Gifthandel und Gifttrinker in England

Textdaten
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Titel: Gifthandel und Gifttrinker in England
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 752
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[752] Gifthandel und Gifttrinker in England. In England, wo die Mäßigkeitsvereine zu Gesellschaften für gänzliche Enthaltsamkeit von dem sich ausbildeten, was mit Feuerwasser, mit dem Hopfen des Gambrinus oder mit Vater Noah’s Weinrebe auch nur in verdünntester Stiefverwandtschaft steht, floriren bekanntlich die „Teatotaler“, d. h. totale Theetrinker, und leichtgläubige Gemüther glaubten lange, in dieser Weise wenigstens ein gutes Häuflein alter Sünder dem Verderben entrissen zu haben. Aber sie haben leider außer Augen gelassen, daß ihre Landsleute ein instinctmäßiges Talent für buchstäbliche Auslegungen haben und sich die Auslassungen im Enthaltsamkeitsgelübde bald zu Nutze machten. Bier, Wein und Feuerwasser rührten sie nicht an, aber – an Gifte, recht eigentliche Gifte, hatte der begeisterte Mäßigkeitsapostel Pater Mathew seiner Zeit freilich nicht denken können.

Auf Veranlassung der englischen Regierung hat jetzt ein Arzt, Dr. A. Taylor, an dieses fürchterliche, aber öffentliche Geheimniß gerührt und, was er entdeckt, dem Publicum vorgelegt. Beginnend mit der Angabe, daß die Mittel und Wege sich Gifte jeder Art zu verschaffen in England in unbeschränkter Anzahl vorhanden und Jedermann für drei Pence genug davon erhalten könne, um zwei ausgewachsene Leute auf stille und reinliche Weise aus der Welt zu fördern, verbreitet er sich über das in jedem Dorfe blühende Geschäft in betäubenden oder berauschenden Flüssigkeiten von tödtlicher Wirkung. Laudanum, eine Opiumtinctur, z. B. werde den Armen wie den Reichen, Alt und Jung mit unparteiischer Gleichgültigkeit von den profitliebenden Händlern credenzt. In sumpfreichen Districten des Landes prahlen die Apotheker und Quacksalber, welche sich selbst unter dem edlen Namen „Chemiker“ begreifen, damit, daß sie an jedem Sonnabend, dem Lohntage der Arbeiter, je drei- bis vierhundert Kunden mit solchem Getränk bedienen. Ein Ehemann beklagte sich Dr. Taylor gegenüber wegen der Verschwendung seiner Ehehälfte, welche seit ihrer Verheirathung gegen siebenhundert Thaler auf Mohnsaft vergeudet hätte! Händler in diesem Artikel gestanden, daß sie durchschnittlich zweihundert Pfund davon im Laufe eines Jahres loswürden. Und dies beschränke sich keineswegs auf Marschgegenden, wo Entschuldigungen hin und wieder darin gesucht werden, daß jener Saft verhütend gegen rheumatische Störungen des Nervensystems wirke! Tausende von Pfunden Opium und Laudanum werden auch jährlich selbst in Districten verkauft, wo Rheumatismus und verwandte Krankheiten unbekannt sind. Der Apotheker reiht am Sonnabend auf seinem Ladentisch zahllose auf Flaschen gezogene Giftsummen und Betäubungs-Drachmen an einander.

Die Orientalen verdammen die Flasche und die Bowle, aber sie entschädigen sich in anderer Selbstbetäubung. Und in England, wo 34,000 Menschen jährlich an den Folgen übermäßiger Trunksucht sterben, wird der sogenannte enthaltsame Theil der Bevölkerung durch Opium und Laudanum decimirt und durch gewisse verderbliche Mischungen, die unter ästhetischen Namen das Ohr täuschen und das Gehirn bestehlen. Ein anderer angesehener Arzt Englands, Johnson, sagte schon vor einem halben Menschenalter: „Bei uns fliehen die Armen vom Becher von Thon zum Kopfe voll Mohn“. Alljährlich ist der Export von Opium aus Indien und China nach England im Wachsen begriffen. Die Apotheker machen ein glänzendes Geschäft mit diesen Opiumpräparaten, ja in den Provinzen kann die Apotheke oft nur durch die Nachfrage nach Laudanum allein bestehn, versichert mein Gewährsmann.

Dr. Taylor läßt es nicht an einer erschütternden Nutzanwendung auf Morde, Todtschläge, Selbstmorde und tödtliche Unfälle fehlen. Unter letztern Kategorie und als Folge der ungehinderten Geschäfte mit Giften rechnet er die allgemein verkauften Insektengifte, die ganzen Familien von naschhaften Kindern das Leben gekostet hätten. Bleizucker, Grünspan, Zinnober sieht er in allen Ladenfenstern der Zuckerbäcker; gebe doch selbst der Arsenikhändler seinem Artikel eine schöne Farbe von Roth oder Grün, ehe er ihn dem Apotheker für dessen zierliche Büchsen ablasse. „Thörichte englische Mädchen, die davon gehört, daß steirische Bauern zwölf bis dreizehn Gran des Tages nehmen, zur Stärkung ihrer Athmungswerkzeuge, sind auf den Gedanken gekommen, sich auch zu arsenificiren, um einen schönen, reinen Teint zu erhalten.“ So lautet eine andere Stelle des Rapports an die Regierung und zählt viele Fälle von solcher Selbstvergiftung auf, über welche sich Todtenjuries die Köpfe zerbrochen. Man verwendet diese Gifte, um Bädern damit Wohlgeruch zu verleihen, Blumen zu verschönern, Briefe, Fächer, Handschuhe zu parfümiren und Riechfläschchen verführerisch zu machen – mit dem Geruch des Todes. Arsenik kommt centnerweise in den Detailhandel, Laudanum aber ist so billig geworden, daß man für einen Penny genug zum sicheren Selbstmord erstehen könnte.