Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Gutenbergfest in Leipzig

Franz Lißt Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Gutenbergfest in Leipzig
Dänische Oper


[243]
Gutenbergfest in Leipzig.


Auch unsere Kunst hat das Fest verherrlichen helfen, wie sie ja in Freud’ und Leid sich wunderkräftig zeigt, den Einzelnen wie die große Masse zu heben versteht. Daß im Augenblick gerade zwei Componisten in unserer Mitte leben, von denen der eine durch glückliches Schaffen in seinem Kreise sich in ganz Deutschland bereits bekannt gemacht, der andere europäischen Ruf hat, und die für die Feier zu interessiren es nur einer Anregung bedurfte, mag als ein freundlicher Zufall betrachtet werden. Gewiß ist der musikalische Theil des Festes nicht der geringste und war auch Alles in diesem Sinne angeordnet worden.

Zur Vorfeier, Dienstag Abend,[H 1] hatte Hr. Albert Lortzing eine neue komische Oper „Hans Sachs“ geschrieben, die die früheren desselben Componisten an Frische, Leichtigkeit und Lieblichkeit noch übertreffen soll. Ich selbst konnte der Vorstellung nicht beiwohnen. Die Aufführung soll aber höchst erfreulich gewesen sein, und hat dem Componisten reichen Lohn gebracht. Mehre [244] Nummern wurden Da Capo verlangt, und Beifall durch Kränzewerfen und Hervorruf blieben nicht aus. Es steht uns in den nächsten Tagen eine zweite Aufführung bevor. Zur eigentlichen Feier, der Enthüllung der arbeitenden Presse und der Gutenbergstatue, welcher früh 8 Uhr eine kirchliche, durch eine Gelegenheitscantate des Directors des Zittauer Sängervereins Hrn. Richter eingeleitet, vorangegangen war, hatte Hr. Dr. Felix Mendelssohn-Bartholdy eine Cantate für zwei Männerchöre mit Begleitung von Posaunen etc., nach Worten des Hrn. M. Prölß in Freiberg, componirt, die Mitwoch früh auf offenem Markte gesungen wurde. Der erst unfreundliche Himmel hatte sich aufgeklärt; es war ein erhebender Anblick. Das eine Chor dirigirte Hr. Dr. Mendelssohn, das andere Hr. Concertmeister David. Wie schwer Musik unter freiem Himmel wirkt, weiß Jeder. Hundert Stimmen mehr oder weniger bringen kaum eine Schattirung mehr oder weniger hervor. Die Composition, so freudig und charakteristisch an sich, hätte auf solchem Raume aus wenigstens tausend Kehlen klingen müssen. Dies sind aber kühne Wünsche, die man höchstens aussprechen, nicht fordern darf. Wo aber Musik am meisten ergriffen haben würde, im Moment nach der Enthüllung, da fehlte sie; dies hatte man sich entgehen lassen. Das Volk war in diesem Augenblick auf der Höhe der Aufregung; eine einfallende Musik, vielleicht gerade nach der Melodie „eine feste Burg,“ die später gesungen wurde, müßte hier [245] herrlich gewirkt haben. Der übrige Tag verging unter den Festlichkeiten, über die andere öffentliche Blätter berichten werden.

Gestern Nachmittag[H 2] fand nun die eigentliche große Musikaufführung in der Thomaskirche Statt, an der Stelle, wo Sebastian Bach so oft seine hohe Kunst ausgeübt hat, die jetzt sein geliebtester und liebendster Zögling, die großen Massen mit energischer Hand leitend, eingenommen hatte. Die Aufführung war höchst glänzend, alle Räume der Kirche gefüllt. Chor und Orchester mochten über 500 stark sein. Die aufgeführten Musikwerke waren die Jubelouverture von Weber, am Schluß im God save the king durch die Orgel begleitet, das Dettinger Te Deum von Händel, und ein „Lobgesang“ von Mendelssohn. Ueber die beiden ersten, weltbekannten Compositionen brauchen wir nichts zu sagen. Die letztere aber war neu und eigens zu dem Feste von dem Meister vollendet worden; einige Worte darüber dürften seinen fernen Verehrern willkommen sein. Der Componist, der seine Werke immer so treffend zu bezeichnen weiß, hat sie selbst „Lobgesang“[H 3] genannt. Dem eigentlichen Gesange gingen aber drei symphonistische Orchestersätze voraus, so daß die Form der 9ten Beethoven’schen Symphonie zu vergleichen ist, bis auf den hervorzuhebenden Unterschied, der im Symphonistischen noch nicht versucht ist, daß sich die drei Orchestersätze ohne Pausen an einander schließen. Die Form des Ganzen konnte für diesen Zweck nicht glücklicher gefunden [246] werden.[H 4] Enthusiastisch wirkte das Ganze und gewiß ist das Werk, namentlich in den Chorsätzen, seinen frischesten, reizendsten beizuzählen. Was dies nach so großen Leistungen heißen will, mag sich jeder, der dem Gange seiner Schöpfungen zugesehen, selbst sagen. Einzelnes heben wir nicht hervor: doch – jenen mit Chor unterbrochenen Zweigesang „ich harrete des Herrn,“ nach dem sich ein Flüstern in der ganzen Versammlung erhob, das in der Kirche mehr gilt als der laute Beifallruf im Concertsaal. Es war wie ein Blick in einen Himmel Raphael’scher Madonnenaugen. So hat denn die große Erfindung des Lichts, deren Feier wir begingen, auch ein Werk des Lichts hervorgerufen, für das wir alle seinem Schöpfer unsern neuen Dank aussprechen müssen; so laßt uns, wie der Künstler die Worte so herrlich componirt, immermehr „ablegen die Werke der Finsterniß und anlegen die Waffen des Lichts.“ –




Anmerkungen (H)

  1. [GJ] den 23. Juni. II.266 Commons
  2. [GJ] den 25. Juni. II.267 Commons
  3. [GJ] Die Bezeichnung als „Symphonie-Cantate“ nahm er auf C. Klingemanns Vorschlag an. II.267 Commons
  4. [GJ] Gestrichen: „Die Form des Ganzen konnte für diesen Zweck nicht glücklicher gefunden werden, wenn wir auch zweifeln, ob es ursprünglich so gedacht ist, und beinahe überzeugt sind, daß jene Orchestersätze, schon vor einiger Zeit geschrieben, Theile einer wirklichen Symphonie waren, der er den Lobgesang, der mir durchaus neu scheint, für den besondern Zweck der Aufführung jetzt anschloß. Wie dem sei, die Composition wirkte enthusiastisch, und dies gerade durch die innere und äußere Steigerung. Der Lobgesang war der Gipfel, zu dem das Orchester durch die Menschenstimmen gleichsam emporgetragen wurde, und auch die Orgel fehlte nicht zur höchsten Kraft des Schlusses. Vermuthen wir anders richtig, daß die Symphoniesätze früher unabhängig von dem Lobgesange bestanden, so möchten wir beide Werke auch lieber in getrennter Weise veröffentlicht sehen, zum offenbaren Vortheil beider [268] Partieen des Werkes. Die Symphoniesätze enthielten sicher an sich außerordentlich Schönes, der erste Satz, wie namentlich das Allegretto; zur Feierlichkeit und Prächtigkeit des Lobgesanges schienen sie mir aber zu zart und fein gewirkt und eher einen heiteren Schluß zu verlangen, ähnlich etwa wie die B dur-Symphonie von Beethoven, mit der sie auch die Tonart theilen. Wie nun die drei Sätze, von einem Finale beschlossen, eine vollständige Symphonie für das Concert abgeben würden, so steht auch der Lobgesang an sich als einzelnes Werk da, und nach meiner Meinung sogar als eines der trefflichsten von Mendelssohn, der frischesten, reizendsten, genialsten. Was dies nach so großen Leistungen etc“ – wie oben. II.267–268 Commons
    [GJ] Anmerkung 54: Wenn Schumann hier sagt, daß die Orchestersätze, unabhängig von dem Lobgesang, schon früher geschrieben seien, daß aber dieser ihm „durchaus neu zu sein scheine“, so ist dieser reservirte Ausdruck nicht recht verständlich, denn der Sachverhalt war ihm bekannt. Ebenso schrieb er nach der zweiten Aufführung des Lobgesanges (3. Dec. 1840), er „glaube“, daß der Componist Änderungen darin vorgenommen habe, während sein Bericht in der Brockhausschen Ztg. (v. 8. Dec.) bestimmt sagt: „Der Meister hatte mehrere Aenderungen darin vorgenommen.“ Es ist auch anzunehmen, daß Schumann sein Bedenken bezüglich der Form des Ganzen schon mündlich gegen den Componisten geäußert hatte, bevor er sie öffentlich aussprach. Später, beim Ordnen seiner ges. Schriften, mochte er seine damaligen Einwendungen als gegenstandslos ansehen, da das Werk längst veröffentlicht worden war. So strich er denn den ganzen Passus. – Es ist nichts darüber bekannt geworden, daß sich in Mendelssohns Nachlaß auch ein zu den drei Orchestersätzen gehöriges Finale vorgefunden hätte, an dessen Stelle die Cantate gesetzt wurde. Von einer „Symphonie in B“, an der er schreibe, berichten Mendelssohns Briefe aus 1838 und 39 mehrfach. – Eine spaßhafte Scene in einer der ersten Orchesterproben zum Lobgesang erzählte man sich noch zehn Jahre später in Leipziger Musikerkreisen. Als ein kleines Beispiel davon, wie Mendelssohn einen guten Scherz aufnahm, mag das Geschichtchen hier eine Stelle finden. Die versammelten Musiker stimmten ihre Instrumente (was man früher im Gewandhause recht gründlich besorgte), während Mendelssohn sich noch im Saal unterhielt. Plötzlich erschallte auf dem Orchester, mitten im lärmenden Durcheinander des Stimmens, wie ein gewaltiger Kommandoruf das Anfangsthema des Lobgesangs, von einer Posaune geblasen:
    [526] [WS: Notensatz, siehe den Scan bei Commons]
    Die Wirkung, namentlich des improvisirten Doppelschlags, war so überwältigend komisch, daß Alle in ein schallendes Gelächter ausbrachen – voran Mendelssohn, der vor Vergnügen in die Hände klatschte und dem Posaunenkönig Queißer Bravos zurief. II.525–526 Commons
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