Grossbritanniens auswärtige Politik. – England und Deutschland
Literatur:
Bearbeiten- Lord E. Fitzmaurice, life of Lord Granville (1905). –
- (Sir Charles Dilke), the present state of Europe (1887). –
- Lémonon, l’Europe et la politique britannique 1882–1909 (1910). [Sehr unkritisch.] –
- The Marquess of Salisbury (Quarterly Review, Oktober 1902). –
- J. A. Spender, the foundations of British policy. 1912. (Die wichtigsten Kapitel sind übersetzt erschienen in der „Zeitschrift für Politik“ Bd. VI. Heft 1.) –
- Crispi’s Memoiren. –
- Crispi, questioni internazionali. Milano 1913. –
- Les questions actuelles de politique étrangère en Europe. Paris 1911. (La politique anglaise. Conference de R. de Caix. Discours de René Millet). –
- Dictionary of National Biography, Second Supplement vol. I. (Edward VII). –
- E. D. Morel, Marocco in Diplomacy. London 1912. –
- „Diplomaticus“ (Lucien Wolf), Sir Edward Grey’s Stewardship (Fortnightly Reviev, November 1911). –
- Sidney Low, An Anglo-French Alliance? (Fortnightly Reviev, Dezember 1911). –
- „Democritus“, Isolation or Entanglement (Fortnightly Reviev, Juni 1912).–
- Sidney Low, Towards an Imperial foreign policy (Fortnightly Review, November 1912). –
- Lady Phillips, a friendly Germany: why not? London 1913. –
- The naval and military Situation of the Britisch Isles. By an Isläader. London 1913.
Die Entwickelung der europäischen Konstellation in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wird in groben Zügen durch folgende Daten gekennzeichnet: deutsch-österreichisches Bündnis 1879, Dreibund 1882 (erneuert 1887, 1892, 1902), Erneuerung des Dreikaiser„bündnisses“ [308] 1884, deutsch-russischer Rückversicherungsvertrag 1887–1890, Begründung des Zweibundes 1891. Die Lage war in diesem Zeitraum im wesentlichen beherrscht durch die deutsch-französischen und die deutsch-russischen Beziehungen. Da sich die englische Politik in dauerndem Gegensatz zur russischen befand, kam für sie nur eine Anlehnung an Deutschland oder an Frankreich in Betracht, und sie hat mehrfach zwischen beiden geschwankt. Das Kabinett Gladstone (1880 bis 1885) war anfangs nach Frankreich hin orientiert; man pflegte von dem englisch-französischen „Bündnis“ zu sprechen, obwohl ein eigentlicher Bündnisvertrag nicht existierte, und der Versuch, die Freundschaft durch einen Handelsvertrag zu befestigen, schlug fehl. (1882.) Bismarck hatte eine engere Anlehnung an England erstrebt, ohne jedoch das Misstrauen der englischen Liberalen überwinden zu können. Die englisch-französische Freundschaft war ihm indes keineswegs unsympathisch, da sie Frankreich von einer Annäherung an Russland abhielt, und nur unter Gambetta wurde sie ihm zu „exklusiv“. Nun entstand aber ein dauernder Gegensatz zwischen Frankreich und England, als Frankreich endgültig die Gelegenheit verpasst hatte, das Kondominium in Ägypten aufrecht zu erhalten und seitdem England allein am Nil gebot. Durch die Konstellation von 1884, die die Erneuerung des Dreikaiserbündnisses und eine französisch-deutsche Annäherung (unter Jules Ferry) brachte, wurde England vollends isoliert. Frankreich war nicht nur in Ägypten, sondern durch seine gesamte neue Kolonialpolitik sein Gegner geworden; mit Russland bereitete sich ein bedrohlicher Konflikt in Mittelasien vor, wo die Russen bis an die afganische Grenze vordrangen (Konflikt von Penjdeh 18S5); und zugleich schufen die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik Gegensätze und Reibungen zwischen England und Deutschland. Bismarck hatte England seine Unterstützung in Ägypten als Kompensation für kolonialpolitische Zugeständnisse angeboten; England erkannte die Notwendigkeit einer Verständigung mit Deutschland, und während der letzten Zeit der Gladstoneschen Regierung bestand eine englisch-deutsche Annäherung. – Der konservative Premierminister Lord Salisbury (1885, 1886–92, 1895–1902) begann seine auswärtige Politik ebenfalls mit einer Orientierung nach Frankreich. Er war damals sogar bereit, sich unter gewissen Bedingungen zur Räumung Ägyptens zu verpflichten; aber noch ehe die Verhandlungen ihren Abschluss gefunden hatten, entschloss er sich zur Anlehnung an den Dreibund. Entscheidend war für ihn die bulgarische Krisis und die Interessengemeinschaft, die hier England mit Italien und Österreich verband, ferner die Sorge um Ägypten, und die deutlicher werdenden Tendenzen zu einer französisch-russischen Annäherung. Indes blieb Englands Anlehnung an den Dreibund, ebenso wie seine frühere Anlehnung an Frankreich, lockerer Natur; weder in dem einen noch in dem andern Falle hat die englische Regierung vertragsmässige Verpflichtungen übernommen. England ist in dieser Periode nur eine feste Entente eingegangen, die auf bestimmten Vereinbarungen basiert war, nämlich mit Italien. Seitdem Frankreich, wenn auch mit Zustimmung Englands, Tunis erworben hatte (1881), war das Gleichgewicht im Mittelmeer verschoben, und eben aus diesem Grunde war Italien dem deutsch-österreichischen Bündnis beigetreten. Italien fand aber in dem Dreibund keinen ausreichenden Schutz zur See. Bei der Erneuerung des Dreibundes (20. Februar 1887) schlossen England, Österreich-Ungarn und Italien zwei Abkommen, vom 12. Februar und 24. März 1887, worin sie sich verpflichteten, den Status quo im Mittelmeer zu erhalten, keine Veränderung desselben zuzulassen und in jedem Falle gemeinsam vorzugehen.[1] England „flankierte“ den Dreibund, aber zugleich bewahrte es sich in seinem Verhältnis zum Dreibunde stets eine ziemlich grosse Elastizität. Diese zeigte sich u. a. darin, dass i. J. 1891 die französische Flotte auf ihrer Rückkehr von den Verbrüderungsfesten in Kronstadt nach Portsmouth eingeladen wurde, wo die Königin Viktoria eine Revue über sie abhielt. Lord Salisbury soll stets besorgt haben, dass der Preis für den formellen Beitritt Englands zum Dreibund die Garantie des deutschen Besitzes von Elsass-Lothringen sein würde.
Auch nach der Gründung des Zweibundes setzte Lord Salisbury seine dreibundfreundliche Politik fort. Die Entente mit Italien half den Status quo im Mittelmeer erhalten, und die von ihm unterstützte italienische Politik in Abessynien diente den ägyptisch-englischen Interessen am oberen Nil. Englands Stellung in Ägypten beruhte noch immer ganz wesentlich auf der Unterstützung, [309] die es von dem Dreibunde, namentlich von Deutschland, erhielt. Als unter Hanotaux neue Tendenzen zu einer deutsch-französischen Annäherung vorhanden waren – die aber nie zu dem Plane einer Änderung der deutschen Politik in Ägypten führten – suchte England zu verhindern, dass diese Annäherung ihm selbst schädlich werden könnte. Bald nach dem Krügertelegramm – und der drohenden Botschaft des amerikanischen Präsidenten Cleveland – verglich sich England zunächst mit Frankreich wegen Siams; und als sich am oberen Nil der Konflikt mit Frankreich zuspitzte, schloss es mit Deutschland den Geheimvertrag über gewisse afrikanische Gebiete.
Ausserhalb Europas war die englische Politik bestimmt durch den alten Gegensatz zu Russland, das wie erwähnt, bis an die afganische Grenze vordrang, und in demselben Jahre (1885) einen Vorstoss nach Korea machte. Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten blieben, solange diese keine eigentliche auswärtige Politik hatten, von verhältnismässig untergeordneter Bedeutung; nur kam es 1896 zu einem kurzen aber heftigen Streit wegen der Grenze zwischen Britisch-Guyana und Venezuela, der dann durch Schiedsgericht beigelegt wurde. Als gegen Ende des Jahrhunderts die ostasiatischen Fragen in Fluss kamen, näherte sich England Amerika, dem es in den Hay-Pauncefote-Vertrag (1901) eine bedeutende Konzession in der Panamakanalfrage machte, und schloss ferner 1902 ein Defensivbündnis mit Japan.
Eine neue Orientierung Englands in der europäischen Politik bereitete sich während des Burenkrieges vor. England hatten mächtige Koalitionen auf dem Festlande stets Besorgnisse eingeflösst. Lord Beaconsfield glaubte, auf dem Berliner Kongress das Dreikaiserbündnis für alle Zeiten unmöglich gemacht zu haben; und wie erwähnt, hielt England i. J. 1885 für notwendig, sich mit Deutschland zu verständigen, bevor es an die Auseinandersetzung mit Russland ging. Im Burenkriege sah sich England der feindlichen Kritik der Presse sowohl der Dreibund- als der Zweibundmächte ausgesetzt. Es gab Monate, wo England von Truppen fast ganz entblösst war. In seiner Flottenpolitik verfolgte England seit 1889 den Zweimächte-Standard, der ihm die Überlegenheit über die russische und französische Flotte gewährleistete. Jetzt aber befürchtete die öffentliche Meinung in England die Möglichkeit einer Koalition der drei Mächte Deutschland, Frankreich und Russland; und Deutschland hatte gerade angefangen, eine stärkere Kriegsflotte zu bauen. Man begann daher an eine neue Orientierung der englischen Politik zu denken, um eine solche Koalition zu verhindern. Dass man auch in amtlichen englischen Kreisen die diplomatische Stellung Englands zu verstärken wünschte, scheint aus der bekannten Rede Chamberlains (29. Nov. 1899) hervorzugehen, in der er die Idee eines englisch-deutsch-amerikanischen Bündnisses proklamierte. Ob damals oder später an ein Bündnis mit Deutschland ernstlich gedacht worden ist, lässt sich bei dem vorliegenden Material nicht entscheiden. Jedenfalls begann die öffentliche Meinung Englands für eine Annäherung für Frankreich zu optieren, und bald danach auch für einen Ausgleich mit Russland Stimmung zu machen. Der Grund war, das man Deutschland als den gefährlicheren Gegner betrachtete. Der Aufschwung, den Deutschland in Industrie, Handel und Schiffahrt genommen hatte, steigerte die schon lange vorhandenen Besorgnisse vor der deutschen Konkurrenz; der Bau der deutschen Flotte brachte eine völlig neue Grösse in die Berechnungen über das Gleichgewicht der Mächte; und die Erwerbung von Kiautschou und einiger Inselgruppen in der Südsee sowie die weltpolitischen Reden des Fürsten Bülow wurden als der Anfang einer ehrgeizigen und gefährlichen deutschen Expansionspolitik gedeutet. Dagegen war von Frankreich, das soeben erst die Demütigung von Faschoda hatte hinnehmen müssen, wenig zu befürchten. Während ein einflussreicher Teil der englischen Presse die deutsche Politik heftig bekämpfte und für eine Anlehnung an Frankreich plädierte, fuhr die englische Regierung einstweilen fort, im Einvernehmen mit Deutschland zu handeln. Allein der Widerstand dagegen war schon so gross geworden, dass das Kabinet Balfour, das durch innere Spaltungen geschwächt war, sich genötigt sah, der öffentlichen Meinung zu weichen. In der Venezuelafrage gab es ihre anfängliche Kooperation mit Deutschland auf, und die Beteiligung Englands an der Bagdadbahn, die schon gesichert erschien, wurde zurückgezogen. Immerhin wurde aber noch die italienisch-französische Entente von 1902 in England anfangs [310] mit entschiedenem Unbehagen aufgenommen, da sie das Gleichgewicht im Mittelmeer zu ungunsten Englands zu verschieben schien.
Die ersten Voraussetzungen der neuen Orientierung der englischen Politik waren dieser Umschwung der öffentlichen Meinung, der Thronwechsel (1901), und die durch den Rücktritt Lord Salisburys verursachte Rekonstruktion des unionistischen Kabinets (1902). Das erste deutliche Anzeichen der Wandlung war die Reise König Eduards nach Paris i. J. 1903; die erste Etappe das Abkommen vom 8. April 1904. Dies war an sich ein kolonialpolitischer Ausgleich, wie England deren in den 80er und 90er Jahren mehrere geschlossen hatte, wenn auch bisher nicht auf so breiter Basis. Auch von jenen früheren kolonialen Abkommen hatten mehrere ein Rapprochement mit dem Lande, mit dem sie geschlossen wurden, zur Folge und zum Zweck gehabt. Von wesentlicher Bedeutung war aber jetzt, dass Frankreich seine bisherige Opposition in Ägypten aufgab, während England seinen Widerstand gegen die französische Marokkopolitik einstellte und Frankreich darin seine diplomatische Unterstützung zusagte. Die französische Marokkopolitik war dadurch, dass sie bei der Entscheidung über Marokko Deutschland absichtlich ignorieren wollte, zugleich eine europäische Politik, und England liess sich somit stärker in die europäische Kontinentalpolitik hineinziehen, als es seit Jahrzehnten getan hatte, wenn man von der Orientpolitik absieht. Dass sich auf der Basis des Abkommens von 1904 so schnell eine bündnisartige Entente zwischen England und Frankreich entwickelte, war hauptsächlich eine Folge des ostasiatischen Krieges und der deutschen Marokkopolitik. Sowohl England als Frankreich waren durch ihre Bündnisse zur Teilnahme an dem Kriege verpflichtet, sofern er nicht auf Russland und Japan beschränkt blieb. Eine Verständigung zwischen England und Frankreich, der ja bereits stark vorgearbeitet war, war demnach in beider Interesse erwünscht; und es ist bekannt, dass Frankreich sich sehr eifrig um die schiedsgerichtliche Austragung der Doggerbankaffäre bemüht hat. Eine Kooperation beider Regierungen, für die die öffentliche Meinung Frankreichs anfangs ungleich weniger begeistert war als die englische, war damit eingeleitet; und der Widerstand, den Deutschland gegen die einseitige Verständigung beider Mächte über Marokko und gegen die französische Marokkopolitik erhob, hat die Entente gefestigt. England hielt es in seinem eigenen Interesse, eine Isolierung Frankreichs zu verhindern, da eine eventuelle Niederlage Frankreichs zu seiner eigenen Isolierung führen könnte; und so trat es anstelle Russlands, das in Ostasien engagiert war, an die Seite Frankreichs. Man kann zwar heute mit Bestimmtheit sagen, dass zwischen den beiden Regierungen keine bestimmten Verabredungen oder Verpflichtungen für den Kriegsfall bestanden haben, aber es musste trotzdem als sicher gelten, dass im Kriegsfalle beide Mächte auch ohne derartige Abmachungen gemeinsam handeln würden.
Es bestand nun weiter die Tendenz, diese englisch-französische Entente auszudehnen. Italiens Verhältnis zu England wurde wieder intimer, seitdem die englisch-französische Entente bestand; und Italien war durch seine Absichten auf Tripolis genötigt, die Marokkopolitik Frankreichs zu unterstützen, und ging daher auf der Algeciras-Konferenz mit den beiden andern befreundeten Mittelmeermächten. Ebenfalls war Spanien durch die geheimen Verträge über Marokko verpflichtet worden, und im Juni 1907 fand zwischen England und Frankreich einerseits und Spanien andererseits ein Notenwechsel statt, die die Zugehörigkeit Spaniens zu der englisch-französischen Gruppe anzeigten. Von weit grösserer Bedeutung aber war, dass im September 1907 der lange vorbereitete Vertrag zwischen England und Russland über Persien, Afganistan und Tibet zustande kam. Der Form nach war auch dieser Vertrag, wie der von 1904, ein rein kolonialpolitischer Ausgleich; und die Frage war, ob sich auch aus ihm eine Kooperation beider Mächte in den grossen politischen Fragen entwickeln würde. Dass in England dieser Wunsch jedenfalls für die Balkanpolitik bestand, kann nicht bezweifelt werden; mindestens erstrebte die englische Pohtik, ein defensives System von Ententen zu schaffen, um eine deutsche Expansionspolitik oder auch eine aktive deutsche auswärtige Politik durchkreuzen zu können.
Durch das englisch-russische Abkommen wurde nicht, wie durch das englisch-französische in bezug auf Marokko, über die Zukunft von Ländern verfügt, an denen Deutschland Interessen von grosser Bedeutung besass. Indes begann England jetzt mit Russland über Mazedonien zu [311] verhandeln; und es schien, als ob die englisch-russische Entente auch auf die europäische Politik ausgedehnt werden sollte. Die österreichisch-russische Balkan-Entente war, wie das österreichische Sandschakbahnprojekt erkennen liess, zu Ende; und der Besuch König Eduards in Reval (Juni 1908) wurde allgemein als das Anzeichen einer neuen Phase der englisch-russischen Politik aufgefasst. Die jungtürkische Julirevolution bereitete diesen Plänen ein schnelles Ende. In der Balkankrisis stand die Tripleentente gegen Österreich und Deutschland. Aber innerhalb der Tripleentente arbeitete Frankreich aufs eifrigste für den Frieden, während Russland selbst keinen Krieg führen konnte. Italien, dessen öffentliche Meinung, im Gegensatz zu der Politik Tittonis, den österreichischen Annexionsplan anfänglich aufs schärfste bekämpft hatte, leistete später ebenfalls schätzenswerte Vermittlerdienste, und schloss sich wieder enger an den Dreibund an, je deutlicher die Stärke der verbündeten Mächte zutage trat. Die Tripleentente hatte gegen die Zentralmächte nichts ausrichten können, und Russland beabsichtigte, zumal nach dem Rücktritt Iswolskis nicht, den Versuch zu wiederholen, sondern zog eine Annäherung an Deutschland vor. Auch während der Krisis waren die Beziehungen zwischen den beiden Höfen nie abgerissen, und im August 1911 kam ein Vertrag zwischen Deutschland und Russland zustande, in dem Russland seinen Widerstand gegen die Bagdadbahn aufgab und die rein wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Persien anerkannte.
In den deutsch-englischen Beziehungen war seit den Jahren 1901 und 1905 allmählich eine Besserung eingetreten. Die wirtschaftliche Konkurrenz wurde unter dem Einfluss der guten Wirtschaftsjahre weniger empfunden. Gegenseitige Besuche verschiedener Körperschaften trugen dazu bei, die Verbitterung der öffentlichen Meinung hüben und drüben etwas abzuschwächen. Die liberale Regierung setzte zwar die auswärtige Politik ihrer Vorgänger fort, hatte aber zugleich den Wunsch, zu besseren Beziehungen zu Deutschland zu gelangen. Die wichtigsten direkten Gegensätze, die zwischen beiden Ländern bestanden, betrafen die Flottenfrage und die Bagdadbahn. Der Gedanke des englischen Liberalismus, die Seerüstungen beider Nationen durch ein Abkommen zu regeln, liess sich natürlich nicht verwirklichen. Die englische Regierung wandte im März 1909 das gewaltsame Mittel einer Flottenpanik an, um den Widerstand des radikalen Parteiflügels gegen ihre grossen Mehrforderungen zu überwinden. Seitdem trat in England eine Beruhigung ein. Das zeigte sich namentlich bei den Dezemberwahlen von 1910, wo auch die Unionisten erkannten, dass die antideutsche Agitation bei den Wählerschaften kein Echo mehr fand. Auch in der Bagdadbahnfrage trat eine Entspannung ein; die Bagdadbahngesellschaft und die türkische Regierung kamen überein, dass die Bahnstrecke von Bagdad bis Basra unter gewissen Bedingungen internationalisiert werden könne. Ferner wirkte die deutsch-russische Annäherung günstig auf die deutsch-englischen Beziehungen. Während in der Zeit des englisch-russischen Gegensatzes eine deutsch-englische Annäherung leicht in Petersburg verstimmte, und eine deutsch-russische in London Besorgnisse erregte, hat die Entente von 1907 diese Verhältnisse geändert. Die deutsch-russische Annäherung war in gewissem Masse sogar geeignet, eine deutsch-englische Verständigung zu erleichtern, da sie England die Gelegenheit nahm, im nahen Osten und in Persien die russische Politik gegen Deutschland zu unterstützen. Indes war der deutsch-englische Gegensatz keineswegs allein eine Folge von Fragen, die beide Länder direkt berührten. Seitdem sich die englische Politik nach Frankreich orientiert hatte, und vor allem seit der ersten Marokkokrisis waren die deutsch-englischen Beziehungen ganz wesentlich durch die deutsch-französischen bestimmt. Die zweite Marokkokrisis von 1911 musste daher wiederum einen Rückschlag in den deutsch-englischen Beziehungen verursachen. England unterstützte die französische Politik, teils auf Grund seiner 1904 eingegangenen Verpflichtungen, teils in der Absicht, eine Isolierung und eine diplomatische und letzten Endes eine militärische Niederlage Frankreichs zu verhindern.
Aber noch während der Marokkokrisis zeigte sich’s, dass innerhalb der englischen Regierung eine Richtung bestand, die das Ziel einer schliesslichen Verständigung mit Deutschland nicht aus den Augen verloren hatte. Nach Beendigung der Krisis entstand eine starke politische Bewegung, die die englische Politik während des deutsch-französischen Konfliktes scharf kritisierte und um so energischer auf Anbahnung guter Beziehungen zu Deutschland drängte, als die leidenschaftliche Erregung, die sich der öffentlichen Meinung in Deutschland bemächtigte, vorzugsweise gegen England gerichtet war. In der Tat hatte die endgültige Liquidation der Marokkofrage des bedeutendste [312] Hindernis, das einer englisch-deutschen Annäherung im Wege stand, beseitigt. Schon in seiner grossen Rede vom 28. November 1911 sprach Sir Edward Grey die Erwartung aus, „dass in zwei bis drei Jahren das Gerede von einem grossen europäischen Kriege aufgehört haben und dass sich zwischen England und Deutschland “a growth of goodwill” gebildet haben würde“. Das erste Anzeichen einer Wendung der Dinge war die Reise Lord Haldanes nach Berlin; und es war noch kein Jahr seit jener Rede Sir Edward Greys vergangen, als sich England und Deutschland in engster politischer Zusammenarbeit gefunden hatten, um als beherrschender Mittelpunkt eines in der Bildung begriffenen europäischen Konzertes den europäischen Frieden zu schützen.
Mit der Liquidation der Marokkofrage waren die vertragsmässigen Verpflichtungen Englands gegen Frankreich erfüllt. Die englische Politik blieb entschlossen, an den Ententen mit Frankreich und Russland, für die sie so manche Opfer gebracht hatte, festzuhalten; allein sie fasste diese Ententen in keinem exklusiven Sinne auf, und wünschte sie durch freundschaftliche Beziehungen mit Deutschland zu ergänzen. Der Gedanke, das politische Gleichgewicht zwischen den kontinentalen Mächtegruppen zu erhalten, ist zwar in England lebendig geblieben, aber es beschränkte sich mehr nur auf den theoretischen Fall, dass etwa Deutschland Frankreich angriffe. England ist gegenwärtig eine friedliebende Macht, und es wird in seiner Friedensliebe durch die Erfahrungen des Burenkrieges, die noch lange unvergessen bleiben werden, bestärkt. Immerhin wäre es falsch, seine Friedensliebe zu überschätzen. Falls es seine wichtigsten Interessen in Gefahr sähe, würde es vor der ultima ratio eines Krieges nicht zurückschrecken und als ein solcher Fall gälte den Engländern auch die Möglichkeit einer Niederwerfung Frankreichs durch die deutschen Waffen. Es gilt weiter von der englischen Politik, dass sie territorial saturiert, und daher Änderungen des territorialen Status quo im allgemeinen abgeneigt ist. Aber es war eine Wirkung der Marokkokrisis, dass die englische Politik sich heute einer kolonialen Expansion Deutschlands nicht mehr widersetzt, soweit sie nicht den eigenen speziellen politischen und strategischen Interessen zuwiderläuft. Diese veränderte Haltung Englands zeigt sich u. a. in dem grösseren Entgegenkommen, das es neuerdings in der Bagdadbahnfrage bewiesen hat.
Im Verfolg der Marokkokrisis sind die Fragen der englischen Wehrpolitik in Verbindung mit der auswärtigen Politik sehr lebhaft erörtert worden. Nach der Armeereform Lord Haldanes besitzt England ein kleines, aber gut organisiertes Expeditionskorps von etwa 160 000 Mann, das jederzeit zum überseeischen Dienst bereit ist, und eine milizartige Territorialarmee von etwa 250 000 Mann, die zur Landesverteidigung bestimmt ist, und die sich eingestandenermassen mit einem modernen kontinentalen Heere nicht messen könnte. Wenn man davon ausging, dass England mit seinem Expeditionskorps in einen eventuellen europäischen Krieg eingreifen sollte, so ergab sich ein offenbares Missverhältnis zwischen seiner Wehrverfassung und einer kontinentalen Politik, zu deren Durchführung eine auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende Armee nötig wäre. Während eine politische Richtung in England die Bestrebungen von Lord Roberts unterstützte, die allgemeine Wehrpflicht in England einzuführen, lehnten die liberale Regierung und die liberale Partei diesen Gedanken a limine ab. Die Liberalen waren entschlossen – und die massgebenden Kreise der Unionisten haben sich ebenfalls zu diesem Grundsatz bekehrt, – das vorhandene Missverhältnis zu beseitigen, nicht indem sie die Wehrverfassung im kontinentalen Sinne änderten, sondern indem sie ein stärkeres Desinteressement der englischen Politik in den Fragen des europäischen Kontinents betonten. Es war ganz in diesem Geiste, dass im Frühjahr 1912, als von bestimmten englischen Kreisen angeregt wurde, die Entente mit Frankreich in ein festes Bündnis zu verwandeln, die Antwort sehr entschieden im entgegengesetzten Sinne ausfiel. Nachdrücklich hat dann noch am 10. April 1913 der englische Premierminister im Parlament erklärt, dass England keinerlei militärische oder maritime Verpflichtungen für den Kriegsfall übernommen habe, und am 5. August 1913 erklärte der Lordkanzler im Oberhaus, dass England (in Europa) keine Bündnisse habe. Unbeschadet der Fortdauer der Entente cordiale ist die englische Politik unmerklich wieder in die Geleise der Salisburyschen Politik eingelenkt, nur dass man nicht mehr von einer Politik der „glänzenden Isolierung“, sondern von einer Politik der „freien Hand“ spricht. Dass England damit nicht auf eine aktive Politik in den grossen europäischen Fragen verzichtete, zeigte sich, als der Balkankrieg ausbrach. England übernahm vielmehr die führende Rolle; die Botschafterreunion, die auf die Initiative [313] Sir Edward Greys zusammentrat, tagte in London; und Downing Street wurde für eine lange Reihe von Monaten das wichtigste Zentrum der europäischen Diplomatie. Aber die englische Aktion bewegte sich nicht auf demselben Boden wie während der bosnischen Krisis von 1908/09. Sie warf ihr Gewicht nicht in die Wagschale der Triple-Entente, sondern sie erstrebte die Bildung eines europäischen Konzertes. In diesem Bestreben, nicht die Gruppierung der europäischen Mächte in zwei Lager, Dreibund und Triple-Entente, zu betonen, sondern vielmehr die Gegensätze, zwischen beiden Gruppen abzuschwächen, beide einander zu nähern, und sie unter der höheren Einheit des europäischen Konzertes zu einer gemeinsamen Politik der Friedenserhaltung zusammenzuführen, näherte sich England Deutschland; und diese ausserordentlich starke Kombination der beiden früheren Rivalen hat zweifelsohne die Gewähr für das Gelingen des Konzertes gebildet. Zugleich hat das intime Zusammenarbeiten der englischen und deutschen Politik in einer Krisis, die an schwierigen und beängstigenden Situationen und Augenblicken reich war, ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens geschaffen, das die allgemeine Politik der beiden Regierungen zu einander, und ebenfalls das Verhältnis der beiden Nationen und ihrer öffentlichen Meinungen nicht unbeeinflusst lassen konnte. – Wenn man die Ursachen betrachtet, die diese Wandlung herbeiführen halfen, so wird man auch den englischen Thronwechsel und die Entwickelung der politischen Tendenzen im britischen Reiche in Anschlag bringen müssen. Beides geht insofern parallel, als König Georg V. nicht wie sein Vater in europäischen, sondern in imperialistischen Interessen aufgewachsen ist, und in dieser Hinsicht der beste Repräsentant der politischen Ideen ist, die die heutige britische Generation im Mutterland und über See beherrschen. Die Tendenz des modernen Imperialismus geht dahin, möglichst viel von den vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Kräften der Nation auf die Entwicklung und den engen Zusammenschluss des Reiches zu konzentrieren. Die britischen Kolonien streben darnach – und die gegenwärtige Generation der Imperialisten in England unterstützt sie darin – Einfluss auf die Reichspolitik zu gewinnen; und da die Kolonien keine Interessen an den Fragen des europäischen Kontinents haben, so sind sie bestrebt, die Politik des Mutterlandes aus den Verstrickungen des kontinentalen Europas zu lösen.
Die aussereuropäische Politik Englands wird hauptsächlich durch das Bestreben gekennzeichnet, die guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu erhalten, die Lord Salisbury begründet hatte. England hat dieser Politik manche Opfer gebracht. Durch den Vertrag von 1901 verzichtete es auf seine alten Rechte am Panamakanal. Es erhob ferner keinen Einspruch gegen die Befestigung des Kanals, obwohl der Vertrag nur von Polizeirechten sprach; dagegen hat die englische Regierung gegen die differentielle Behandlung der amerikanischen Schiffahrt unter dem Panamakanalgesetz protestiert, und zwar erfolgte dieser Protest auf Betreiben Kanadas, dessen eigene Schiffahrtsinteressen dadurch benachteiligt worden wären. Der letzte Fall, wo englisch-amerikanische Differenzen auf Kosten Kanadas ausgeglichen wurden, dürfte der Alaskastreit gewesen sein, denn seitdem hat England der kanadischen Regierung ein ziemlich weitgehendes Mitbestimmungsrecht in allen internationalen Fragen eingeräumt, die die kanadischen Interessen berühren. – Eine analoge Lage ist durch die Frage der Neuen Hebriden mit Bezug auf Australien entstanden. Das englisch-französische Kondominium, das 1906 begründet wurde, hat sich nichts weniger als bewährt; der herrschende Zustand führt zu beständigen Reibungen, so dass die Frage der Neuen Hebriden droht, für beide Regierungen eine ebensolche Quelle von Friktionen zu werden, wie es vordem die Frage von Neufundland war. Aber der englischen Regierung sind die Hände gebunden, da der Commonwelth von Australien jede Vermehrung des französischen Territorialbesitzes in der Südsee perhorresziert.
Bei der Reorganisation und Neuverteilung der Flotte, die Ende 1904 begann, hob England seine Stationen in amerikanischen Gewässern auf, und bekundete damit, dass es auf einen kriegerischen Austrag von Konflikten mit den Vereinigten Staaten verzichtete. Ein störendes Element kam in die englisch-amerikanischen Beziehungen, als sich das Verhältnis zwischen Amerika und Japan verschlechterte; denn der englisch-japanische Vertrag, der 1905 erneuert war, legte England die Bündnispflicht auch gegen die Vereinigten Staaten auf. Auch in den britischen Siedlungskolonien war das englisch-japanische Bündnis unpopulär geworden. Das Bündnis war ursprünglich [314] gegen Russland gerichtet gewesen, und sein eigentlicher Zweck war durch die englisch-russische Entente und die japanisch-russische Annäherung (1910) obsolet geworden. In dem neuen englisch-japanischen Vertrage (1911), der auf der Reichskonferenz die Zustimmung der kolonialen Premierminister fand, wurde das Bündnis erneuert, aber mit der Einschränkung, dass der casus foederis nicht gegen eine Macht eintreten solle, mit der eine der vertragschliessenden Parteien einen allgemeinen Schiedsvertrag geschlossen hätte. Und der Plan eines allgemeinen englisch-amerikanischen Schiedsgerichtsvertrages, der freilich von dem amerikanischen Senat nicht bestätigt wurde, liess erkennen, dass England den Wunsch hatte, von seiner Bündnispflicht in einem Konflikt zwischen Japan und den Vereinigten Staaten befreit zu werden.
- ↑ Crispi, questioni internationali (Milano 1913) S. 86.