Der britische Imperialismus

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Autor: Hans Plehn
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Titel: Der britische Imperialismus
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Achtzehntes Hauptstück: Die politischen Ziele der Mächte in der Gegenwart, 99. Abschnitt, S. 314−318
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[314]
b) Der britische Imperialismus.
Von
Dr. Hans Plehn, London.


Literatur: Bearbeiten

Sir Charles Dilke, Problems of Greater Britain, 1890. –
C. H. Fuchs, Handelspolitik Englands 1893 –
A. Zimmermann, Kolonialpolitik Grossbritanniens 1898, 1899. –
The Empire and the Century 1905. –
H. v. Schultze-Gävernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel 1906. –
M. J. Bonn, Die Organisation des britischen Weltreichs (Grundfragen der englischen Volkswirtschaft: 1. Heft der Veröffentlichungen der Handelshochschule München). –
Richard Jebb, studies in colonial nationalism 1904. –
Richard Jebb, the Imperial Conferences 1911. –
Richard Jebb, the Britannic question 1913. –
J. A. Spender, the foundations of British policy. 1912. –
Lord Esher, the Committee of Imperial defence. 1912. –
Sidney Low, Constructive Imperialism (Fortnightly Review, Juli 1913). –
Sidney Low, the problem of an Imperial Executive. (Nineteenth Century, August 1913.) –
Die Vierteljahrschrift „The Round Table“. –
Marinerundschau 1907, Heft 7. 1910, Heft 1. 1911, Heft 10.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren beide grossen politischen Parteien Englands, Konservative und Liberale, von der Auffassung der Manchesterschule beherrscht, dass die Kolonien, sobald sie eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht hätten, dem Beispiel Nordamerikas folgen und sich von dem Mutterlande losreissen würden. Kanada hatte bereits seine eigene parlamentarische Regierung erhalten; man gewährte sie nun auch den übrigen Siedlungskolonien, sobald sie die finanziellen Grundlagen dazu besassen. Durch den Übergang Englands zum Freihandel hörte die alte auf der Schutzzollpolitik beruhende Kolonialverfassung auf zu bestehen, ohne dass etwas anderes an ihre Stelle gesetzt wurde. Die Kolonien erhielten auch Autonomie in der Zollgesetzgebung. Der Imperialismus war die Reaktion auf diese manchesterliche Auffassung und Politik; er verneinte die Notwendigkeit der Trennung und stellte sich gerade zur Aufgabe, die Verbindung der Kolonien mit dem Mutterlande enger zu gestalten; denn bereits das blosse Fortbestehen der gegenwärtigen Verhältnisse schien die Reichseinheit zu gefährden. Der Imperialismus begann als literarische Bewegung; i. J. 1869 erschien Sir Charles Dilke’s „Greater Britain“, in den 80er Jahren Froude’s ‚Oceana‘ und Seeley’s ‚Expansion of England‘. I. J. 1884 wurde die Imperial Federation League gegründet. Der Verein bestand aus Mitgliedern beider Parteien und schloss Parteipolitik aus, blieb aber eben deshalb, da in England alle Staatspolitik zugleich auch Parteipolitik ist, ohne Einfluss auf die Entschlüsse der Regierung. Drei Möglichkeiten schienen vorhanden zu sein, um eine Konsolidierung des Reichs herbeizuführen. Die eine war, eine neue bundesstaatliche Reichsverfassung [315] zu konstruieren, mit einem Reichsrat oder einem Reichsparlament an der Spitze, die über den Parlamenten sowohl des Mutterlandes als der Kolonien stehen würden (Imperial federation). Der zweite Weg war, eine handelspolitische Einigung zu begründen, und der dritte, einen Reichswehrverband zu schaffen. Soweit diese Gedanken und Bestrebungen von England ausgingen, hatten sie eine mehr oder weniger ausgesprochene zentralistische Tendenz. Eben deshalb musste die Verwirklichung dieser älteren imperialistischen Ideen scheitern, da die Kolonien durchaus nicht geneigt waren, etwas von ihren autonomen Rechten aufzugeben.

Die Erörterungen über eine Reichsverfassung sind bis auf die Gegenwart gänzlich akademisch geblieben. Eine Bundesverfassung mit einem Reichsrat oder Reichsparlament wäre nur unter der Voraussetzung denkbar, dass die Parlamente sowohl des Mutterlandes als der Kolonien einen beträchtlichen Teil ihrer Kompetenz an die zentrale Behörde abträten. Dafür ist auf keiner Seite Neigung vorhanden, und jeder Versuch, einen Modus für die Vertretung des Mutterlandes und der Kolonien in dem Reichsrat zu finden, stiess auf Widerspruch von allen Seiten. Dagegen hat sich in den Konferenzen, die zwischen den englischen und den kolonialen Ministern von Zeit zu Zeit in London stattfanden, eine grössere Annäherung zwischen den einzelnen Teilen des Reichs vollzogen. Die erste Kolonialkonferenz wurde 1887 anlässlich des Regierungsjubiläums der Königin Viktoria einberufen. Sie beiden folgenden schlossen sich an das zweite Jubiläum der Königin 1897 und an die Thronbesteigung König Eduards 1902 an, und seit 1907 sind sie eine feststehende Institution geworden. Die Konferenzen haben unzweifelhaft viel dazu beigetragen, den Reichsgedanken in den Kolonien zu stärken. Die Bewegung war in England entstanden; die imperialistischen Vereine warben in den Kolonien für die neue Idee, und Joseph Chamberlain, der 1895 das Kolonialamt übernahm, gab der englischen Politik eine ausgeprägt imperialistisches Gepräge. Neben dem Mutterlande wurde Südafrika, namentlich durch Cecil Rhodes, ein zweites imperialistisches Zentrum. In Kanada, Australien und Neuseeland wurde der imperialistische Gedanke erst durch den Burenkrieg populär; die Kolonien schickten Kontingente von Freiwilligen nach dem Kriegsschauplatz. Indes zeigte sich schon damals der Gegensatz zwischen der zentralistischen Haltung der englischen Imperialisten und den dezentralistischen Tendenzen der Kolonien, wenn auch dieser Gegensatz dem Mutterlande erst später völlig zum Bewusstsein kam.

Was die praktische Politik betrifft, so hatte Lord Salisbury auf der Kolonialkonferenz von 1887 die Gründung eines „Kriegvereins“ – er bediente sich dieses deutschen, aber in Deutschland ganz ungebräuchlichen Wortes – angeregt. Die Kolonien sollten zu der Reichsverteidigung beitragen, anstatt wie bisher die ganze Last dem Mutterlande allein zu überlassen. Erreicht wurde aber nur ein Flottenabkommen mit Australien (1887); die Kolonie zahlte einen Geldbeitrag, und dafür schuf die Admiralität neben dem bestehenden australischen Geschwader ein Hilfsgeschwader, das an die australischen Gewässer gebunden sein sollte. Dies Hilfsgeschwader bildete einen integrierenden Bestandteil der englischen Flotte. Während die wehrpolitischen Vorschläge von England ausgingen, interessierten sich die Kolonien mehr für die handelspolitischen Fragen; und dieser Anregung folgend wandte sich Chamberlain dem Problem der handelspolitischen Einigung zu. Hier bestanden in England zwei Richtungen; die eine erstrebte ein System differentieller Vorzugszölle zwischen dem Mutterlande und den Kolonien, die andere wollte einen Zollverein mit Freihandel im Innern und mit gemeinsamen Schutzzöllen nach aussen. Ein differentielles Zollsystem hatte im Reiche bestanden, bevor England zum Freihandel überging; in England wurde dieser Gedanke in der Wirtschaftsdepression der 80er Jahre von der Fair Trade League aufgenommen, und auch die interkoloniale Konferenz in Ottawa (1894) trat dafür ein. Zugleich wurde in Ottawa eine Resolution angenommen, dass die englische Regierung die Meistbegünstigungsverträge kündigen sollte, die die Kolonien hinderten, dem Mutterlande Vorzugszölle zu gewähren. Auf der Kolonialkonferenz von 1897 entwickelte Chamberlain den Plan eines Reichszollvereins mit Freihandel im Innern; allein die Kolonien waren dagegen, weil dadurch ihre eigene Schutzzollpolitik aufgehoben und die Grundlage ihrer gesamten Finanzpolitik zerstört worden wäre. In demselben Jahre führte Kanada einen neuen Zolltarif mit Differentialzöllen ein; 1898 kündigte England die Meistbegünstigungsverträge mit Belgien und Deutschland, und Kanada konnte jetzt seine Zollbegünstigung auf das Mutterland beschränken. Die Kolonialkonferenz von 1902 nahm Resolutionen zu gunsten gegenseitiger [316] Vorzugszölle an. Neuseeland und Südafrika folgten dem Beispiel Kanadas und differenzierten das Mutterland zu ungunsten des nichtbritischen Auslandes. Diese Zollpolitik der Kolonien machte Chamberlain zur Grundlage seines grossen kolonial- und wirtschaftlichen Programms von 1903. Aber seine Partei unterlag 1905 bei den Wahlen, und die folgende liberale Regierung hielt am Freihandel fest und war für zollpolitische Gegenleistungen an die Kolonien nicht zu haben. – Die Kolonien haben indes bisher ihre einseitige Zollbegünstigung des Mutterlandes fortgesetzt. Auch der australische Zolltarif von 1908 enthält differentielle Ermässigungen für das Mutterland. Andererseits hat Kanada das Recht für sich in Anspruch genommen, eine selbständige Handelspolitik nach aussen zu führen. Die Kolonie forderte als Korrelat zu seiner zollpolitischen Autonomie eine Autonomie der Handelsvertragspolitik. Bisher war die Regelung sämtlicher internationaler Angelegenheiten des Reichs Sache der englischen Regierung gewesen; noch i. J. 1895 hatte das liberale Kabinet Lord Roseberys der kanadischen Regierung den Wunsch nach selbständigen handelspolitischen Verhandlungen abgeschlagen. Es war eine Anerkennung der völlig veränderten Verhältnisse, wenn die neue liberale englische Regierung ihre Zustimmung dazu gab. Kanada hat darauf einen selbständigen Handelsvertrag mit Frankreich sowie Handelsabkommen mit Deutschland und den Vereinigten Staaten geschlossen und es plante, ein handelspolitisches Gegenseitigkeitsverhältnis mit den Vereinigten Staaten einzugehen. Das Abkommen wurde zwischen den beiden Regierungen abgeschlossen und von dem amerikanischen Kongress angenommen, wurde aber nicht perfekt, da in Kanada die Regierung Sir Wilfrid Lauriers bei den Wahlen im Herbst 1911 unterlag. Trotz der Zollbegünstigung des Mutterlandes ist die Zollpolitik der Kolonie natürlich in erster Linie auf den Schutz und die Entwickelung ihrer eigenen Industrien gerichtet; aber es wird anerkannt, dass die Vorzugszölle den englischen Handel nicht unwesentlich gefördert haben.

Die englischen Kolonien sind auf dem Wege, sich zu eigenen Nationen zu entwickeln. In Kanada zeigten sich die Anfänge einer eigenen nationalen Individualität und eines spezifischen kanadischen Nationalbewusstseins am frühesten. Die einzelnen kanadischen Kolonien haben schon seit 1867 eine Bundesverfassung und bilden einen Gesamtstaat, und ausserdem besteht in den älteren Provinzen die politische Autonomie bereits im dritten Menschenalter. Die australischen Kolonien sind politisch weit jünger; erst i. J. 1901 wurden sie zu einem Bundesstaat zusammengeschlossen, und der Übergang vom kolonialen zum nationalen Bewusstsein begann erst Ende des vorigen Jahrhunderts. In Neuseeland endlich, wo noch ein sehr grosser Teil der heutigen Parlamentarier selbst aus dem Mutterlande eingewanderte Kolonisten sind, erhielt sich der rein koloniale Status am längsten. Der neuseeländische Imperialismus war identisch mit Loyalität gegen das Mutterland, während Kanada und Australien, wo schon der blosse Name „Kolonie“ Anstoss erregt, als gleichberechtigte Schwesternationen auftreten. Erst die Kolonialkonferenz von 1907 wurde diesem Standpunkt der Kolonien gerecht. Man beschloss, die regelmässige Wiederkehr der Konferenzen aller vier Jahre und bestimmte ihre Verfassung. Die autonomen Kolonien wurden zu „Dominions“, die Kolonialkonferenzen zu Reichskonferenzen erhoben. Im Kolonialamt wurde eine besondere Abteilung für die Dominions und eine andere für die Kronkolonien eingerichtet, damit beide Kategorien, ihrem Rangunterschiede gemäss, von einander getrennt würden. Die Konferenzen selbst wurden aus Ressortkonferenzen des Kolonialamts zu Konferenzen zwischen den Regierungen des Mutterlandes und der Dominions; der englische Premierminister verhandelte mit den Premierministern der Dominions; die Kronkolonien und Indien wurden ausdrücklich von der Teilnahme ausgeschlossen. Nicht mehr der Kolonialsekretär, sondern der englische Premierminister führt den Vorsitz, und auf der letzten Konferenz von 1911 hat Mr. Asquith tatsächlich einer grossen Zahl der Sitzungen präsidiert. Andererseits stiessen alle Vorschläge, der Konferenz auch nur den Schein einer politischen Verantwortung zu geben, auf Widerspruch, namentlich von Seiten Kanadas; alles sollte vermieden werden, was den geringsten Präzedenzfall für eine Beschränkung der kolonialen Autonomie geben könnte. Ein ständiges Sekretariat der Konferenz, das aber dem englischen Kolonialamt unterstellt ist, wurde genehmigt; jedoch der Plan, dem Sekretariat eine permanente Kommission an die Seite zu stellen, ging mehreren kolonialen Premierministern bereits zu weit.

Aber nicht allein handelspolitische Verträge sind von den Kolonien (bisher allerdings nur von Kanada) selbständig verhandelt worden, sondern auch Angelegenheiten rein politischen [317] Charakters: namentlich ein Abkommen zwischen Kanada und Japan über die Frage der japanischen Einwanderung. Schon die Imperial Federation League hatte in ihrem Programm von 1884 den Grundsatz aufgestellt, dass die Kolonien an der auswärtigen Reichspolitik Anteil haben, dafür aber auch Pflichten in der Reichsverteidigung übernehmen sollten. Die Frage war in letzter Zeit durch die Entwickelung der ostasiatischen Verhältnisse von neuem akut geworden. Einerseits bestand ein Bündnisvertrag zwischen England und Japan, andererseits wurde der Rassengegensatz zwischen Weissen und Gelben in den Kolonien aufs lebhafteste empfunden; und wenn auch der Einwanderungskonflikt zwischen Japan und Kanada durch ein Abkommen erledigt war, so blieb doch eine fühlbare Inkongruenz zwischen der Haltung Englands und der Kolonien in der ostasiatischen Frage bestehen. Man sagte, die Einheit der auswärtigen Reichspolitik könnte nicht bestehen bleiben, solange das Mutterland und die Dominions eine entgegengesetzte Politik führten. Auf der letzten Reichskonferenz hat die englische Regierung den Präzedenzfall geschaffen, die kolonialen Premierminister zu einer Erörterung der internationalen Lage, soweit sie die Kolonien berührte, hinzuzuziehen; und der neue englisch-japanische Bündnisvertrag sowie die Seerechtsdeklaration von London sind in der Tat den Premierministern vorgelegt worden und haben ihre Zustimmung erhalten. Australien hatte darüber geklagt, dass die Deklaration von London den kolonialen Regierungen nicht schon zur Begutachtung vorgelegt worden sei, bevor die englische Regierung sie unterzeichnete. Die englische Regierung erklärte sich bereit, in Zukunft die Regierungen der Dominions bei internationalen Verträgen, die ihre Interessen berührten, zu konsultieren. Allein Kanada erhob Einspruch. Die Zustimmung zu einer bestimmten auswärtigen Politik Englands lege den Kolonien die Verpflichtung auf, sie nötigenfalls auch bis zur äussersten Konsequenz zu unterstützen; Zustimmung zu der auswärtigen Politik des Mutterlandes bände notwendigerweise auch die Wehrpolitik der Kolonien. Gerade hier legte aber Kanada den grössten Wert auf die Selbständigkeit der Entscheidung.

Auf der Konferenz von 1902 hatte die englische Regierung die grössten Anstrengungen gemacht, die Kolonien zu direkten Geldbeiträgen zur Reichsverteidigung zu bestimmen. Sie verfolgte eine ausgesprochen zentralisierende Politik; ein Memorandum der Admiralität betonte mit zahlreichen Hinweisen auf die Geschichte der Seekriege, die strategischen Grundsätze der Einheit der Flotte und der Einheit des Kommandos. Es gelang der englischen Regierung, Australien zur Aufgabe des Flottenabkommens von 1887 zu bestimmen; Australien willigte in die bedingungslose Zahlung eines Geldbeitrags, ohne dass das australische Hilfsgeschwader künftig an die australischen Gewässer gebunden sein sollte. Auch Neuseeland und Natal bewilligten Geldbeiträge. Nur Kanada lehnte den Vorschlag ab und erklärte, eine eigene Flotte bauen zu wollen. Der neue Vertrag war in Australien sehr unpopulär, und in der Kolonie entstand der lebhafte Wunsch, ebenfalls eine eigene Flotte zu haben. Auf der Konferenz von 1907 sah sich die Admiralität genötigt, ihren prinzipiellen Widerspruch gegen selbständige koloniale Flotten fallen zu lassen; allein der volle Umschwung trat erst auf der subsidiären Wehrkonferenz von 1909 ein. Hier wurde den Kolonien nicht nur zugestanden, eigene Flotten zu bauen, sondern auch, dass diese im Frieden unter der ausschliesslichen Kontrolle der kolonialen Regierungen stehen sollen. Das kanadische Flottengesetz von 1909 behielt aber ausdrücklich der kanadischen Regierung die Entscheidung auch darüber vor, ob die kanadische Flotte an einem Kriege Englands oder des Reichs teilnehmen solle oder nicht. Auch das australische Flottengesetz von 1910 bestimmte, dass die Bundesregierung die australische Flotte der englischen Regierung zur Verfügung stellen „dürfe“. Allerdings bleibt die Einheit des Kommandos gewahrt, wenn die Kolonien beschliessen, an einem Kriege Englands teilzunehmen; in diesem Falle werden die kolonialen Flotten für die Dauer des Krieges unter die Befehle der Admiralität gestellt. Die künftige australische Flotte wird eine Einheit des englischen Geschwaders im Pacific bilden; dagegen hatte Kanada abgelehnt, die seinige dem englischen Geschwader zu inkorporieren.

Auf der letzten Reichskonferenz von 1911 wurden die Einzelheiten dieser Fragen festgesetzt. Namentlich wurde der Grundsatz aufgestellt und angenommen, dass die volle Kontrolle der Kolonialregierungen über ihre Flotten nur innerhalb der Grenzen der ihnen zugewiesenen Stationen ausgeübt werden kann; wenn koloniale Kriegsschiffe die Gewässer ihrer Station verlassen, stehen sie [318] in allen internationalen Angelegenheiten in einer bis ins Einzelne bestimmten Abhängigkeit von der englischen Regierung. – Das kanadische Flottengesetz wurde von dem neuen konservativen Ministerium Borden suspendiert, und 1913 wurde eine neue Vorlage eingebracht, welche sich dem Standpunkt der englischen Admiralität weit mehr annäherte. Aber da die Konservativen im Senat über keine Mehrheit verfügten, hat die Bill bisher keine Gesetzeskraft erlangt. Inzwischen hat Australien den ersten Teil seines Flottenprogramms durchgeführt; und neuerdings hat auch Neuseeland die Absicht bekundet, eine eigene Flotte zu bauen.

Die ganze Erörterung des imperialistischen Problems hat sich in der letzten Zeit auf die Wehrfragen und die auswärtige Politik des Reiches konzentriert. Man ist in England mehr und mehr geneigt geworden, den autonomen Kolonien einen grösseren Einfluss auf die auswärtige Reichspolitik zuzugestehen, und tatsächlich haben die Dominions bereits angefangen, die allgemeine Orientierung der englischen Politik zu beeinflussen. Das ist zunächst natürlich nur in ganz allgemeiner Weise möglich, aber es ist eine Tatsache, dass die neue Tendenz der englischen Politik, sich weniger als in dem letzten Jahrzehnt in den Fragen der europäischen Kontinentalpolitik zu interessieren, auch durch die Haltung der Dominions bestimmt worden ist. Der Einfluss, den England den Dominions bei der allgemeinen Orientierung seiner auswärtigen Politik gewährt, ist die Gegenleistung für die maritime Unterstützung, die es von ihnen erwartet; die maritime Unterstützung der Kolonien soll England den Ersatz für ein kontinentales Bündnis bieten. Was die künftige Gestaltung der Reichsverfassung betrifft, so erwartet man alles von einer organischen Entwicklung, indem die einzelnen, ad hoc vereinbarten Kooperationen zwischen Mutterland und Dominions massgebende Präzedenzfälle bilden würden, woraus eine Gewohnheit des Zusammenwirkens und schliesslich ein dauernder Verfassungszustand entstehen würde. Die Hoffnungen der Imperialisten knüpfen sich hauptsächlich an die seit 1903 bestehende Institution des Reichsverteidigungsausschusses (Imperial Defence Committee), der als eine rein beratende Behörde für Wehrfragen dem englischen Premierminister attachiert ist. Zu den Beratungen dieses Ausschusses sind wiederholt koloniale Minister geladen worden. Und besonders deutlich traten seine Wirksamkeit und die Möglichkeiten seiner Entwicklung vor Augen, als im Sommer 1912 der kanadische Premierminister mit ein paar seiner Kollegen an den Beratungen teilnahmen, um die von ihnen geplante Flottenvorlage mit den englischen Ministern zu beraten, wobei auch die Lage der auswärtigen Politik erörtert wurde. In jedem Falle ist eine Trennung der Kolonien in absehbarer Zeit schon aus dem Grunde nicht zu erwarten, weil sie in der Ära der modernen Weltpolitik ihre frühere Isolierung verloren haben und mit ihren gegenwärtigen Machtmitteln ihre selbständige politische und nationale Existenz nicht behaupten könnten.