so konnte für die Erscheinung keine Erklärung gefunden werden. Aus katholischen Zeiten stammt wohl noch die Sitte, die in Kurland verbreitet ist, über die Türpfosten oder auch an anderen Stellen eines Gebäudes mit Kreide drei Kreuze zu machen: dadurch wurden das Haus und seine Bewohner gegen böse Geister (oder Unglück) geschützt. — In Angern und Umgegend traf ich Leute an, die bei großer musikalischer Begabung das alte Volkslied und auch moderne Musik pflegten.[5]

  1. Norwegen.
  2. „Komme bald, Herr Jesu!“ der vorletzte Vers der Bibel.
  3. In Kurland hat sich noch bis heutzutage in gewissen Kreisen die alte Form „Bäche" für Bach erhalten. So z. B. wird noch jetzt in Mitau die Drixe, ein Nebenarm der Aa, „die Bäche“ genannt: auch bei Goldingen gab es eine „olden Веkе“.
  4. 1 Band — 30 Stück.
  5. Ich erkundigte mich hier nach der mitten im Rigaschen Meerbusen gelegenen kleinen Insel Runö, deren Lage und Bewohner (Schweden) mein Interesse geweckt hatten. Im September kämen die Runöer auch nach Angern zum Markte herüber, wobei sie mit Seehundsfellen und selbstverfertigten Kleidungsstücken, die sich durch Eigenart auszeichneten, Handel trieben. (Im Sommer 1899 war es mir vergönnt, mehrere Tage auf dieser merkwürdigen, früher zu Kurland gehörigen Insel zu verbringen, worüber ich in der Beilage zur Düna-Zeitung „Für Haus und Familie“, Jahrgang 1900, No.No.123, 129 und 135, unter „Runö“ Näheres berichtet habe).