Gesicht des Esdras
Gib mir Vertrauen, Herr,
auf daß ich mich nicht fürchte,
wenn ich der Sünder Strafgerichte schaue!
sie trugen ihn auf siebzig Stufen in die Hölle.
zwei Löwen lagen in den Toren;
aus Augen, Rachen, Nase
sprüht ihnen eine fürchterliche Flamme.
und sie durchschritten diese Flamme
und blieben unberührt davon.
Wer sind doch die,
die also sicher schreiten?
Gerechte sind’s;
bis in den Himmel drang ihr Ruhm;
bekleideten die Nackten
und hatten nur ein gut Verlangen.
und wollten in die Tore treten;
die Löwen aber rissen sie in Stücke
und dann verbrannte sie das Feuer.
Wer sind nur die?
Die Engel sprachen:
und die am Tag des Herrn mit Weibern sich versündigt.
Sei, Herr, den Sündern gnädig!
hier sah er Leute, die gemartert wurden.
die andern schlugen sie mit Feuergeißeln.
Schlagt auf sie schonungslos hinein!
Auf mir verübten sie ja ihre Missetaten.
Wer sind doch die,
die täglich so gefoltert werden?
die sind’s, die sich mit Eheweibern abgegeben…
sie wollten anderen gefallen
aus böser Lust.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
er sah ein Feuer
und Arme hingen drin und Weiber
und Engel schlugen sie mit Feuerkeulen.
Wer sind doch die?
Die sind’s,
die mit der eignen Mutter Schlimmes trieben.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
da sah er einen Kessel voll von Pech und Schwefel;
es wogte drin wie Meereswogen.
und wandelten in seiner Mitte auf den Feuerwogen
und priesen laut den Herrn,
als ob sie schon auf Tau und kühlem Wasser gingen.
Wer sind doch die?
Die Engel sprachen:
und vor den heiligen Priestern beichteten
und Almosen verteilten
und Sünden widerstanden.
und wollten auch hinüber;
da aber kamen Höllenengel
und tauchten sie in Feuers Glut.
„Erbarm dich unser, Herr!“;
er aber blieb erbarmungslos.
doch ward kein Leib geschaut,
des Feuers und der Qualen wegen.
Wer sind doch diese?
Die Engel sagten:
in allen ihren Lebenstagen;
sie nahmen keinen Fremdling auf,
verteilten keine Almosen
und hegten schlimm Gelüste
und also sind sie in den Qualen.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
und sah an einem finstern Orte einen Wurm,
der niemals stirbt;
er konnte seine Größe nicht beschreiben.
zog er den Atem ein,
dann flogen sie, wie Mücken, in sein Maul,
und atmete er aus,
dann kamen alle wiederum heraus
in andrer Farbe.
Wer sind doch die?
Sie sagten:
Die waren voll von Schlechtigkeit
und gingen ohne Beicht und Buße hin. –
und sie bedienten ihn von allen Seiten aus dem Feuer,
und seine Räte standen rings um ihn im Feuer.
Wer ist doch der?
Die Engel sprachen:
Es war der Mensch durch lange Zeiten König
und hieß Herodes;
er war es, der die Kinder tötete
zu Bethlehem in Juda um des Herren willen.
Gerecht hast du gerichtet, Herr. –
und Höllenengel schlugen sie mit Dornen in die Augen.
Wer sind doch die?
Die Engel sagten:
Sie haben falsche Wege Irrenden gezeigt.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
wie sie dem Tode nahe
mit Halseisen, fünfhundertpfündig, kamen.
Da fragte Esdras:
Wer sind doch die?
Die sind’s,
die vor der Hochzeit ihre Jungfrauschaft verloren.
und über sie ergoß sich glühend Blei und Eisen;
da fragte er:
Wer sind doch die?
Dies sind die Lehrer des Gesetzes;
denn sie befleckten Taufe und Gesetz des Herrn,
weil sie mit Worten lehrten,
jedoch nicht also taten
und darin werden sie gerichtet.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
von wunderbarer Größe, feuerglühend;
es wurden viele Könige und Fürsten dieser Welt darein geworfen.
Die sind es, die durch ihre Macht uns drückten
und unsere Kinder in die Sklaverei verschleppten.
von Pech und Schwefel brennen;
in diesen wurden Söhne eingeworfen,
die gegen Eltern ihre Hand erhoben
und die mit ihrem Munde sie beleidigt haben.
in diesen wurden viele Weiber eingeworfen;
da fragte er:
Wer sind doch die?
Die sind’s, die Kinder ehebrecherisch gebaren
und diese töteten.
Die Seelen, die du uns gegeben, Herr,
die haben jene uns genommen.
Wer sind nun diese?
Die Engel sagten:
Die sind’s, die ihre Kinder töteten.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
und sagten ihm:
Komm in den Himmel!
Beim Leben meines Herrn!
Ich komme nicht,
bevor ich nicht der Sünder Qualen all geschaut.
auf vierzig Stufen;
da sah er Löwen
und Hunde um die Feuerflamme liegen;
doch die Gerechten schritten durch sie hin
und gingen in das Paradies hinüber.
und allzeit waren ihre Wohnungen gar herrlich.
ward er zum Himmel hin entrückt
und eine Menge Engel kam;
sie sagten ihm:
Bitt für die Sünder doch den Herrn!
Dann setzten sie ihn vor des Herren Antlitz nieder.
Sei gnädig, Herr, den Sündern!
Es sprach der Herr:
Nach ihren Werken sollen sie empfangen, Esdras.
Du handelst an den Tieren milder als an uns,
ach Herr.
Sie nähren sich von Kräutern;
doch singen niemals sie dein Lob;
sie sterben hin und haben keine Sünde;
uns aber peinigst du im Leben und im Tod.
Ich schuf nach meinem Bild die Menschen, Esdras,
und ich befahl, sie sollten keine Sünde tun,
und dennoch haben sie gesündigt;
deshalb sind sie in Peinen.
durch Beicht und Reue und durch reichlich Almosen.
Was sollen die Gerechten tun, o Herr,
daß sie nicht zum Gerichte kommen?
Der Knecht, der gut an seinem Herrn gehandelt,
empfängt die Freiheit.
So kommen auch Gerechte in das Himmelreich.
Amen.
Erläuterungen
Das „Gesicht des Esdras“ bildet mit den Apokalypsen des Sedrach und des Esdras eine Gruppe, die mit 4 Esdras zusammenhängt. Charakteristisch ist die Fürsprache für die Sünder (11 u. a.). Die Bezeichnung der Gerechten als „Stärkste“ im „Gesicht des Esdras“ (4) weist auf essenischen Ursprung, vgl. Epiphanius Adv. haer. 1, 19 pg. 39: „Der Name der Ossener bedeutet die Stärksten“. Dafür spricht auch die Betonung des Almosengebens (26, 31, 64) und der Jungfräulichkeit (44). Ein christlicher Einschub liegt in der Herodesszene (37–39) vor. Er kennzeichnet sich durch das Fehlen der Fürsprache für die Sünder; dafür betont er die Gerechtigkeit der Strafe (39 aus Ps 119, 137). (G. Mercati, Note di letteratura biblica e chistiana antica 1901 [Studi e Testi 5], 61 ff.
4 Die „Stärksten“ Bezeichnung der Essener bei Epiphanius. 9 „am Sonntag“ steht im Manuskript über der Linie, späterer Einschub. 19 Verderbter Text, nach Apok. Esdr. 4, 22 zu lesen „und er sah Menschen an den Wimpern aufgehängt“; und „Weiber“ ist zu streichen. 27 s. Apok. Esdr. 4, 13. 34 s. Apok. Esdr. 4, 9. 37 s. Apok. Esdr. 4, 13. 62 s. Apok. Esdr. 1, 22, Sedrach 4.