Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (1): Zweiter Zug

Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (1): Erster Zug Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (1): Zweiter Zug
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (1): Dritter Zug


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Zweiter Zug.
Chr. Rummel, Erinnerung an Sabine Heinefetter. Werk 79. – Joh. Ruckgaber, Erinnerung an Bellini. Werk 35. – Ernst Köhler, Erinnerung an Bellini. Werk 54. – H. Herz, dramatische Phantasie über den berühmten protestantischen Choral aus den Hugenotten. Werk 89. – C. G. Kulenkamp, die Jagd, ein humoristisches Tongemälde zu 4 Händen. Werk 49.

Eine sehr kurze Recension machte bekanntlich Voltaire, indem er, eben um eine befragt, in einem ihm vorgelegten Buch am Wort Fin den letzten Buchstaben wegstrich. Es bleibt dahin gestellt, ob das I, das Florestan auf die Rummel’sche Erinnerung geschrieben, nicht noch eine kürzere sei, wenn es anders nicht die Zahl, sondern einen lateinischen Buchstaben bedeutet. Jedenfalls ist die Composition ein passables Gelegenheitsstück mit den bekannten Reimen „Herz – Schmerz,“ eine Apotheose, wenn nicht entzückend, doch in einer Entzückung über die Landsmännin entstanden. Würde einmal die Wahrheit verboten, so müßte man die Erinnerung den bessern Werken beizählen.

Letzteres gilt auch von Hrn. Ruckgaber’s Souvenir. Viele (z. B. wir und ich) denken selten an Bellini und dann ist so ein Aufrütteln gut. An der Stelle der Original-Verleger litte ich aber so ein Honigaussaugen aus Bellini’s Opern durchaus nicht: wahrhaftig das Beste wird herausgezogen.

Sonderbar ist es, daß obige Erinnerungen, auch die von Hrn. Köhler, sämmtlich aus Es dur gehen und [69] ein Beitrag sind zur Charakteristik der Tonleiter; eben so sonderbar, daß sie alle einerlei, nämlich höchst glänzend anfangen und nur die Ruckgaber’sche in leise pp verhaucht, während die andern ordentlich wie die Sinfonia eroica schließen. Hrn. Köhler’s Phantasie zeichnet sich aber überdies durch eine organischere Form vor den andern rühmlichst aus und verräth überall solide Studien und Gedanken. Von einem Orchester, was dazu gehört, gut begleitet und mit Feuer und Liebe gespielt, was auch dazu gehört, wird sie überall applaudirt werden. Wie gesagt, es ist zu wünschen, daß erste deutsche Componisten sich auf diese Weise an und in italiänischen Componisten zu verewigen fortfahren.

Mozart, mit seligem Auge dem Allegri’schen Miserere zuhörend,[H 1] mag kaum mit mehr Spannung gelauscht haben, als unser verehrter Herz der ersten Aufführung der Hugenotten. Ihr Schelme, mochte er bei sich denken, man müßte kein Musiker sein, um nicht trotz aller Eigenthumsrechte Anderer sich das Beste und Beklatschteste einzuzeichnen hinter die Ohren – und noch spät Mitternacht setzte er sich hin und brütete und schrieb. Der Titel ist übrigens eine offenbare, jedoch dem Käufer vortheilhafte Täuschung: anstatt einer dramatischen Phantasie über „le célèbre Choral protestant intercalé par Giac. Meyerbeer dans les Huguenots“ erhält man, außer diesem, der nur einmal wie hineingeplumpt kömmt, eine Scene mit Chor, ächt Meyerbeerisch, nämlich unächt, eine Arie mit wirklich schönen Stellen, eine [70] Bohemienne, über die sich nichts sagen läßt, und ein sehr hübsches Air de Ballet. Wir selbst sind noch nicht so tief in die Hugenotten gedrungen, um mit Sicherheit sagen zu können, was Herz’en, was Meyerbeer’n angehöre; indessen getrauten wir es uns. Daß übrigens alles mit Geschick, oft Geist an einander gefädelt ist, kann man versichern. Apropos, was bedeuten denn die kleinen hübschen Kästchen ☐ über einzelnen Noten? vielleicht einen leisen Druck, ein graziöses Aufheben der Hände? Im Stuttgardter Universallexicon fehlt das Kästchen gewiß.[H 2] Wir machen darauf aufmerksam.

Ueber die vierhändige „Jagd“ des Hrn. Kulenkamp kann man keine sehr saubern Gedanken aufbringen, da der Inhalt[H 3] ausführlich zu sehen und zu lesen ist. Da findet man z. B. „11. Ein Hase springt auf; Fehlschüsse. 12. Spöttische Bemerkungen. 13. Fade Entschuldigungen“ u. s. w. Der Componist fürchtet selbst in einem an die Redaction gerichteten Schreiben, „daß solche bemerkte Details Anlaß zu Spötteleien geben könnten, daß er aber solche Kleinigkeiten der wahrheitsgemäßern Darstellung halber nicht übergehen hätte dürfen“ u. s. w. Im ersten Punct hat er ganz, im zweiten nur halb Recht. Zwischen wirklicher Gemeinheit und Shakspeare’scher ist noch ein Unterschied. Was soll ich es verschweigen, die Jagd hat mich total verstimmt. Wenn ein Componist Jahre lang mühsam arbeitet, vierzig Stücke schreibt mit lobenswerthem Eifer und endlich [71] auf ein Thema fällt, das schon gar keine poetische Regung aufkommen lassen kann, und wenn er es noch dazu so trocken und witzlos wie möglich behandelt, so kann das einen theilnehmenden Beschauer nur traurig machen. Das ist kein Ton aus freier Brust: so klingt kein Jagdhorn; kurz die Musik lebt nicht. „Sage mir, wo du wohnst, so will ich dir sagen, wie du componirst“ meinte Florestan bei einer frühern Composition von Hrn. Kulenkamp. Florestan hat Recht, und Rellstab auch, wenn er sinnbildlich genug einmal ausrief: „einen Hasen können sie todtschießen, unsere Componisten – aber einen Löwen erwürgen, nicht.“



Anmerkungen (H)

  1. [GJ] „Im Jahre 1770 hörte Mozart in der sixtinischen Capelle zu Rom das zweichörige Miserere von Allegri. Der vierzehnjährige Knabe gab eine erstaunliche Probe seinen Gehörs und scharfer Auffassung, als er das berühmte Musikstück, von welchem nicht einmal eine Abschrift ausgegeben werden durfte, nach einmaligem Hören aus dem Gedächtniß zu Papier brachte. Ein paar geringe Ungenauigkeiten seiner Niederschrift verbesserte er während des zweiten Hörens.“ I.287–288
  2. [WS] Gustav Schilling: Encyclopädie der gesamten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst in 6 Bänden und einem Zusatzband, 1834–38 in Stuttgart erschienen. Zum Zeitpunkt des Textes war erst der Band A – Bq erschienen.
  3. [WS] GJ ergänzt: auf einer sehr sauberen Vignette und in einem Programm
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