Goethe’s wilde Wochen

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Titel: Goethe’s wilde Wochen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 16
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[16] Goethe’s wilde Wochen. Wenn wir den Mittheilungen den Engländers Lewes glauben dürfen, dessen Buch über Goethe wir bereits früher anzeigten, so trieb es Goethe in den ersten Wochen seiner Uebersiedelung nach Weimar toll genug. Im vollen Glanze der Jugend, der Schönheit und des Ruhmes trat er dort auf und eroberte im Sturme alle Herzen, selbst die, welche er, wie z. B. Wieland und die Herzogin Amalia, früher beleidigt hatte. Bei den lebenslustigen leichten Damen der genialen Periode, von denen Schiller schreibt: „Da ist beinahe keine, die nicht eine Geschichte hätte oder gehabt hätte, erobern nicht sie gern alle“, war er bald der erklärte Liebling, der wie ein Schmetterling von einer Blume zur andern flatterte und von Allen süßen Honig der Liebe sog. Er führte unter den Damen und den höheren Ständen das Schlittschuhlaufen ein – eine Kunst, die in der Residenz bisher als eine plebeje betrachtet worden – und arrangirte auf dem Schwanenteiche Nachtschlittenparthien mit Fackeln und Feuerwerk, bei denen die Herzogin und alle Damen maskirt erschienen. Dann wieder zum Entsetzen von ganz Weimar brutalisirte er, wie Wieland sagt, die bestialische Natur, stellt sich mit dem Herzoge Carl August auf den Markt, und beide knallten da stundenlang mit großen Hetzpeitschen um die Wette. Ein Herzog und ein Dichter auf offenem Markt! Das Verhältniß dieser beiden genialen Menschen ward bald ein brüderliches. Sie nannten sich „Du,“ schliefen zusammen in einem Zimmer, entliehen gegenseitig Tücher und Westen, ohne an’s Wiedergeben zu denken und tranken bei ihren Weingelagen den Sekt aus Schädeln, wie es Byron in seiner wildesten Zeit gethan. Das Lieblingswort des Tages war „unendlich.“ Das Genie verschlang „unendliche“ Würste. trank „unendlich,“ liebte „unendlich“ und schlief „unendlich.“ Aber so wilde Orgien und Nächte die beiden frühreifen Jünglinge auch durchbrachten – und daß sie es arg getrieben haben, beweist der scharf ermahnende Brief Klopstock’s, den Goethe so patzig beantwortete – so hatten Beide doch so große Zwecke und einen so mächtigen Willen, daß sie dabei moralisch nicht untergehen konnten. Die Ernennung Goethe’s zum Legationsrath mit Sitz und Stimme im Ministerium, die Seitens des Adels und der Beamtenwelt einen Protest hervorrief, den der neunzehnjährige Fürst so vortrefflich beantwortete,[1] war schon der Anfang einer ruhigern Periode, die, wenn auch nicht frei von Anfechtungen genialer Art, doch Extravaganzen, wie die früheren, nicht mehr so oft aufkommen ließ.


  1. „Das Urtheil der Welt ,“ schrieb er am Schluß seiner Erwiederung, „welches vielleicht mißbilligt, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setze, ohne daß er zuvor Amtmann, Professor, Kammerrath oder Regierungsrath wäre, ändert gar nichts. Die Welt urtheilt nach Vorurtheilen, ich aber sorge und arbeite, wie jeder Andere, der seine Pflicht thun will, nicht um des Ruhmes, nicht um des Beifalls der Welt willen, sondern um mich vor Gott und meinem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können.“