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Titel: Apokalypse des Esdras
Untertitel: Esra-Apokalypse
aus: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel S. 126–137
Herausgeber: Paul Rießler
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert n. Chr.
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Dr. B. Filser
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Erscheinungsort: Augsburg
Übersetzer: Paul Rießler
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[126]
7. Apokalypse des Esdras

1. Kapitel: Die Himmelfahrt des Esdras
1
Rede und Offenbarung des Esdras,

des heiligen Propheten und Lieblings Gottes.

2
Am zweiundzwanzigsten des dreißigsten Jahres

befand ich mich in meinem Haus
und rief zum Höchsten:
Herr, tue mir die Ehre an,
daß ich um deine Geheimnisse wisse!

3
Da kam bei Nacht Erzengel Michael

und sagt zu mir:
Sei siebzig Wochen lang enthaltsam, Esdras, mein Prophet!
Ich fastete, wie er mich hieß.

4
Dann kam der Oberführer Raphael

und gab mir eine Lanze.

5
Da fastete ich zweimal sechzig Wochen;

Dann sah ich göttliche Geheimnisse
und Gottes Engel.

6
Ich sprach zu ihnen:

Ich will mit Gott jetzt rechten,
[um das Geschlecht der Christen,]
ob’s besser für den Menschen sei,
gar nicht geboren zu werden,
als in die Welt zu kommen.

7
Ich wurde in den Himmel aufgenommen

und sah im ersten Himmel eine große Engelschar,
und diese brachte mich zu den Gerichtsorten.

8
Ich hörte eine Stimme zu mir sprechen:

Erbarm dich unser, Esdras, du Erwählter Gottes!

9
Da fing ich an zu sprechen:

Weh über Sünder, wenn sie den Gerechten über Engeln schauen
und selber in der Feuerhölle sind!

10
Und Esdras sprach:

Erbarm dich deiner Hände Werke,
Mitleidiger und Vielbarmherziger!

11
Mich richte statt der Sünderseelen!

Denn besser ist es, eine Seele zu bestrafen,
als dem Verderben gleich die ganze Welt zu überliefern.

[127]
12
Da sagte Gott:

Ich schenke den Gerechten Ruhe in dem Paradies
und walte als Erbarmungsvoller.

13
Da sagte Esdras:

Warum beglückst du die Gerechten, Herr?

14
„Gleichwie ein Tagelöhner seine Zeit im Dienst verbringt,

so auch empfängt im Himmel der Gerechte seinen Lohn.“

15
Erbarm dich doch der Sünder!

Wir wissen ja, daß du barmherzig bist.

16
Da sagte Gott:

Ich habe keinen Grund, mich ihrer zu erbarmen.

17
Da sagte Esdras:

Sie können deinen Zorn nicht aushalten.

18
Da sagte Gott:

Das ist für solche.

19
[Und Gott sprach weiter:

Ich will dich haben so, wie Paulus und Johannes.]

20
Du gibst den unverletzten Schatz,

das Kleinod der Jungfräulichkeit,
des Menschen Schmuck,
mir unversehrt zurück.

21
Da sagte Esdras:

Viel besser wär’s, wenn Menschen nicht geboren würden,
viel besser, nicht zu leben.

22
Das unvernünftig Tier ist besser als der Mensch daran,

weil’s nicht in Strafe kommt.

23
Uns aber nimmst du her

und übergibst uns dem Gericht.

24
O weh den Sündern in der andern Welt!

Ihr Strafgericht ist ohne Ende,
die Flamme unauslöschlich.


2. Kapitel: Des Esdras Fragen
1
Als ich noch mit ihm redete,

kam Michael und Gabriel
[und alle die Apostel];
sie sprachen:

2
Gegrüßt seist du, getreuer Gottesmann!
3
Da sagte Esdras:

Auf, Herr!
Geh ins Gericht mit mir!

4
Gott sagt:

Ich schließe meinen Bund mit dir,
ja zwischen mir und dir,
daß ihr ihn weiter pflegt.

5
Da sagte Esdras:

Wir möchten hier vor deinen Ohren rechten!

[128]
6
Gott sagt:

Fragt euren Vater Abraham,
was es doch heiße,
wenn schon ein Sohn mit seinem Vater rechtet!
Dann komm und recht mit uns!

7
Da sagte Esdras:

So wahr der Herr nur lebt!
Ich hör nicht auf,
mit dir zu rechten [wegen des Geschlechtes der Christen].

8
Wo bleibt dein uraltes Erbarmen, Herr?

Wo deine Langmut?

9
Gott sagt:

So wie ich Nacht und Tag gemacht,
so schuf ich den Gerechten und den Sünder;
doch es geziemte sich,
sich so, wie ein Gerechter, zu betragen.

10
Da fragte der Prophet:

Wer schuf zuerst den Adam,
den Ersterschaffenen?

11
Da sagte Gott:

Dies taten meine reinen Hände;
dann setzt ich ihn ins Paradies,
den Ort des Lebensbaumes zu behüten.

12
Da aber überließ er sich dem Ungehorsam

und aß davon in Sünde.

13
Da fragte der Prophet:

Ward er von einem Engel nicht bewacht?

14
Er sprach:

Es ward von Cherubim sein Leben wohl bewacht
fürs ewige Leben.

15
„Wie wurde er, der von den Engeln ward behütet,

betrogen?
Du ließest alle hier zusammenkommen.
Nun horch auf das, was ich dir sage!

16
Wenn du ihm Eva nicht gegeben hättest,

dann hätte sie die Schlange nicht betrogen.

17
Du rettest, wen du willst,

und du vernichtest, wen du willst.“

18
Dann sagte der Prophet:

Mein Herr!
Laßt uns zum zweiten Male rechten!

19
Gott sagt:

Ich lasse über Sodom und Gomorrha Feuer regnen.

20
Da sagte der Prophet:

Du handelst recht an uns.

21
Gott sagt:

Es übersteigen eure Sünden meine Milde.

22
Da sagte der Prophet:
[129]

Denk an die Schriften!
Mein Vater, der du einst Jerusalem vermessen
und dieses wieder aufgerichtet hast!

23
Erbarm dich, Herr, der Sünder!

Erbarm dich deiner Kreatur!
Hab Mitleid doch mit deinen Werken!

24
Da dachte Gott an die, die er erschaffen,

und sprach zu den Propheten:
Weshalb sollt ich mit ihnen Mitleid haben?

25
Sie tränkten mich mit Essig und mit Galle

und dann bereuten sie es nicht einmal.

26
Da sagte der Prophet:

Enthülle deine Cherubim!
Dann wollen wir zusammen rechten.

27
Zeig mir doch den Gerichtstag, wie er ist!
28
Gott sagt:

Du machst viel Umschweife, o Esdras.

29
Es ist ja der Gerichtstag so,

daß auf die Erde dann kein Regen fällt.

30
An jenem Tag ist ja ein mild Gericht.
31
Da sagte der Prophet:

Ich hör nicht auf, mit dir zu rechten,
bevor ich nicht den Tag des Endes sehe.

32
Gott sagt:

Zähl doch die Sterne und den Sand des Meeres!
Kannst du dies zählen,
dann kannst du mit mir rechten.


3. Kapitel: Offenbarung des Jüngsten Tages
1
Da sagte der Prophet:

Du weißt es, Herr,
daß ich ein menschlich Fleisch besitze.

2
Wie kann ich da des Himmels Sterne,

den Sand des Meeres zählen?

3
Gott sagt:

Mein auserwählter Sohn!
Es weiß kein Mensch von jenem großen Tag
und der Erscheinung für das Weltgericht.

4
Nur dir zuliebe, mein Prophet,

red ich von jenem Tag.
Ich sag dir aber nicht die Stunde.

5
Da sagte der Prophet:

Sag, Herr, mir auch die Jahre!

6
Gott spricht:

Seh ich, daß die Gerechtigkeit der Welt sich mehrt,
dann habe ich mit ihnen Nachsicht.
Wenn nicht, dann streck ich meine Hände aus

[130]

und pack die Welt in den vier Ecken,
bring alle ins Tal Josaphat,
und dann vertilge ich das menschliche Geschlecht.
Und nicht mehr ist die Welt.

7
Da fragte der Prophet:

Was ist’s denn mit dem Ruhm für deine Rechte?

8
Gott spricht:

Von meinen Engeln werde ich gepriesen.

9
Da fragte der Prophet:

Herr! Hast du dies bedacht,
warum schufst du den Menschen?

10
Du sagtest ja zu unserm Vater Abraham:

„Ich mache deine Nachkommen so zahlreich,
wie’s an dem Himmel Sterne gibt und Sand am Meer.“
Wo bleibt doch deine Frohbotschaft?

11
     Gott spricht:

     Zuerst mach ich ein Erdbeben
     zum Untergang der Vierfüßler
     wie auch der Menschen.

12
     Und wenn ihr sehet,

     daß in den Tod der Bruder seinen Bruder überliefert
     und Kinder gegen Eltern sich erheben
     und eine Gattin ihren eignen Mann verläßt,

13
     und wenn ein Volk das andere bekämpft,

     dann wisset, daß das Ende nahe ist!

14
     Dann schont kein Bruder seinen Bruder,

     kein Mann sein Weib,
     die Kinder nicht die Eltern,
     die Freunde nicht die Freunde,
     der Diener nicht den Herrn.

15
     Dann kommt der Widersacher selber aus der Hölle zu den Menschen

     und zeigt den Menschen vieles.

16
Was soll ich dir doch, Esdras, tun

und mit dir rechten?


4. Kapitel: Des Esdras Höllenfahrt
1
Da sagte der Prophet:

Ich höre, Herr, nicht auf, mit dir zu rechten.

2
Gott spricht:

Zähl doch die Blüten auf der Erde!

3
Wenn du dies kannst,

alsdann vermagst du auch mit mir zu rechten.

4
Da sagte der Prophet:

Ich kann’s nicht, Herr;
ich habe einen Menschenleib

[131]

und dennoch höre ich nicht auf,
mit dir zu rechten.

5
Ich möchte, Herr, der Hölle tiefere Teile sehen.
6
Gott spricht:

So steig hinab und schau!

7
Er gab mir Michael und Gabriel

und vierunddreißig andere Engel mit.

8
     Dann stieg ich fünfundachtzig Stufen hinab;

     sie aber führten mich noch weitere 500 Stufen abwärts.

9
     Da sah ich einen Feuerthron;

     auf diesem saß ein Greis
     und sein Gericht war unbarmherzig.

10
     Da fragte ich die Engel:

     Wer ist doch dies?
     Und was ist sein Vergehen?

11
     Sie sagten mir:

     Dies ist Herodes,
     der eine Zeitlang König war
     und der die Knäblein von zwei Jahren und darunter töten ließ.

12
     Da sagte ich:

     Weh seiner Seele!

13
     Dann führten sie mich wieder dreißig Stufen abwärts;

     da sah ich Feuergluten,
     in ihnen eine Menge Sünder.

14
     Und ich vernahm auch ihr Geschrei;

     jedoch Gestalten sah ich nicht.

15
     Da führten sie mich viele Stufen abwärts;

     [ich konnte sie nicht zählen.]

16
Da sah ich alte Menschen dort

mit Feuerstricken in den Ohren.

17
Da frug ich: Wer sind diese?

Und was ist ihre Sünde?

18
Sie sagten mir:

Dies sind die Ungehorsamen.

19
Dann führten sie mich wieder andere 500 Stufen abwärts.
20
Daselbst erblickte ich den Wurm, der niemals schläft,

sowie das Feuer, das die Übeltäter brennt.

21
Dann führten sie mich auf den Grund der Grube,

und dort sah ich des Abgrundes zwölf Tore.

22
     Dann führten sie mich in den Süden;

     dort sah ich einen Menschen an den Augenlidern aufgehängt;
     die Engel schlugen ihn mit Geißeln.

23
     Da frug ich: Wer ist dies?

     Und was ist sein Vergehen?

24
     Da sprach zu mir der Oberführer Michael:

     Dies ist ein Mutterschänder;
     man ließ ihn für ein kümmerlich Gelüste aufhängen.

25
     Dann führten sie mich in den Norden;
[132]

     dort sah ich einen Mann in Eisenriegeln.

26
     Da frug ich: Wer ist dies?

     Er sprach zu mir:

27
     Es ist dies, der gesagt:

     Ich bin der Gottessohn;
     die Steine machte ich zu Brot,
     zu Wein das Wasser.

28
     Da sagte der Prophet:

     Herr! Sag mir, wie er aussieht!
     Ich will’s dem menschlichen Geschlecht vermelden,
     auf daß sie ihm nicht glauben.

29
     Er sprach zu ihm:

     Es gleicht sein Angesicht dem eines Wilden.
     Sein rechtes Auge gleicht dem Morgenstern;
     das andere ist unbeweglich.

30
     Sein Mund ist eine Elle breit

     und spannenlang sind seine Zähne.

31
     Und seine Finger sind wie Sicheln;

     zwei Spannen lang sind seine Fußtapfen,
     und auf der Stirne steht geschrieben „Antichrist“.

32
     Bis zu dem Himmel wurde er erhöht

     und wird bis in die Hölle fahren.

33
     Bald wird er wie ein Kind,

     bald wie ein Alter sein.

34
     Da sagte der Prophet:

     Wie duldest du, o Herr,
     daß so das menschliche Geschlecht betrogen wird?

35
     Da sagte Gott:

     Hör, mein Prophet!
     Er wird ein Kind und auch ein Greis;
     doch niemand schenkt ihm Glauben,
     daß er mein Sohn, mein vielgeliebter, sei.

36
     Nach diesem wird Trompetenschall vernommen;

     die Gräber öffnen sich;
     die Toten stehen, unvergänglich, auf.

37
     Dann hört der Widersacher eine fürchterliche Drohung,

     und er verbirgt sich in der äußersten Finsternis.

38
     Alsdann vergeht der Himmel und die Erde und das Meer.
39
     Alsdann verbrenne ich den Himmel an die achtzig Ellen,

     die Erde an achthundert.

40
     Da fragte der Prophet:

     Was hat der Himmel denn gefehlt?

41
     Da sagte Gott:

     Es ist das Übel unterm Himmel.

42
     Da sagte der Prophet:

     Was hat die Erde, Herr, gefehlt?

43
     Da sagte Gott:

     Es hört der Widersacher meine fürchterliche Drohung,

[133]

     und er verbirgt sich daraufhin;
     dann schmelze ich die Erde ein,
     mit ihr des menschlichen Geschlechtes Widersacher.


5. Kapitel: Höllenstrafen
1
     Da sagte der Prophet:

     [Erbarm dich des Geschlechts der Christen, Herr!]

2
     Da sah ich, wie ein Weib da hing

     und wie vier Tiere an ihren Brüsten tranken.

3
     Da sagten mir die Engel:

     Die war zu mißgünstig,
     um Milch zu spenden;
     sie warf die Kinder lieber in die Flüsse.

4
     Ich sah ein fürchterliches Dunkel

     und eine Nacht,
     die weder Mond, noch Sterne hatte.

5
     Dort ist kein Junger und kein Alter,

     kein Bruder mit dem Bruder
     und keine Mutter mit dem Kind,
     kein Weib mit seinem Mann.

6
Da weinte ich und sprach:

O Herr! Ach Herr!
Erbarme dich der Sünder!

7
Als ich so betete,

kommt eine Wolke her
und nimmt mich mit
und bringt mich wieder in den Himmel.

8
Dort sah ich viele Strafgerichte;

ich weinte bitterlich und sprach:

9
Viel besser wär es für den Menschen,

wenn er im Mutterschoß verbliebe.

10
Da schrien, die im Strafort sich befanden:

Seitdem, daß du hieher kamst, Heiliger Gottes,
erfuhren wir eine kurze Milderung.

11
Da sagte der Prophet:

Heil denen,
die ihr eigenes Vergehen beweinen!

12
Da sagte Gott:

Hör, Esdras, mein Geliebter!
Sowie der Landmann Brotfrucht in die Erde streut,
so senkt der Mann auch seinen Samen in des Weibes Land.

13
Im ersten ist’s noch ganz beisammen;

im zweiten krümmt es sich;
im dritten wird’s behaart;
im vierten wachsen Nägel;
im fünften nährt es sich von Milch;
im sechsten wird es fertig und bekommt die Seele;

[134]

im siebten wird es völlig ausgestattet;
im neunten öffnen sich des Muttermundes Riegel;
es kommt gesund zur Welt.

14
Da sagte der Prophet:

Viel besser wär es für den Menschen,
wenn dieser nicht geboren würde.

15
O weh dem menschlichen Geschlecht

dann, wenn du zum Gerichte kommst!

16
Da sagte ich zum Herrn:

Weswegen, Herr, schufst du den Menschen
und übergabst ihn dem Gericht?

17
Da sagte Gott mit hocherhobener Stimme:

Ich werde mich der Übertreter meines Bundes nicht erbarmen.

18
Da sagte der Prophet:

Wo bleibt, Herr, deine Güte?

19
Da sagte Gott:

Des Menschen wegen schuf ich alles,
nun aber hält der Mensch nicht das, was ich gebiete.

20
Da sagte der Prophet:

Herr! Zeige mir die Strafen und das Paradies!

21
Da brachten mich die Engel in den Osten;

ich schaute dort den Lebensbaum.

22
Ich sah auch dort den Henoch und Elias,

den Moses, [Petrus, Paulus, Lukas und Matthias]
und alle die Gerechten und die Patriarchen.

23
Dort sah ich auch den Aufbewahrungsort der Luft,

der Winde Wehen und des Eises Kammern
sowie die ewigen Strafen.

24
Ich sah, wie dort ein Mensch an seinem Schädel hing.
25
Man sagte mir:

Er hat die Grenzsteine verrückt.

26
Ich sah dort große Strafen;

da sagte ich zum Herrn:
O Herr! Ach Herr!
Wer ist der Mensch, der nie im Leben sündigte?

27
Da führten sie mich tiefer in die Hölle;

ich schaute, wie die Sünder alle weinten, klagten, trauerten.

28
Ich brach in Tränen aus,

als ich das menschliche Geschlecht in solcher Strafe sah.


6. Kapitel: Des Esdras Sterben
1
Darauf spricht Gott zu mir:

Kennst du die Namen jener Engel, Esdras,
die da dem Ende vorstehen?

2
Es sind dies Michael, Gabriel, Uriel, Raphael,

Gabuthelon, Aker, Arphugiton, Bebur, Zebuleon.

3
Darauf kam eine Stimme zu mir:
[135]

Komm, Esdras, mein Geliebter! Stirb!
Gib mir dein Unterpfand!

4
Da fragte der Prophet:

Wie könnt ich meine Seele denn hinausbringen?

5
Die Engel sagten:

Wir können durch den Mund sie gut herausbringen.

6
Da sagte der Prophet:

Ich sprach von Mund zu Mund mit Gott;
da geht sie nicht hinaus.

7
Die Engel sagten:

Dann wollen wir sie durch die Nase führen.

8
Da sagte der Prophet:

Den Wohlgeruch des Herrn roch meine Nase.

9
Die Engel sagten:

Dann bringen wir durch deine Augen sie hinaus.

10
Da sagte der Prophet:

Es sahen meine Augen Gottes Rückseite.

11
Die Engel sagten:

Dann bringen wir sie durch dein Haupt hinaus.

12
Da sagte der Prophet:

Ich wandelte mit Moses auf dem Berge;
von da geht sie deswegen nicht heraus.

13
Die Engel sprachen:

Dann bringen wir durch deine Zehenspitzen sie hinaus.

14
Da sagte der Prophet:

Es haben meine Füße den Altar umschritten.

15
Da gingen unverrichteter Sache die Engel weg und sagten:

Wir können, Herr, nicht seine Seele nehmen.

16
Da sagte er zu seinem eingeborenen Sohn:

Mein lieber Sohn!
Geh du hinab mit einer großen Engelschar
und nimm die Seele meines lieben Esdras in Empfang!

17
Da nahm der Herr die große Engelschar

und sagte zum Propheten:
Gib mir das Pfand, das ich dir einstens gab!
Es liegt die Krone dir bereit.

18
Da sagte der Prophet:

Herr! Nimmst du meine Seele mir,
wer bleibt dir dann noch übrig,
fürs menschliche Geschlecht zu rechten?

19
Da sagte Gott:

Du bist von Erde, sterblich.
Recht nicht mit mir!

20
Da sagte der Prophet:

Ich hör nicht auf, zu rechten.

21
Da sagte Gott:

Gib jetzt dein Pfand zurück!
Die Krone liegt für dich bereit.

[136]
22
Komm! Stirb,

damit du sie erlangst!

23
Alsdann fing unter Tränen der Prophet zu sprechen an:

O Herr! Was nützt es, wenn ich mit dir rechte?
Ich muß jetzt in die Erde sinken.

24
Weh! Weh!

Ich werde von den Würmern aufgefressen.

25
Ach weinet über mich,

ihr Heiligen und Gerechten alle,
der soviel rechtete
und nun dem Tode überliefert wird!

26
Weint über mich,

ihr Heiligen und Gerechte alle,
daß ich zur Unterwelt jetzt eingehe!


7. Kapitel: Gebet des Esdras
1
Da sagte Gott zu ihm:

Hör, Esdras, mein Geliebter!
Ich bin unsterblich
     [und doch nehm ich das Kreuz auf mich,
     und ich verkostete Essig und Galle;
     ich ward ins Grab gelegt.

2
     Dann aber ließ ich meine Auserwählten auferstehen;

     den Adam rief ich aus der Unterwelt,
     damit das menschliche Geschlecht den Tod nicht fürchte.]

3
Das, was von mir herstammt,

die Seele, geht zum Himmel;
das, was von Erde, der Leib,
geht wiederum zur Erde,
von der er ward genommen.

4
Da sagte der Prophet:

Weh! Weh! Was soll ich tun?
Ich weiß es nicht.

5
Darauf begann der selige Esdras so zu beten:

Du ewiger Gott!
Du Schöpfer aller Kreatur!
Du maßest mit der Spanne den Himmel,
die Erde mit der hohlen Hand.

6
Du fährst auf Cheruben;

du ließest auf dem Feuerwagen
zum Himmel den Propheten Elias fahren.

7
Du gibst die Nahrung jedem Fleischeswesen;

dich fürchtet alles
und schauert vor dem Antlitz deiner Macht.

8
Erhöre mich, der ich so oft gerechtet!
9
Gib allen, die dies Büchlein abschreiben

und es behalten

[137]

und meines Namens sich erinnern
und die mein Andenken verwirklichen,
gib ihnen Segen von dem Himmel her!

10
Und segne ihn in allem

so, wie das Ende Josephs!

11
Gedenk nicht seiner alten Sünden

am Tage des Gerichtes!

12
Wer aber diesem Buche keinen Glauben schenkt,

der wird verbrannt,
wie Sodom und Gomorrha.

13
Und eine Stimme kam zu ihm:

Mein lieber Esdras!
Um was du batest,
will ich an jeglichem erfüllen.

14
Da übergab er sogleich seine hehre Seele

mit vielem Ruhm am 18. Oktober.

15
Und sie begruben ihn mit Weihrauch und mit Psalmen;

es teilt sein hehrer, heiliger Leib beständig aus
der Seele und des Leibes Kräftigung
an die, die ihm aus Liebe zueilen.

16
[Es ziemt die Ehre, Macht, Verehrung, Anbetung

dem Vater, Sohn und Heiligen Geist
jetzt, immer und in alle Ewigkeiten. Amen.]


Erläuterungen

[1273]
7. Zur Apokalypse des Esdras

Diese Apokalypse ist nicht einheitlich; sie weist eine christliche Überarbeitung auf. Der alte jüdische Grundstock besteht aus den Stücken 1,1–3,10; 3,16 bis 4,8; 4,16–21; 5,6–6,2. Das christliche Stück besteht aus den Einschüben 3,11–15; 4,9–15; 4,22–5,5; 6,3–7,16. Beim Grundstock schimmert noch die hebräische Sprache durch, so 1,20 wörtlich (das Kleinod der Jungfräulichkeit,) der Menschen Mauer“; hier liegt Verwechslung von madar „Schmuck“ mit gader „Mauer“ vor. 2,6 „(ein Sohn) rechtet in dem Vater“; hebr. b bedeutet sowohl „in“ als „mit“, was allein hier paßt. 2,12 wörtlich „er tat dies in Sünde“; hier ist barah „essen“ mit bara „tun“ verwechselt. 4,21 wörtlich „auf den Boden des Verderbens“, schachat 1. „Verderben“ 2. „Grube“, was hier paßt. 5, 6. 16. 26, das doppelte „Herr“ despota Kyrie entspricht genau dem hebr. adonaj jehowa. 23 wörtlich „Bestrafung der Luft“; pekuddah 1. „Bestrafung“ 2. „Dienst“, 3. „Behälter“, was hier paßt. Dazu kommen unchristliche Züge, so 1, 16 Gottes Unbarmherzigkeit, 2, 6 die Berufung auf Abraham, 17 die strenge essenische Präedestinationslehre. Der Grundstock berührt sich enge mit 4 Esdras in den Zweifeln an Gottes Gerechtigkeit und in den Klagen wider Gott (s. C. Tischendorf, Apocalypses apocryphae 1866, 24 ff).

  • 1: 3 wörtlich „den Propheten E.“, Fehler statt Vokativ. 6 Christlicher Einschub, der nicht in den Zusammenhang paßt. 10 Diese Fürbitte ist echt jüdisch.
  • 2: 1 Christl. Einschub. 6 Abraham hat die Jurisdiktion über seine Nachkommen, auch über den fragenden Esdras. 7 Christl. Einschub, der nicht in den Zusammenhang paßt. 19 Vielleicht eine Lücke „ich lasse über euch, wie einst über Sodoma, Feuer regnen.“ 22 Zach 2, 5 ff. 25 Is 5, 2. 4
  • 3: 4 Matth 24, 36, Mark 13, 34 „von jenem Tag und der Stunde weiß niemand“. 6 Joel 4, 2. 12 11–16 Christl. Teil. 14 Mark 13, 12
  • 4: 8–15 Christl. Teil. 27 Nachäffung der Wunder Christi.
  • 5: 17 s. Prov 9, 3. 23 Henoch 17, 3; 18, 1.
  • 6: 2 Die rätselhaften Namen sind drei Beinnamen zu den ebengenannten Engeln. Gabutelon Aker ist wohl griechisches Apatelon akairos „der trügerische Gegner“, Arphugiton = Harpago-ktonos „Der Räubertöter“, Bebur Zebuleon = Bebros Diabolon „Vertilger der Teufel“. Aus der Verstümmelung dieser Ausdrücke muß man auf eine griechische Vorlage des hebräischen Grundstockes schließen. 3 Christl. Teil. 16 Im Testament Abrahams ist es Michael, der zum Empfang der Seele abgesandt wird.
  • 7: 5 Is 40, 12 LXX

Anmerkungen (Wikisource)

Siehe auch folgende Artikel aus Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft zu dem hier dargebotenen Text: