Geschichte eines deutschen Liedes

Textdaten
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Autor: Josef Bletzacher
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Titel: Geschichte eines deutschen Liedes
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Stille Nacht! Heilige Nacht!
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Geschichte eines deutschen Liedes.

 „Ein Veilchen auf der Wiese stand,
 Gebückt in sich und unbekannt:
 Es war ein herzigs Veilchen.“
 (Goethe – Mozart)


Wir Deutsche haben eine stattliche Reihe von patriotischen Liedern aufzuweisen, denen in der Geschichte der politischen Entwicklung unseres Vaterlandes eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen sein dürfte.

Das große schleswig-holsteinische Sängerfest, das im Sommer 1844 in der Stadt Schleswig gefeiert wurde, hat mehr für die Befreiung dieses Landes gethan als alle Diplomaten und Staatsmänner zusammen.

„Schleswig-Holstein, stammverwandt“, das Lied, welches jene zweitausend Sänger zum ersten Male sangen, fuhr wie mit einem elektrischen Schlage durch die Bevölkerung des Landes, es errang noch am selben Abend – 24. Juli – die Würde eines Nationalgesanges und stand als eine unvertilgbare Verwahrung gegen alles Dänenthum und als einer der gefährlichsten Feinde desselben da.

Der kritische Realpolitiker schüttelt vielleicht sein Haupt und meint, auch ohne dieses Lied wären die Ereignisse so gekommen, wie sie schließlich kommen mußten, denn mit Singen allein sei in der Politik noch nie etwas erreicht worden!

Gewiß! – wenn es zum Handeln kommt, dann ist das richtig. Man kann nur Gleiches mit Gleichem bekämpfen, hunderttausend Repetirgewehre greifen mehr durch als alle Sängerfeste. Aber die Welt würde sich doch sehr täuschen, wenn sie vergessen wollte, daß der Geist unserer Dichter und Sänger unseren Armeen voranzog und ihnen den Weg gezeigt hat.

Lied wird That
Frueh oder spat!

Auf Arndts bereits 1813 ausgesprochene Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ erfolgte 57 Jahre später die Antwort und sie lautete: „Das ganze Deutschland!“ Die „Wacht am Rhein“ hat im letzten Kriege Millionen von Deutschen begeistert, und das Schönste an Schneckenburgers Dichtung und an Wilhelms Musik (zu der ein anderer Wilhelm den Takt und – den Feind schlug) war: „Fest stand sie und treu, die Wacht am Rhein“. –

Lied wird That
Frueh oder spat!

Die wahre Kunst hat ein Johannesamt, sie hat Prophetenaugen, sie ist eine ethische Macht, es schuf sie Gott, auf daß sie die Welt entflamme! –

Das neuerstandene Deutsche Reich besitzt eigentlich keinen Gesang, der strenggenommen als Volkshymne gelten könnte. Das offizielle „Heil Dir im Siegerkranz“ hat aus verschiedenen Gründen keinen rechten Anspruch auf die Bezeichnung Nationalhymne, zumal seine musikalische Form einem fremden Lande entlehnt ist, nämlich England (dem „God save the king“ von Carey, 1750). Ja es scheint geradezu eine berechtigte Eigenthümlichkeit der hervorragendsten politischen Dichtungen zu sein, daß sie ihre Sangesweise bei einem anderen Volke suchen und – finden.

Die Marseillaise, „das revolutionäre Tedeum“, wie sie Goethe nannte, hat ihre weltgeschichtlich gewordene Melodie einer Messe entnommen, die der deutsche Musiker Hofkapellmeister Holtzmann 1776 komponirt hatte, und es ist das Verdienst der „Gartenlaube“, diese Thatsache durch J. Hamma (Jahrgang 1861, Seite 256) zuerst und endgültig festgestellt zu haben. Holtzmann hat es sich wohl gewiß nicht träumen lassen, daß sein, „Credo“ dereinst den Feuerworten des französischen Sturmliedes brausende Fittiche leihen würde.

Im Deutschen Reich hat meines Erachtens noch immer den meisten Anspruch auf die Bezeichnung als „Nationalhymne“ Hoffmanns von Fallersleben prächtige Dichtung „Deutschland, Deutschland über alles“, aber diese wird wieder ausschließlich nach der Melodie – der östereichischen Volkshymne gesungen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß patriotische Gesänge über die Grenzen ihres Landes, oder richtiger gesagt, ihrer Nationalität nicht hinausgehen.

Bedeutend weiter ist der Kreis schon beim religiösen Liede, das, über Staaten hinausgreifend, die Bekenner einer Konfession bindet; aber es sind doch verhältnißmäßig nur wenige geistliche Gesänge, welche Katholiken und Protestanten gemeinsam haben.

Zu diesen wenigen gehört einer, der füglich auf die Bezeichnung „Weltlied“ Anspruch erheben darf, der um die Weihnachtszeit in tausend und abertausend Kirchen, Schulen und Wohnstätten, vom Palast bis zur Hütte, gesungen wird, der jung und alt erhebt, weil er in aller Herzen Friede und Freude ausgießt, der mit der so echt deutschen Christbaumfeier unzertrennlich verbunden ist und dessen Anfangsworte lauten: „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Die Männer, die uns dieses Lied geschenkt haben, verdienen es wohl, daß ihr Name genannt und ihr Andenken dem deutschen Volke erhalten bleibe.

Das kleine, aber so herrliche Salzburger Land, dem die deutsche Kunst ihre zwei großen M (Mozart und Makart) zu danken hat, ist auch die Heimath unseres Liedchens; der Dichter desselben ist der katholische Priester Joseph Mohr, der, ein Sohn des Musketiers Franz Joseph Mohr, am 11. Dezember 1792 in der Stadt Salzburg geboren wurde. Der kleine Joseph erhielt frühzeitig Musikunterricht und wurde als Sängerknabe in das fürsterzbischöfliche Kapellhaus aufgenommen, das der berühmteste von uns Kapellknaben, – denn auch der Schreiber dieser Zeilen gehörte einst diesem Institute an – Karl Maria von Weber, kurz vorher verlassen hatte. Mit Eintritt des Stimmwechsels schied Mohr aus dem Kreise der Domsänger, studierte an dem damals königlich bayerischen Lyceum zu Salzburg Theologie und wurde im Jahre 1815 zum Priester geweiht.

Als Coadjutor lebte er auch zu Oberndorf an der Salzach, und dort war es, wo er das Weihnachtslied dichtete: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Joseph Mohr starb als Vikar zu Wagrain – nicht Wagram! – im Pongau am 4. Dezember 1848.

Und nun der Komponist?

Es war ein armer Weberssohn, 1788 zu Hochburg im Innviertel geboren, und hieß Franz Gruber. Er erlernte das Handwerk seines Vaters und saß bis zu seinem 18. Lebensjahr hinter dem Webstuhl. Aber besondere Neigung zur Musik führte ihn nach Burghausen, wo er beim Organisten Hartdobler Unterricht im Klavierspielen sowie im Generalbaß erhielt und sich als ebenso fleißig wie talentvoll erwies.

Franz Gruber widmete sich dem Schulfach, wurde 1806 als Lehrer zu Armsdorf angestellt und versah nebenbei den Dienst eines Organisten in der nahen St. Nikolauskirche zu Oberndorf; 1833 erhielt er die Stelle eines Chorregenten an der Stadtpfarrkirche zu Hallein, förderte das Musikleben in dem alten Salzstädtchen auf erfreuliche Weise, war seinen zwölf Kindern ein braver, sorgender Vater und starb allgemein betrauert am 7. Januar 1863.

Soviel des Biographischen! Nun einiges über das „wann und wie!“

Am Heiligen Abend des Jahres 1818 kam Mohr zu seinem Freunde Gruber und überreichte diesem das eben fertiggestellte Gedicht: „Stille Nacht, heilige Nacht“ mit der Bitte, dasselbe in Musik zu setzen; willig ging Gruber darauf ein, und in überraschend kurzer Zeit war das Liedchen fertig. Mohr besaß eine wunderschöne Tenorstimme und sang noch in jener Christnacht das Lied in der St. Nikolauskirche zu Oberndorf. Der verständnisvolle Vortrag des Sängers sowie die einfach zum Herzen gehende, im besten Sinne volksthümliche Melodie machte auf alle Anwesenden einen großen, ergreifenden Eindruck. Und nun beginnt unser Liedchen ein Wanderleben, so merkwürdig, so interessant, wie man es kaum glauben sollte!

Nicht nur Bücher, sondern auch Lieder haben ihre Schicksale! Und das Merkwürdigste an demjenigen unseres Weihnachtsliedes ist, daß F. Gruber seine Komposition nie veröffentlicht hat; sie wurde im Salzburger Land und im nahen Bayern hier und da nach Abschrift, meist aber nach dem Gehör gesungen.

In Tirol wurde unser Christkindellied aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst durch den Orgelbauer Mauracher aus Fügen bekannt, der am Ende des Jahres 1818 die Orgel in der St. Nikolauskirche zu Oberndorf ausbesserte und dabei das Lied in jener Christnacht von Mohr hatte singen hören.

Kurz vor Weihnachten 1833 kamen die vier Geschwister Straßer aus dem Zillerthal nach Leipzig, trugen das „Stille Nacht“ dem Kantor an der katholischen Kirche Alscher vor und sangen es dann auch in der Christmette. R. Friese in Dresden ließ das Lied den trefflichen Natursängern treu nachschreiben und Dr. Gebhardt nahm es in den „Musikalischen Jugendfreund“ auf, dem bald Kocher in seiner „Zionsharfe“ folgte. Leider hat sich bei dieser Frieseschen Nachschrift ein Fehler eingeschlichen, auf den ich später zu reden kommen werde.

Nun ging es mit Riesenschritten vorwärts; dem Süden Deutschlands, wo das Lied eine fast beispiellose Verbreitung gefunden hatte, folgte bald der Norden; anfangs der vierziger Jahre war dasselbe in Niedersachsen schon allgemein bekannt, in Berlin sorgte besonders der königliche Domchor für seine Verbreitung, ja dieser schlichte Hirtensang war geradezu das Lieblingslied des kunstsinnigen Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der es sich alljährlich während der Weihnachtszeit im königlichen Schlosse vom Domchor vorsingen ließ. Wie und wo ich mir die Ueberzeugung verschaffte, daß unser Lied auch in England, in Schweden, in Britisch-Indien etc. gesungen wird, das darzustellen würde zu sehr auf das Gebiet der persönlichen Erlebnisse führen.

Nur eines will ich noch erzählen!

An einem heißen Julinachmittag des Jahres 1873 betrat ich auf der Weltausstellung zu Wien ein nordamerikanisches Blockschulhaus, wie es die Farmer im fernen Westen zu errichten pflegen. Die Eigenart des Baues und der Einrichtung interessiere mich, und als ich rechts vom Lehrertisch ein kleines Harmonium gewahrte, konnte ich es, da gerade niemand zugegen war, nicht lassen, mich an dasselbe zu setzen und etwas zu präludiren.

Auf dem Pulte des Instrumentes lag ein gedrucktes Notenbüchelchen – Orgelsatz ohne Text –, ich blätterte darin ein wenig herum, und etwa auf der neunten oder zehnten Seite blieb mein Auge haften an der sonderbaren Aufschrift: „Choral of Salzburg“! – Und was war dieser „Choral von Salzburg“?! – Unser Weihnachtsliedchen: „Stille Nacht, heilige Nacht“!


[99] Also bist du kleiner Hirtensang auf deiner Wanderung aus dem schönen Salzachthal schon bei den Pionieren der Kultur, bei den ersten Ansiedlern in den nordamerikanischen Urwäldern angelangt, – dachte ich mir, – Glück auf zur seltenen Fahrt!

Und die Eltern dieses Liedchens? Niemand, – oder doch nur eine verhältnißmäßig sehr kleine Zahl von Menschen –, kannte sie, ihre Namen waren und blieben dem großen Publikum vollständig fremd. Auf diesen Umstand ist auch die Thatsache zurückzuführen, daß das Lied "Stille Nacht" unter den verschiedensten Bezeichnungen erschienen ist und noch erscheint, als „Volkslied“ oder „Volksweise“, als „komponirt von M. Haydn“, als „Volkslied aus dem Zillerthal“ etc. In hundertfacher Form ist Grubers Komposition an die Oeffentlichkeit getreten, liegen doch hier vor mir auf meinem Schreibtische über zwanzig verschiedene, im Drucke erschienene Bearbeitungen derselben, – nebenbei bemerkt, bloß für Klavier oder Gesang –; aber nur in einer einzigen Ausgabe ist der Name des Dichters Mohr angegeben, des Komponisten F. Gruber geschieht nirgends eine Erwähnung!

Ich richte nun an alle Bearbeiter, Herausgeber und Verleger dieses Liedes die freundliche Bitte, künftighin bei der Veröffentlichung des „Stille Nacht“ nach sonst üblicher Weise den Namen des Komponisten und des Dichters anzugeben. Ich glaube, daß die beiden Männer, die uns das herzigste, das volkstümlichste aller Weihnachtslieder geschenkt haben, auf diese kleine Aufmerksamkeit schon Anspruch erheben dürfen, und daß das Wort: „Ehre, wem Ehre gebührt!“ wohl auch hier nicht ganz am unrechten Platze sei.

Und dieser meiner Bitte möchte ich noch eine zweite hinzufügen: ich habe bereits früher erwähnt, daß sich wahrscheinlich schon bei der von Friese in Dresden veranlaßten Niederschrift des Liedes ein Fehler eingeschlichen hat; der neunte Takt ist falsch, derselbe muß eine Terz tiefer gelegt werden, denn die Septime – doch wozu theoretische Auseinandersetzungen?

Um allen weiteren Erklärungen und Zweifeln zu begegnen, setzen wir das Liedchen in seiner ursprünglichen und darum einzig richtigen Form hierher:

Weihnachtslied.

Möge wenigstens in den Landen,

So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt –

das Andenken an die bescheidenen Salzburger Dioskuren F. Gruber und J. Mohr nicht ganz verloren gehen, mögen diese Vorstellungen ein freundliches Gehör und ein geneigtes Entgegenkommen finden, das wünscht

Joseph Bletzacher