Im Aerenfeld der Wittwe
[611] Im Aehrenfeld der Witwe. (Zu dem Bilde S. 585.) Ein schöner Brauch aus der Väter Zeit, den echte Menschenliebe ins Leben rief, hat sich in manchen Gegenden der Schweiz bis in unsere Tage erhalten. Den armen Witwen und Waisen, denen es zur Erntezeit an Kräften fehlt, um das reife Korn und Gras zu mähen und einzubringen, wird von den Gemeindegenossen die Arbeit abgenommen. Und zwar vollzieht sich dies Liebeswerk des Nachts, da die jungen Schnitter und Schnitterinnen, die sich ihm widmen, tagsüber von der Erntearbeit für die eigene Familie oder ihre Herrschaft in Anspruch genommen sind. Gottfried Keller, der für seine schweizer Heimat und sein Volk so warm empfindende Dichter, hat dieses Herkommen in dem Gedichte „Sommernacht“ gar anschaulich und ergreifend geschildert:
„In meiner Heimat grünen Talen,
Da herrscht ein alter schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
Der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
Da geht ein Flüstern und ein Winken,
Das sich dem Aehrenfelde naht,
Da geht ein nächtlich Silberblinken
Von Sicheln durch die goldne Saat.
Das sind die Bursche jung und wacker,
Die sammeln sich im Feld zu Hauf
Und suchen den gereiften Acker
Der Witwe oder Waise auf,
Die keines Vaters, keiner Brüder
Und keines Knechtes Hülfe weiß –
Ihr schneiden sie den Segen nieder,
Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.“
Dieses Mähen und Garbenbinden des Nachts bei Mondschein, in dessen Glanze die Schneeberge auf die Gebreite des Thals niedergrüßen, [612] ist der malerische Vorwurf unseres Bildes. Der Künstler läßt auf dem zweiten Bildchen oben rechts die Strahlen des Monds auch in das Kämmerlein der Witwe fallen, für welche die Wackeren auf dem Kornfeld die Arbeit verrichten und in deren mütterlicher Hut das des Vaters beraubte Kindlein schlummert.