Heinrich der Vogelsteller
Ein köstlicher Herbsttag, der sich Licht und Glanz und Wärme von dem Frühlinge entlehnt zu haben schien, zog uns wieder hinaus in den Wald, hinauf in die Berge. Unser Ziel war diesmal das weitbekannte, schöne, stille, friedenathmende Thal von Treseburg.
So ein warmer Herbsttag eignet sich mehr als jede andere Zeit zu einer Harzwanderung, und wie er uns die Ferne in seltener Klarheit vor die Augen führte, so zeigte er uns auch die näheren Berge und Wälder in ihrem prächtigsten Gewande. Denn nie, selbst nicht in den buntesten Blüthentagen des Frühlings, zeigen die Wälder des Harzes nur die Hälfte der wahrhaft entzückenden Farbenpracht, mit denen der Herbst sie schmückt. Das ist ein Reichthum und eine Ueppigkeit an Farben, wie wir sie sonst nur aus den Bilderbüchern unserer Kindheit kennen oder allenfalls aus den Panoramen der Messen und Märkte, in den grellen und bunten Bildern transatlantischer Waldungen. Alle Farben, welche nur der phantasiereiche Maler in excentrischen Augenblicken ersinnen kann und die man auf der Leinwand für unnatürlich, für eine Verirrung des Künstlers halten würde, stellen sich hier vor das Auge. Vom brennenden Purpurroth bis zum weichsten, mildesten Maiengrün, vom dunkeln Sammetbraun bis zum grellen Flammengelb erscheinen in tausendfältigen Farben und Farbenabstufungen und Uebergängen dieselben Blätter, welche noch vor wenig Wochen alle gleichmäßig in schlichtes Grün gekleidet waren.
Auch unsere Wanderung zeigte uns den Wald in solch prächtigem Herbstschmucke; am frappantesten aber an dem mit Recht wegen seiner wundervollen Aussicht gepriesenen Tunnel Wilhelmsblick, wo eine besondere Veranlassung uns zwang, ein wenig zu rasten. Denn unsere Wanderung galt nicht den Reizen der Natur allein. Wir, d. h. mein Freund, ein grundgelehrter Doctor der Philosophie, eifriger Historiker und Lehrer an einem fern in der Ebene liegenden Gymnasium, der wenig von Berg und Wald, von Pflanzen- und Thierleben kannte, und ich und dazu von jedem ein Sohn, wollten namentlich die verschiedenen Arten des Fischfanges und des Vogelfanges ausüben sehen und, soweit es möglich, selbst ausüben helfen.
Heute galt es dem Vogelfange. Steinmeyer, der weitbekannte liebenswürdige Wirth im „Weißen Hirsch“ zu Treseburg, hatte einen alten Vogelsteller, den Heinrich Sonntag, veranlaßt, sich uns zur Verfügung zu stellen, und uns nach dem Wilhelmsblick beschieden, wo derselbe uns erwarten würde, um uns in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen. Er war noch nicht dort, und wir benutzten die Zeit, um ungestört den unaussprechlichen Reiz dieses Punktes zu genießen. Welch ein Blick auf den Kranz von Bergen und in die Thäler, welche die Bode in ununterbrochenen Krümmungen vor uns aufschloß, und auf den runden Tannenhügel unter uns im Thale, und drüben auf den Felskoloß, der die Reste der Treseburg trägt, eines ehemaligen Jagdschlosses der alten deutschen Kaiser!
Der alten deutschen Kaiser! Mußte nicht bei unserem heutigen Zwecke einer derselben recht lebhaft vor unsere Seele treten? Der erste Heinrich, Heinrich der Vogelsteller, hatte er wohl nicht auch hier bei seinem Jagdschlosse sich am Vogelfange ergötzt, hier seine Leimruthen gelegt, hier seine Netze gezogen? – Und mehr noch – der Gedanke wirkte elektrisch auf meinen Gefährten, den Historiker – war nicht vielleicht hier in dem einsamen Waldthale, welches bis vor Kurzem so ganz abgeschieden geblieben war von der übrigen Welt, war nicht vielleicht hier in den Bewohnern noch irgend eine Erinnerung an den kaiserlichen Vogelsteller lebendig geblieben? Es war wohl der Mühe werth, im Volke danach zu forschen; es kam auf eine Anfrage an. Dort am Wege der alte Kuhhirt, der hatte wohl manches Jahr über sein greises Haupt dahingehen sehen, seine Jugend fiel wohl in eine Zeit, wo die Traditionen noch in den Waldhütten eine Stätte fanden, vielleicht hatte der als Knabe noch mancher Sage gelauscht, die vom Kaiser erzählte.
Wir winkten ihm; er kam, trotz eines lahmen Beines und trotz seiner siebenzig Jahre, rüstig heran, neugierig, was wir von ihm begehren möchten. Bei unserer fast schüchternen Frage, ob er wohl je von Heinrich dem Vogelsteller gehört habe und ob es wohl hier noch Leute gebe, die etwas von ihm wissen, zog ein selbstzufriedenes Lächeln über sein vielgefurchtes Antlitz. „Da kommt Ihr bei mir gerade an den rechten Mann; zwar jedes Kind konntet Ihr fragen, und jedes Kind konnte Euch von ihm erzählen, aber doch nicht so wie der alte Herschelmann. Was wollt Ihr denn über ihn wissen, soll ich seinen Lebenslauf erzählen, oder über seine Jagdlust, seinen Vogelfang?“
Das war eine freudige Ueberraschung für uns, und besonders für den Doctor, dessen Gesicht hell erglänzte. Also doch [684] kannte das Volk seinen alten Kaiser noch und der Born der Tradition sprudelte uns hier überreich entgegen.
„O, erzählt, erzählt uns Alles, was Ihr wißt, für uns ist Alles wichtig.“
„Wichtig?“ entgegnete er, indem er sich vor uns auf einem moosigen Felsen niederließ. „Nun, Wichtiges weiß ich freilich nicht viel von ihm zu erzählen, außer von der gewaltigen Stärke, die er schon in früher Jugend besaß. Man sagt, er habe an seinem vierzehnten Geburtstage einen starken Hirsch, einen Zwölfender, da unten im Hirschbornsgrunde an den Geweihen erfaßt und zur Erde gedrückt und ihm den Nickfang gegeben; und wie ihn einmal bei Quedlinburg, als er, Fische angelnd, an der Bode gesessen, drei heimliche Widersacher unversehens zu überfallen gedachten, hat er zwei derselben von sich ab in die Bode geschleudert und dem dritten den Arm zerbrochen, wie einen dürren Stecken.“
Das waren interessante Details; der Doctor war außer sich; er hatte längst Notizbuch und Stift zur Hand genommen und sich neben dieser lebendigen Chronik niedergelassen, um kein Wort zu verlieren.
Der Hirt erzählte weiter: „Er soll in seiner Jugend ein hübscher stattlicher Mensch gewesen sein; seine erste Liebe hatte er in Quedlinburg –“
„Ah, das ist interessant!“ rief der Doctor, hastig weiter notirend, „so berichtet auch Dittmar von Merseburg. Wißt Ihr auch ihren Namen? Hieß sie Hatheburgis?“
„Das weiß ich nicht,“ kopfschüttelte der Hirt; „aber er hat später eine andere genommen, eine prächtige, große, hübsche Frau, hoch und schlank, und so recht umsichtig und verständig. Sie hielt ihn oft zurück von unbedachtem Handeln, und wie wild er auch oft auffuhr, so ertrug sie es mit Geduld, und so ward er auch bald wieder ruhig und wußte ihr’s Dank, daß sie ihn so klüglich behandelt.“
Der Doctor gerieth in Ekstase: „Wie das Alles stimmt; die herrliche Mechtild: ‚Gratias habeas. Iratum saepe mitigasti. In omni re utile consilium mihi dedisti‘.“ (Habe Dank! Wie oft hast Du mich im Zorn besänftigt, und immer gabst Du mir den besten Rath.) Fast mit Rührung recitirte er diese Abschiedsworte des sterbenden Kaisers an seine Gattin.
„Am tüchtigsten aber war er im Vogelfang,“ berichtete der Alte, dem die lateinische Unterbrechung etwas ungelegen zu sein schien; „ja, am tüchtigsten im Vogelfang. Seinen Leim müßtet Ihr kennen, so einen Leim giebt’s nicht weiter; aber wir kennen die Art, wie er gekocht wird, ich und noch ein paar Andere, aber wir halten’s geheim. Das ist ein Leim, nicht gar zu dick und doch so zäh, daß er festhält wie Fußangeln, und hält lange und läßt sich leicht wieder von den Ruthen abstreifen, wenn der Fang vorüber ist. So ein Leim! Unsere jungen Burschen möchten’s gerne nachmachen und bringen uns das Leinöl zum Kochen und passen auf, wie’s gemacht wird, aber sie können lange aufpassen, wenn’s ihnen nicht anvertraut wird, lernen sie’s nimmer. Uebrigens hat er auch eine ganz neue Art des Vogelfanges eingeführt, die hier am Harz noch Keiner konnte, den Fang auf der Eulenbucht –“
O, wie leuchteten des Doctor’s Augen! Wie flog sein Stift über das Notizbuch! „Langsam, langsam!“ bat er, damit ihm kein Wort entgehe; „o, wie werden meine Freunde staunen. Hierher sollten sie gehen, statt in die staubigen Archive. Hierher Waitz, hierher Pertz, hier ist eine wundervolle Quelle.“
Der alte Herschelmann schüttelte den Kopf: „Nein, Herr, Ihr irret, hier ist keine Quelle; die nächste Quelle ist drüben der Treseborn mit seinem prachtvollen Wasser; leider ist nur zu wenig –“
„Schon gut,“ fiel ihm der Doctor in’s Wort, „laßt die Quelle und erzählt weiter; Ihr waret beim Vogelfang.“
„Ach ja, Vogelfang, richtig. Ja, der Vogelfang hat ihm viel Zeit gekostet, und dann besonders – die Jagd.“
„Aha, die Jagd,“ murmelte der Doctor dazwischen; „‚in venatione fuit acer‘ (die Jagd betrieb er mit großem Eifer), wie Pantaleon erzählt.“
„Ich glaube,“ fuhr der Hirt fort, „er hat mehr Wild erlegt, als irgend ein Jägersmann; er hat einmal an einem Tage, ich weiß nicht genau, wie viel Stück –“
„Vierzig Stück!“ fiel ihm der Doctor in‘s Wort: „vierzig Stück Wild: una vice quadraginta feras.“
„Nein, nein,“ schüttelte Herschelmann den Kopf, „so viel waren es lange nicht.“
„Doch, doch,“ eiferte der Doctor, „vierzig Stück, quadraginta feras, so steht’s geschrieben, schwarz auf weiß, und Pantaleon, der es erzählt, ist glaubhaft, seine Aussagen stimmen auch sonst mit den Eurigen. Nur weiter.“
Aber auf einmal erhob sich der alte Herschelmann und sah uns ernst und finster, fast drohend in die Augen: „So! Also schwarz auf weiß habt Ihr’s? Und Aussagen habt Ihr auch? Habt ihn also wohl schon in den Acten, und nun soll der alte Herschelmann auch heran und Verräther spielen? Pfui, vom Verräther frißt kein Rabe, und Ihr solltet Euch schämen, so Alles herauszulocken. Aber es hilft Euch nichts, ich widerrufe. Was ich auch gesagt haben mag, es ist Alles nicht wahr!“
Der Alte war in großer Aufregung und sichtlich bitterböse. Was konnte ihn denn nur so erregt haben? Der Doctor war bestürzt; er hatte augenscheinlich keine Berichte mehr zu erwarten.
„Aber, Herschelmann, so redet doch! Ihr ahnt ja selbst nicht, wie wichtig jedes Eurer Worte ist.“
„Wichtig?“ höhnte der Alte, „gar nichts Wichtiges! lauter thöricht Geschwätz von mir; es ist kein wahr Wort d’ran, weder an der Jagd, noch am Vogelfang. Ich glaube überhaupt nicht, daß er je einen Hirsch erlegt hat. Wollt Ihr’s wissen, so fragt ihn doch selber,“ fügte er spöttisch nach oben deutend hinzu.“
Der Doctor gerieth in gelinde Verzweiflung und fing fast an zu betteln:
„Aber Herschelmann! Alter Freund! Seid doch nicht so böse! Wir können ihn doch nicht selbst fragen.“
„Warum nicht?“ sagte der Alte etwas weniger barsch und deutete wieder nach oben. „Fragt ihn doch selbst; er kommt gerade zur rechten Zeit.“
„Wer kommt denn?“
„Nun, er selbst, Heinrich, der Vogelsteller!“
„Wer?“ Die Frage erstarb fast auf unseren Lippen, denn als wir dem abermals nach oben gerichteten Winke seiner Hand mit dem Blicke folgten, sahen wir über uns auf dem Bergkamm der Krügershöhe ein rothes lachendes Gesicht über das Gebüsch hinweg zu uns niederblicken, uns einen freundlichen guten Morgen zunickend.
„Wer ist denn das?“ fragten wir den Hirten, „der Mann scheint uns zu kennen?“
„Nun, das ist er ja eben,“ war die Antwort, „das ist ja der alte Heinrich, der Vogelsteller, über den Ihr mich so scharf in’s Verhör nahmt.“
Der Doctor erblaßte; Notizbuch und Stift entfielen seinen Händen; er schaute noch einmal in das lachende, seelenvergnügte Gesicht da droben, dann in das meinige. Also das war Heinrich der Vogelsteller! Einem Momente der Betroffenheit und der Enttäuschung folgte unsererseits ein herzliches und langes Gelächter, und damit war das eigenthümliche Mißverständniß beseitigt. Wir traten aus dem Reiche der Vergangenheit, in welches wir uns einen Augenblick hineinverzaubert fühlten, plötzlich wieder in die Gegenwart. Der neue Ankömmling von oben stimmte in unser Gelächter vergnügt mit ein; er schien darin einen Ausdruck der Freude über seine Ankunft zu sehen, kletterte zu uns herab und bot uns ein biederes Willkommen. Er war eben der Begleiter, den Freund Steinmeyer für uns bestimmt hatte und der uns bald, obwohl die Kaiserglorie ihn nicht mehr umgab, ein lebhaftes Interesse einflößte. Onkel Heinrich, so wurde er meist genannt, und so nannten auch wir ihn, verständigte sich bald mit uns, wie wir zur Erreichung unseres Zweckes die Zeit eintheilen wollten; er hatte uns deshalb gerade hierher beschieden, weil auf dem Wege von hier nach Treseburg sich bereits Gelegenheit bot, die eine Art des Vogelfanges kennen zu lernen; er hatte hier seinen Dohnenstieg.
Dohne nennt man bekanntlich das auch in der Gartenlaube schon früher einmal beschriebene sprenkelartige Geflecht zum Fange der Krammetsvögel, und Dohnenstiege sind die schmalen Waldpfade, an deren beiden Seiten der Vogelsteller seine Dohnen an den Bäumen und Büschen aufhängt. Es ist für Jeden, außer dem Vogelsteller, ein trauriger Anblick, die armen Thierchen schlaff mit zusammengeschnürtem Halse in der Dohne hängen zu sehen, um so trauriger, als man sich dabei erinnert, daß es gerade die beliebtesten der gefiederten Sänger [685] des Waldes sind, die Amseln und Drosseln, die alljährlich auf die Weise zu Hunderttausenden vernichtet werden. Eine tröstliche Erscheinung ist dabei, daß trotz dieses fortwährenden Vernichtungskrieges der Wald dennoch nicht vereinsamt, sondern daß noch immer zahllose Sänger die grünen Hallen bevölkern und mit ihren Liedern erfüllen und daß eine merkliche Abnahme in Folge der Dohnenstiege nicht wahrzunehmen ist.
Die Ausbeute unserer Wanderung durch den Dohnenstieg bestand vorzugsweise in Drosselarten. Die Rast im Harze, auf ihrem Zuge nach Süden, mag ihre Zahl alljährlich wohl um fünfzigtausend Stück verringern. Demungeachtet erreichen den Süden noch ungeheure Massen, die freilich dort noch in ungleich höherem Grade als hier gelichtet werden, da die Einwohner die von dem weiten Fluge ermüdeten und kraftlos niederfallenden Thierchen zu Tausenden erschlagen. Die schmackhaftesten sind die Zippen und Weindrosseln. Die allgemeine Bezeichnung Krammetsvögel ist ihnen geworden von der Vorliebe der meisten Arten für Wachholderbeeren, die in mehreren Gegenden Krammetsbeeren genannt werden.
Unser Fang war übrigens kein reichlicher; so schöne, sonnige Tage sind dem Krammetsvogelfange nicht günstig. „Graue, nebelschwere Tage müssen es sein,“ belehrte uns unser Begleiter, „indeß ist dies Wetter um so günstiger für die Leimruthen; ich werde sie holen und gleich jetzt stellen.“ Er ging.
Herschelmann war uns gefolgt, seine Herde zog langsam unter uns an dem grünen Wiesenrande der Bode hin; wir hörten den wunderbar zum Herzen dringenden Klang ihrer Glocken leise und träumerisch durch den Wald herüberklingen. Der alte Hirt war wieder zuthunlicher geworden, seit er gesehen, daß wir im besten Einvernehmen mit seinem Freunde, dem Vogelsteller, standen und nichts Böses gegen denselben und seine Jagdlust im Sinne hatten. Er wiederholte uns nun, ohne daß wir ihn mit Kaisererinnerungen unterbrachen, daß Heinrich der Vogelsteller, oder Onkel Heinrich, oder auch der Neuntödter, wie man ihn nannte, was den Vogelfang betraf, weitum seines Gleichen nicht hatte, und alle Vogelsteller der jüngeren Generation sich bei ihm Raths erholten und ihn als ihren Lehrer und Meister betrachteten. Er hatte der Jagd, dem Fischfange, dem Vogelstellen von Jugend auf mit Leidenschaft nachgehangen, nicht zu seinem Vortheile, wie schon das Sprüchwort es andeutet, aber die Fertigkeit, die er sich darin erworben, und der Ruhm, den er davongetragen, tröstete ihn über manches Mißgeschick. Die Namen „Vogelfalk“, „Neuntödter“, „Würgangel“, „Fischotter“, den die Jüngeren ihm beilegten, hörte er ohne Mißfallen und Kränkung, ja, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Jetzt kam er zurück, voll beladen mit Geräth aller Art; eine Partie kleiner Vogelkäfige auf der Schulter, ein Bündel Ruthen unter dem Arme, eine Axt und einen Leimtopf in der einen, eine dicke, hohe Stange in der anderen Hand.
Am Fuße der Treseburg erstreckt sich ein kleines Ackerfeld den Abhang nieder, dem kleinen und doch so anziehenden Dörfchen zu; ein schmaler Streifen Gebüsch zieht sich vom Walde aus durch das Feld, und dies Gebüsch hatte der Neuntödter sich zur Fangstätte ausersehen. Fußlange Ruthen von der Stärke eines Bleistiftes befestigte er mit großer Geschicklichkeit an den Büschen, indem er gleich starke Zweiglein derselben abschnitt und eine Hülse eines ausgehöhlten Fliederzweiges darüberschob, in deren vorderer Höhlung er die Ruthen einzwängte. Eben solche Ruthen befestigte er an der Stange, dem Vogelbaume, wie er sie nannte, indem er sie neben dem Gebüsch aufrichtete und in die Erde rammte; sie war zum Fange derjenigen Vögel bestimmt, welche nicht gern auf niedere Büsche fliegen. Die Ruthen an dem Gebüsch ragten ein wenig daraus hervor, unmerklich, aber doch so, daß, wenn sich Vögel auf diesen Büschen niederlassen wollten, sie unwillkürlich diese Ruthen wählen mußten. Die Ruthen waren mit Vogelleim überzogen, einer zähen, klebrigen Masse, die aus Leinöl mit einem Zusatze von Colophonium, Pech, dickem Terpentin oder dergleichen gekocht wird und deren Zubereitung für schwierig gilt; ein guter Leim ist ein Haupterforderniß beim Vogelfange, und einzelne Vogelsteller erfreuen sich in dieser Kunst eines ganz besonderen Rufes bei allen ihren Genossen.
Nachdem die Leimruthen gesteckt waren, brachte der Vogelsteller die mitgebrachten Käfige unter dem Buschwerk an. Diese Käfige enthielten die Lockvögel von den verschiedensten Arten, Finken, Zeisige, Stieglitze etc. Dieselben ließen alsbald ihre Stimmen ertönen, ihre im Walde zerstreuten Stammgenossen herbeizurufen. Onkel Heinrich zog uns derweil auf den moosigen Rain am Waldrande nieder, wo wir den Erfolg der Vorkehrungen abwarteten. Wir wollten uns schweigsam und versteckt halten, aber er hielt das für unnöthig. „Wir können immerhin ein wenig plaudern, das scheucht die Vögel nicht hinweg; sie sind an Menschennähe und Menschenstimmen gewöhnt. Nur nicht zu laut und nicht zu viel Bewegung. Es möchte auch langweilig werden, solltet Ihr hier sitzen ohne Frage und Rede. Mir freilich ist’s nie langweilig gewesen. Habe immer meine Gedanken zur Gesellschaft bei mir gehabt; die haben mir denn allerlei vorgeplaudert aus meinem eigenen Leben, aus meiner Jugendzeit und dann auch wieder aus alten, lange verschwundenen Tagen, aus Tagen, die nicht mehr sind. Seht, das ist gar eine hübsche Unterhaltung, während man sitzt und den Zug erwartet. Doch jetzt paßt auf, es sind Zeisige im Anzuge.“
Wir sahen nichts, wir hörten nichts, weder Zeisige noch andere Vögel.
„Und dennoch sind sie nahe,“ versicherte Onkel Heinrich. „Hört Ihr nicht, daß mein Zeisig im Bauer dort eben anfängt, frischer, lauter und kräftiger zu locken? Seine Genossen sind nicht fern. Hört doch! schon melden sie sich.“
Und in der That drangen aus dem Geflüster des welken Laubes einige zirpende Laute hervor, ganz einzeln, halblaut, zaghaft, fast wie eine schüchterne Frage. Alsbald schien den Zeisig im Käfige ein neuer Geist zu beseelen, seine Stimme erhob sich heller und freudiger; die einzelnen Töne schienen eine freundliche Antwort auf die schüchternen Fragen zu geben; die Fragen wurden lauter, länger, zusammenhängender; sie bildeten sich zum Gespräch, das in traulichster Weise von dem Gefangenen im Käfige unter dem gelben Laube erwidert wurde. Aber gewiß erzählte er nichts von seinem engen Käfige, nichts von der Art, wie er selbst einst gefangen worden, sonst wäre wohl nicht erst ein Zeisig, dann ein zweiter, ein dritter aus dem Walde heran und ihm näher geflattert. Ein Hüpfen von Baum zu Baum, von Busch zu Busch bis zu der gefährlichen Hecke, und dann von Zweig zu Zweig, den verführerischen Lauten immer näher, bis zu den verrätherischen Ruthen, die sofort ihre Füße heimtückisch mit dem klebrigen Leime festhielten; dann war es allerdings mit dem Hüpfen vorbei; ein kurzes Flattern, ein vergeblicher Versuch, sich loszureißen, dann folgte meist eine stille Ergebung in das traurige Schicksal.
Dies Schicksal war indeß keinerlei Warnung für die Zahl der übrigen Vögel, die inzwischen, den Lockvögeln ihrer Gattung folgend, sich genähert hatten. Das Flattern der Gefangenen veranlaßte sie nicht, wie man annehmen müßte, zur Flucht, sondern zog sie vielmehr noch näher heran. Bemerkten sie die unglückliche Lage der Gefangenen nicht, oder trieb sie Neugier oder Theilnahme, genug, sie kamen zahlreicher und hastiger herbeigeflattert und gaben sich noch unvorsichtiger auf den verhängnißvollen Leim, der ihnen ein gleiches trauriges Loos bereitete. Immer noch mehrte sich der Zuzug, nächst den Zeisigen eine Anzahl der winzigen Goldhähnchen mit ihren purpurnen Diademen, Goldammern und Rothkehlchen, Finken aller Art, auch der seltenere Dompfaff, alle wurden allmählich aus dem Walde herausgelockt; sie folgten alle dem verführerischen Zwitschern und Zirpen und Schlagen, und viele von ihnen wanderten auf die Ruthen und dann in die Hand des Neuntödters, der einen Theil in den Käfig wandern ließ, die übrigen aber schonungslos tödtete.
Wie neu uns auch das Alles war, doch baten wir ihn bald: „O, lasset genug sein des grausamen Spiels!“ Und der Alte willfahrte uns gern, aber nur um uns eine andere schwierigere, aber auch interessantere von seinen Künsten vorzuführen.
„Das Stellen ‚auf den Busch‘ ist keine Kunst; das kann ein Jeder, der gute Lockvögel hat und guten Leim zu kochen versteht. Ich denke, das haben hier vor Jahrhunderten die alten Burgknappen auch schon gekonnt. Aber auf der Eulenbucht fangen, das ist ein ander Stück.“
Der Fang in der Eulenbucht ist allerdings wesentlich verschieden von dem eben beschriebenen. Mitten im Walde wird ein wo möglich etwas isolirt stehender Baum seiner unteren Zweige beraubt, und an Stelle derselben werden Leimruthen angebracht. Die abgehauenen Zweige werden unten am Stamme schräg gegen [686] denselben gelehnt, so daß sie ein dichtes Dach und einen darunter befindlichen hohlen Raum bilden, eine Bucht, fast von der Form einer Köthe. In diese Bucht setzte sich unser Vogelsteller. Dann begann er sein Werk, welches sich von der frühern Fangart dadurch unterschied, daß er selbst Vögel aller Art heranlockte, zunächst nicht durch Nachahmung ihrer Stimmen, sondern durch täuschendes Nachahmen des Pfeifens einer Eule. Dies zieht bekanntlich die kleineren Vögel heran, und es übte auch hier eine zauberische Anziehungskraft. Kaum hatte der Alte seinen Eulenruf einige Male ertönen lassen, da fing es an lebendig in den nahen Fichten zu werden. Zuerst kamen jetzt die Goldhähnchen.
„Das sind die Neugierigsten,“ sagte Onkel Heinrich. „Das ganze Thierchen wiegt etwa ein Viertel bis ein halbes Loth und steckt ein Pfund Neugier darin. Schade, daß man sie nicht im Käfige am Leben erhalten kann. Aber woher sollte man das kleine Gewürm nehmen, dessen sie zur Nahrung bedürfen?“
Nächst den Goldhähnchen kamen Meisen und Finken zuerst heran, dann eine Schaar von Buchfinken aus dem nahen Tannenhäu. Ein gelber Zeisig streckte sein Köpfchen mit der schwarzen Platte fast in die Bucht hinein, er schien kaum zu ahnen, daß der trügerische Leim bereits seine Füße fesselte. Neben ihm war ein Zetscher mit rother Haube und rother Brust sein Leidensgefährte. Die bunten Meisen flatterten in großer Zahl umher; sie aber, wie die einfarbigeren Hänflinge schienen vorsichtiger zu sein; sie begnügten sich, aus einiger Entfernung nach der Bucht zu schauen. Dem Eulenrufe waren allmählich Goldhähnchen und Zeisige und Finken genug zum Opfer gefallen. [696] „Aber ich will auch Häher und Spechte haben,“ sagte der Alte, und alsbald mischten sich in die Monotonie des Eulenrufes andere Vogelstimmen, die der Alte täuschend nachzuahmen wußte und die abermals manch Vöglein auf den Leim führten; nur die Spechte hielten sich fern, und doch hatte sich unser Führer darauf gesteift, uns gerade durch das prachtvolle Gefieder der Bunt- und Grünspechte zu ergötzen. Aber diese schienen nicht Lust zu haben, dem Locke zu folgen. Waren sie früher schon einmal in Gefahr gerathen oder war der Lock doch nicht verführerisch genug, es strichen vier bis fünf Spechte mehrmals über den Baum hinweg, ohne sich zu setzen. Der Alte wurde eifrig; er begann eine neue Verführungsmethode; er gab ein Duett zum Besten, den Zank einer Eule mit einem Specht darstellend. Erst Eulenruf, dann einfaches Spechtgeschrei mit kleinen Pausen, dann auf einmal ein mehr gellender Eulenschrei, aber gleichzeitig auch ein wilderer, rascherer Aufschrei des Spechtes, als hätte Eins dem Andern ein Leid gethan; nun unablässig der Schrei des Spechtes und der Eule durcheinander, bald lauter, triumphirender von der einen und matter, klagender von der andern Seite, bald umgekehrt, als hätte der Kampf eine andere Wendung genommen. Es war eine wirklich kunstvoll durchgeführte Darstellung eines mit wechselndem Glück geführten Kampfes. Ueberraschend war auch die Wirkung nach außen; die fünf Spechte hemmten den Flug; sie ließen sich auf den benachbarten Bäumen nieder, augenscheinlich den Stimmen mit großer Spannung lauschend. Jetzt auf einmal schien die Eule im Vortheil zu sein. Ihr Pfeifen klang siegreich; die Stimme des Spechtes wurde ein klägliches, langgezogenes Gekrächz wie ein verzweifelter Hülferuf. Mit einem Male erhoben sich auch die Spechte und flatterten einige Zweige näher zur Bucht; aber ebenso rasch, fast ängstlich, flatterten sie auch wieder zurück, als hätten sie die Lust, nicht aber den Muth, dem bedrängten Gefährten zu helfen.
Die List des alten Vogelstellers war vergebens gewesen. Er änderte nun seine Methode. Das Kriegsglück schien sich in der Bucht zu wenden, der Specht allmählich die Ueberhand zu gewinnen und seinen spitzen Schnabel in den Körper des Gegners zu bohren, denn auf einmal war das Pfeifen der Eule ein so schmerzliches, das Geschrei des Spechtes aber ein so lautes, keckes, hochmüthiges, daß man deutlich hier den Sieg, dort die Niederlage daraus erkannte; und die letztere ward immer vollständiger, denn das Pfeifen wurde schmerzlicher, schwächer, hinsterbend und das Triumphgeschrei des Spechtes immer heller, sicherer. Was der Hülferuf vorher nicht bewirkt hatte, das geschah jetzt. Am Kampfe theilzunehmen war weniger verlockend als theilzunehmen am Siege. Rasch und entschlossen senkte sich ein prächtiger Buntspecht auf die Bucht nieder, auf eine der Leimruten nahe über der Eulenbucht. Er war gefangen, und das wäre auch wohl schon jetzt das Schicksal der übrigen gewesen; aber es tönten auf einmal Schritte und Stimmen durch den Wald. Drei Wanderer kamen gegangen, den Weg nach dem Hexentanzplatze zu erfragen, und der Fang war für einen Augenblick unterbrochen.
Dennoch war auch diese Unterbrechung nicht uninteressant, denn sie gab dem Onkel Heinrich Gelegenheit, den drei Wanderern einen Einblick in seine Kunst zu geben. Das gereichte ihm immer zur Befriedigung, hier aber um so mehr, als er später erfuhr, daß es zwei junge deutsche Fürstensöhne mit ihrem Gouverneur gewesen seien, die hier an seiner Eulenbucht gestanden und ihre Hüte mit seinen Goldhähnchen geschmückt hatten.
Nachdem sie ihren Weg fortgesetzt hatten, drang der unersättliche Vogelfänger entschieden auf Wiederbeginn des Fanges. Der lange Widerstand der Spechte hatte ihn gereizt; er wollte seinen Willen, er wollte mehr Spechte haben. Wir mußten uns fügen. Es war übrigens ein trefflicher Helfershelfer für ihn gewonnen: das war der gefangene Specht; der ward nun mit in die Bucht genommen und durch leichte Schläge an den Schnabel gereizt, seine Gefährten aus dem Walde herbeizurufen, wie der Alte es vorher selbst gethan hatte. Der Erfolg war ein erwünschter; innerhalb weniger Minuten saßen einige Spechte nebst mehreren Hähern auf dem Leime, und der Neuntödter war befriedigt; wir waren’s nicht minder, denn wie interessant und spannend auch einige Momente des Fanges sind, auf die Dauer mischt sich doch etwas Ermüdendes hinein, und es gehört die Passion des echten Vogelstellers dazu, tagelang dabei auszuharren.
Die Ausbeute, welche der Fang auf dem Busche und auf der Eulenbucht gegeben hatte, belief sich auf etwa hundert Vögel. Der Alte suchte einige der besten Singvögel heraus, die übrigen wurden für die Küche bestimmt. Von besonderm Werthe waren für ihn von dem ganzen Fange nur einige Finken und Dompfaffen; die Finken sind überhaupt die Lieblinge der Harzer Vogelsteller; sie finden jede Eigenthümlichkeit im Gesange, jede besondere Modulation heraus und haben dafür besondere Benennungen. Der Weida und der Vaxirr sind die am meisten geschätzten; sie haben diese Namen von den eigenthümlichen Gesangswendungen erhalten, mit denen sie ihre Läufe schließen und die sie auch in der Mitte des Gesanges häufig anbringen und wiederholen; beide haben eine Menge Unterabtheilungen, der Feinweida, der Reitervaxirr, der Spatzirr etc. Der Harzer Vogelsteller kennt in seiner Nachbarschaft die Stimmen der einzelnen Finken genau, und wenn er einen recht guten Weida oder Reitervaxirr ausgekundschaftet hat, so gelten alle seine Bemühungen und Fangvorrichtungen oft nur diesem; er ruht nicht, bis er ihn aus der Luft hernieder auf seinen Leim gelockt hat. Gute Finken werden auch theuer bezahlt, noch theurer die Dompfaffen, eine Finkenart, welche im Freien nicht zu singen pflegt, in der Gefangenschaft aber durch ausdauernde Bemühungen dahin gebracht wird, Melodien beliebter Lieder zu pfeifen. Ein solcher Dompfaff wird oft mit Louisd’ors bezahlt, während Singvögel wie Zeisige, Stieglitze und Finken geringeren Schlages für wenige Groschen, ja für einige Pfennige zu haben sind. Diejenigen Schläger freilich, die sich zu Lockvögeln eignen, giebt der Vogelsteller nur ungern weg.
Außer den beschriebenen Arten des Vogelfanges ist noch die auf dem Vogelherde zu erwähnen, die lohnendste und früher deshalb die gebräuchlichste. Jetzt wird sie nur ausnahmsweise gestattet und ist im Harze sehr selten geworden. Nur im Oberharze existiren noch einige Vogelherde.
Der Vogelherd ist ein dauernd zum Vogelfang bestimmter Platz im Walde oder doch am Waldrande, in einer Größe von zwanzig bis dreißig Fuß sorgfältig geebnet und von Strauchwerk und Büschen gereinigt. Seitwärts dieses Platzes werden unter dort angebrachten dichten Zweigen Vogelbauer mit Lockvögeln angebracht, der Platz selbst aber wird mit Sämereien aller Art, die den Vögeln als Leckerbissen gelten, mit Hanfsamen, Leinsamen, Rübsaat und dergleichen, reich bestreut und ebenso reich mit verführerischen schwarzen und rothen Beeren ausgestattet.
Auf beiden Seiten des Herdes ist ein die ganze Länge einfassendes Netz aufgerichtet, welches durch einen Zug mit einer Schnur gleichzeitig so zum Zuklappen gebracht wird, daß es den ganzen Herd bedeckt. Nahe dem Herde, durch Wald verdeckt, steht eine aus Zweigen oder Borke aufgeführte unscheinbare Hütte mit einer Oeffnung zum Ausschauen nach dem Herde und einer zweiten, durch welche die Schnur von den Netzen aus so gezogen ist, daß der Vogelsteller sie bequem zur Hand hat und sie in jedem Augenblicke, der ihm passend erscheint, anziehen und dadurch das Netz zum Zuschlagen bringen kann. Hier steht er nun regungslos und harrt des günstigen Augenblickes.
Die Lockvögel sind in Thätigkeit; die im Walde zerstreuten Vögel ziehen heran und füllen bereits die nahen Bäume, die zum Theil der Zweige beraubt sind, damit diese nicht den Vögeln hinderlich sind, nach dem unten für sie hergerichteten Speisesaale zu schauen. Um sie aber sicherer zu machen und damit der Platz nicht verdächtig erscheine, sind auf ihm noch einige Verführer, Läufer genannt, placirt, das sind Vögel, die, durch einen dünnen langen Faden festgehalten, allerdings nicht davonfliegen, aber doch sich hinreichend auf dem freien Platze bewegen können; sie spazieren scheinbar in voller Freiheit umher und lassen die reichlich verstreuten Körner sich vortrefflich schmecken. [697] Dies reizt die von den Bäumen aus zuschauenden. Sie flattern herbei, an dem Mahle Theil zu nehmen; immer mehr sammeln sich, und der Vogelsteller hat nur zu prüfen, ob den Verhältnissen nach ein noch größerer Zuzug zu erwarten sei. Glaubt er das nicht, so zieht er seine Schnur; die Netze klappen zu, und bisweilen zappeln über hundert Gefangene unter den Maschen.
Meistentheils ist indeß die Zahl eine geringere, einige Dutzend oder bisweilen auch nur einige Stück; die Neigung der Vögel, auf den Herd zu gehen, ist nicht immer gleich; sie hängt von vielen Umständen ab, von der Witterung, von der Nähe anderer Herde, von der Stille im Walde, von ihrem eigenen geringeren oder größeren Hunger. Es kommt auch nicht selten vor, daß der Anflug ein recht guter und der Fang dennoch ein geringer ist, so namentlich, wenn der Vogelsteller außer der Zahl von Vögeln, die sich bereits auf dem Herde niedergelassen haben, auf den Bäumen ringsum noch andere bemerkt, die gleichfalls Neigung zeigen, sich jenen beizugesellen; da zögert er wohl, ehe er an der Leine ruckt, die das Netz zum Zuschlagen bringt; er zögert, denn er sieht durch sein Guckloch sehr wohl, daß die neuen Gäste schon von dem Gelüste beseelt sind, sich an den leckeren Beeren zu letzen; sie schauen mit den Aeuglein begierig darauf hinab; sie lüften die Flügelchen und flattern einige Fuß näher auf einen anderen Zweig; er sieht, in wenigen Augenblicken werden sie drunten bei den übrigen sitzen und schmausen; dann ist der Fang um so größer – da auf einmal scheint eine Panik unter die Schmausenden zu fahren. Ein wildes, blitzschnelles Auffahren vom Herde, nach allen Seiten hin, ein Flattern und Schweben – und die Menge, die noch eben den Herd bedeckte und durch ein rechtzeitiges Zuziehen der Schnur unrettbar der Gefangenschaft verfallen wäre, sie ist zerstoben, in alle Winde zerstreut; vielleicht der Schritt eines Wanderers, vielleicht das Brechen eines Astes im Walde, vielleicht hoch in der Luft, dem Menschenauge kaum erkennbar, ein Falk oder ein Geier hat sie aufgescheucht von dem verrätherischen Mahle, und der Vogelsteller schaut verblüfft hinterdrein und schilt mit sich selbst ob seiner thörichten Ungenügsamkeit, denn für den Tag ist der Fang, der so reichlich zu werden versprach, verdorben.
Die beste Zeit im Jahre für den Vogelfang ist der Herbst, wenn die wegziehenden Vögel, wie wir es schon bei dem Fange der Krammetsvögel erwähnten, sich in dichten Schaaren sammeln und auf ihrem Zuge in das Gebirge einfallen; demnächst der Frühling, wenn sie zurückkehren. In Schaaren von Hunderten und Tausenden ziehen die Finken, namentlich die Buchfinken, über das Gebirge in einträchtiger, friedlicher Genossenschaft, während sie sonst den gemeinsamen Verkehr mit ihres Gleichen nicht lieben; es wählt sich vielmehr im Frühjahr jeder Fink für sich und seine Gattin ein eigen Revier, in welchem er ein zweites Paar nicht duldet. Haben zwei Finken zufällig ein gleiches Revier für sich ausersehen oder kommt ein Fink in das Revier eines anderen, so pflegt ein erbitterter Kampf zu entstehen, der meist damit endet, daß beide sich in einander verbeißen und so mit den Zehen verstricken, daß sie nicht wieder auseinander können und zur Erde fallen, wo sie ein Raub der Füchse, Marder und Falken oder auch der Menschen werden. Auch noch eine andere Art des Streites ist ihnen eigen, ein Wettstreit im Gesange; man sagt, daß zwei Finken, deren Käfige neben einander hängen, so lange im Schlage mit einander wetteifern, bis der eine, die Ueberlegenheit des Nachbarn im Gesange anerkennend, verstummt und seine Stimme nicht wieder zum Gesange erhebt; nur ein zaghaftes kleinlautes Zwitschern wagt er fortan, zu einem frischen freudigen Schlage ermannt sich der einmal Besiegte nicht wieder.
Nächst den Finken bilden die zahlreichsten Triften der Zugvögel die Tannenmeisen, Schwanzmeisen, Blaumeisen und die übrigen Meisenarten, in manchen Jahren auch die schön rothgefleckten Seidenschwänze und wieder in anderen Jahren die Kreuzschnäbel, obwohl beide oft mehrere Jahre lang nur einzeln oder auch gar nicht vorkommen. Beim Kreuzschnabel scheint seine Anwesenheit davon abzuhängen, ob die Fichten reichlichen Samen tragen oder nicht.
„Es ist eigen mit ihnen,“ erzählte Onkel Heinrich, „ich habe oft Jahre hindurch nicht einen einzigen gefangen, ja, kaum gesehen. Einzelne kamen allerdings bisweilen im Sommer angeflogen, aber nur als Kundschafter für die übrigen, um auszuschauen, wie es mit dem Fichtensamen hier steht. War der nicht gerathen, so flogen sie alsbald wieder von dannen, und kein Kreuzschnabel ließ sich weiter blicken; war aber eine gute Fichtensamenernte in Aussicht, dann blieben die meisten hier, und nur einzelne flogen wieder als Boten hinweg, worauf denn dichte, zahllose Haufen herankamen, so dicht, daß sie wie schwarze Wolken über den Wald hinschwebten; dann ließen sie sich auch hier nieder und nisteten und brüteten mehrmals im Jahre und zwar schon im Januar in der strengsten Winterkälte. Sie gehören zu meinen Lieblingen, denn Farbe und Gesang sind vortrefflich; aber meine hölzernen Käfige genügen nicht für sie – die zerbeißen sie mit den kreuzweis übereinanderliegenden Schnabelspitzen; darum halte ich sie in Drahtbauern.“
Er war in der That mit einigen Drahtkäfigen, daneben aber mit einer Unzahl kleiner Holzkäfige versehen, die im Harze in Massen angefertigt und zu einem beispiellos billigen Preise verkauft werden. Je vierzehn Stück solcher Käfige werden zu einem Satz zusammengeschnürt. Jeder Käfig ist mit einem Gefäß zum Trinken und einem Kripplein für das Futter versehen, und solch ein Satz von vierzehn Stück kostet ungefähr einen Gulden. In diesen Käfigen werden nun die besseren Singvögel, welche in die Hand des Vogelstellers gerathen sind, in das Land hinausgeschickt; eine einzige Frau oder ein einziger Bursche transportirt mehrere Hundert solcher Käfige mit Vögeln auf seinem Rücken. Aber nicht blos über das deutsche Land erstreckt sich der Harzer Vogelhandel, sondern weit über die Grenzen hinaus und über das Meer hinweg. Rüstige, unternehmende Vogelsteller haben sich Absatz in Rußland und in Amerika gesucht und sind aus Vogelstellern Vogelhändler und steinreiche Leute geworden. Sie kaufen die gefiederten Sänger zu vielen Tausenden hier um ein Billiges, während in den Ländern, die sich nicht einer mit der schönen Kunst des Gesanges begabten Vogelwelt erfreuen, große Summen dafür gezahlt werden. Der bedeutendere Theil dieses Geschäfts erstreckt sich allerdings nicht über die auf Leimruthe oder Herd gefangenen, überhaupt nicht auf die in unseren Wäldern heimischen Vögel; mehr als diese sind es die hier nicht heimischen, aber mit Vorliebe und Sorgfalt gezüchteten Canarienvögel, die der Vogelhändler in jene gesangarmen Länder führt.
Am berühmtesten wegen seiner ausgezeichneten Canarienvogelzucht ist das hochgelegene Andreasberg, eine Bergstadt von etwa fünfhundert Häusern und dreitausendfünfhundert Einwohnern. Aber man darf nicht glauben, daß alle die Andreasberger Canarienvögel, welche im Lande feilgeboten werden, wirklich von diesem Orte stammen; es ist vielmehr fast kein Dorf im Harze, wo sich nicht gleichfalls Canarienhecken befinden, oft von gleicher Ausdehnung wie die in Andreasberg, oft der Zahl nach geringer, nicht aber von geringerer Güte. Die in den übrigen Harzorten gezüchteten Canarienhähne stehen im Gesange und im Wohllaut des Schlages mit denen von Andreasberg auf völlig gleicher Stufe. Sie unterscheiden sich von jenen nur durch einen mäßigeren Preis, denn dort wird das Renommée mitbezahlt.
Begreiflicher Weise war auch Onkel Heinrich ein tüchtiger Züchter dieses beliebten Sängers, aber er betrieb die Zucht nicht mehr; es fehlte ihm dazu Tags über die Zeit, die dieser Beschäftigung regelmäßig gewidmet werden muß. Denn wie einfach die Sache auch scheint, so erfordert sie doch große Aufmerksamkeit und unausgesetzte Sorgfalt und – ist wenig lohnend. Es ist mehr die Liebhaberei, die Lust an dieser Art der Beschäftigung, als die Aussicht auf einen namhaften Gewinn, was zum Züchten der Canarienvögel veranlaßt; die Liebhaberei aber ist im ganzen Harze eine allgemeine. Die meisten Handwerker, welche auf Stubenarbeit angewiesen sind, Schneider, Schuhmacher, Tischler etc. haben in ihren Werkstätten jeden freien Raum an den Wänden mit sehr großen geräumigen Vogelbauern ausgefüllt, in denen Vögel aller Altersstufen herumhüpfen, nisten, brüten, füttern, zwitschern und schlagen; die Sorge für ihre Nahrung, Reinlichkeit, Gesundheit und sonstige Erfordernisse bildet die Erholung des Handwerkers, seine Freude und seine Lust. Die Arbeiter aber, die draußen hantieren müssen, die Wegearbeiter, die Holzfäller, die Köhler, die Fischer etc., sie finden weniger Geschmack am Stubenhocken und der mühsamen Zucht der Vögel; sie sind es hauptsächlich, die da draußen im Walde die Ruthen und Netze stellen und ihre Freude mehr an den wilden Singvöglein [698] haben und die den Schlag eines guten Finken oder den melodischen Ruf der Drossel ungleich höher schätzen als die Tiraden der besten Canarienschläger.
Deshalb hatte Onkel Heinrich auch die Zucht aufgegeben, „aber den Fang laß ich nicht! ohne den könnt’ ich nicht dauern, ohne den hätt’ ich am Leben keine Freud’ mehr. Wenn ich im Herbste nicht mehr hinausziehen sollt’ in den gelben Wald und könnt’ nicht mehr mit meinen Vögeln plaudern und sollte die schönen Finken und Stieglitze und die runden Amseln alle vorüberziehen lassen in die Ferne, wo fremde wilde Völker sie todtschlagen, dann wär’s vorbei mit mir. Dann mögen sie mich nur einscharren drüben am Berghange, wo – Ihr wißt es ja selbst – so Viele schlummern, die uns lieb gewesen; dort mögen sie ein Bäumchen auf meinen Hügel pflanzen; denn das möcht’ ich wohl, daß dort ein Paar Vöglein nisteten und ein Fink sein liebliches ‚Weida‘ über mein Grab erklingen ließe.“