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die Hand reicht. Ein wahrer Gottesgeist schien in der Kirche zu wehen, deren Inneres trotz der Schlichtheit der Ausstattung von dem gläubigen Gemüte der Gemeinde Zeugnis ablegte. Die mit Schleifen versehenen, an den Wänden aufgehängten Kränze zum Gedächtnis an früh verstorbene junge Mädchen, von denen manche Bräute gewesen waren, sowie der Klingbeutel mit dem Bilde eines Schiffes, was auf das Fischerleben voll Mühe und Arbeit hinwies, waren auch ein Beweis dafür. Die Fischer können mit vollem Rechte von ihrer Arbeit sagen: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“ Rechts vom Altare führte eine kleine Tür zum Friedhofe bei der Kirche. Wie so mancher hat hier bei Orgelklang und vielleicht auch Wogensang seinen letzten Gang getan! Außer W. und mir befand sich auch ein Kaufmann aus Mitau mit seinen Kindern in der Kirche. Dieser, gleich mir Gast bei W.s, war ein überaus frommer Mann. Zu jeder Mahlzeit sprach er ein herzliches Gebet, beim Anblicke eines wogenden Kornfeldes blieb er stehen und flehte für dasselbe um Gottes Segen. In der Kirche kniete er mit den Kindern beim Altare und betete. Als W. das schöne Lied: „Wo findet die Seele die Heimat der Ruh?“ auf der Orgel spielte, wurde es mir gar ernst und feierlich zu­mute. … Oben im Kirchturme hingen zwei Glocken. Die eine stammte aus dem Jahre 1620, und die andere trug selt­samerweise eine slavonische Inschrift. Dort konnte man Aus­schau halten auf Angern, seine Häuser und Wiesenländer, die von Wald und Meer begrenzt wurden. Auf dem von Gebüsch umrahmten Friedhof fielen mir zwei Grabhügel auf: derjenige des Predigers Brandt, gest. 1835, welcher sich als Denkmal einen antiken Genius, der eine erlöschende Fackel nach unten kehrt, hat setzen lassen, und dann am Rande des Kirchhofs der Rasenhügel eines von den Wellen ans Land gespülten unbekannten Mannes. Am Abend verschwand die rote Sonne hinter Wolken. Das Meer war bewegt, denn es wehte ein starker Wind.

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Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/72&oldid=- (Version vom 13.12.2020)