Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Aus den Büchern der Davidsbündler (2): II. Tanzliteratur

Aus den Büchern der Davidsbündler (2): I. Sechszehn neue Etuden Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Aus den Büchern der Davidsbündler (2): II. Tanzliteratur
Etuden für das Pianoforte (1)


[9]
II. Tanzliteratur.
J. C. Keßler, drei Polonaisen. W. 25. – Sigism. Thalberg, zwölf Walzer. W. 4. – Clara Wieck, Valses Romantiques. W. 4. – L. Edler von Meyer, Salon, sechs Walzer. W. 4. – Franz Schubert, erste Walzer. W. 9. Hft. 1. – Derselbe, deutsche Tänze. W. 33.


— „Und nun spiele, Zilia![H 1] Ich will mich ganz untertauchen in den Tönen und nur zuweilen mit dem Kopf vorgucken, damit ihr nicht meint, ich wär’ ertrunken an der Wehmuth; denn Tanzmusik stimmt schmerzlich und schlaff wie umgekehrt Kirchenmusik froh und thätig, wenigstens mich,“ — sprach Florestan, während Zilia schon in der ersten Keßlerschen Polonaise[H 2] schwebte. „Freilich wär’ es schön,“ fuhr jener fort halb hörend halb sprechend, „ein Dutzend Davidsbündlerinnen machten den Abend zum unvergeßlichen und umschlängen sich zu einem Grazienfest. Jean Paul hat schon bemerkt, wie Mädchen eigentlich nur mit Mädchen tanzen sollten (wo es dann freilich manche Brautfeste weniger gäbe), und Männer (setz’ ich hinzu) überhaupt nie.“ — „Geschähe es aber dennoch (fiel Eusebius ein), so müßte man beim Trio zu der Davidsbündlerin sagen: „so einfach bist auch du und so gut“ — und beim zweiten Theil wäre sehr zu wünschen, daß sie den Blumenstrauß fallen ließe, um ihn im Fluge aufheben und aufsehn zu dürfen in’s dankende Auge.“ Dies alles aber stand mehr in Eusebs seinem und in der Musik, als er es geradezu [10] wörtlich sprach. Florestan reckte nur manchmal den Kopf in die Höhe, namentlich bei der dritten Polonaise, die sehr glänzend und voll Hörner- und Geigenklang.

„Jetzt etwas Rascheres, und spiel’ du den Thalberg,[H 3] Euseb, Zilias Finger sind zu weich dazu,“ sagte Florestan, hielt aber bald auf und bat, die Theile nicht zu wiederholen, da die Walzer zu wasserhell, namentlich der neunte, der auf eine Linie ginge, ja in einen Tact „und ewig Tonica und Dominante, Dominante und Tonica. Indeß ist’s gut genug für den, der unten zuhorcht.“ Der aber unten stand (ein Student) schrie nach dem Schluß im Ernst Da Capo[H 4] und alle mußten viel lachen über Florestans Wuth darüber und wie er ihm hinunterrief, er möge sich fortscheren und nicht durch ähnliche Aufmunterungen stören, sonst würde er ihn durch einen Stundenlangen Terzentriller zum Schweigen bringen u. s. w. –

Also von einer Dame? (würde ein Recensent bei den Valses romantiques[H 5] anfangen). Ei, ei, da werden wir die Quinten und die Melodie nicht zu weit zu suchen brauchen.

Zilia hielt vier leise Mondschein-Accorde aus. Alle horchten aufmerksam. Auf dem Flügel lag aber ein Rosenzweig (Florestan hat an der Stelle der Leuchter immer Vasen mit Blumen), der von der Erschütterung nach und nach auf die Tasten geglitten war. Wie nun Zilia nach einem Baßton haschte, berührte sie ihn zu heftig und hielt inne, weil der Finger blutete. Florestan fragte, [11] was es wäre? — „Nichts“, sagte Zilia, — „wie diese Walzer sind’s noch keine großen Schmerzen und nur Blutstropfen von Rosen hervorgelockt.“ Die aber dieses sagte, möge nie andre kennen lernen! —

Nach einer Pause stürzte sich Florestan in den Meyerschen Salon[H 6] voll glänzender Gräfinnen und Gesandtinnen. Wie einem das wohlthut, Reichthum und Schönheit im höchsten Stand und Schmuck und oben droben die Musik; alle sprechen und niemand hört vom andern; denn die Töne überschlagen in Wellen! „Dabei (preßte Florestan heraus) verlangts einem ordentlich nach einem Instrument mit einer Octave mehr links und rechts, damit man nur recht ausholen könne und schwelgen.“[H 7] Man hat keine Vorstellung, wie Florestan so etwas spielt und wie er fortstürmt und fortreißt. Auch waren die Davidsbündler ganz erhitzt und riefen in der Aufregung (eine musikalische ist unersättlich) nach „mehr und mehr,“ bis Serpentin zwischen den Walzern von Schubert und dem Bolero[H 8] von Chopin zu wählen vorschlug. „Treff ich“ — rief Florestan und stellte sich in eine Ecke weit vom Flügel — „mich von hieraus auf die Claviatur stürzend, den ersten Accord aus dem letzten Satz der D moll-Symphonie, so gilt Schubert.“ Natürlich traf er. Zilia spielte die Walzer auswendig.

Erste Walzer von Franz Schubert,[H 9] kleine Genien, die ihr nicht höher über der Erde schwebt als etwa die Höhe einer Blume ist, — zwar mag ich den Sehnsuchtswalzer,[H 10] [12] in dem sich schon hundert Mädchengefühle abgebadet und auch die drei letzten nicht, die ich als ästhetischen Fehler im Ganzen ihrem Schöpfer nicht verzeihe; — aber wie sich die übrigen um jenen herumdrehn, ihn mit duftigen Fäden mehr oder weniger einspinnen und wie sich durch alle eine so schwärmerische Gedankenlosigkeit zieht, daß man es selbst wird und beim letzten noch im ersten zu spielen glaubt — ist gar gut.

Dagegen tanzt freilich in den „deutschen Tänzen“[H 11] ein ganzer Fasching. „Und trefflich wär’s,“ schrie Florestan dem Fritz Friedrich[1] ins Ohr, „du holtest deine Laterna magica,[H 13] und schattetest den Maskenball an der Wand nach.“ — Der mit Jubel fort und wieder da.

Die folgende Gruppe gehört zu den lieblichsten. Das Zimmer matt erleuchtet — am Clavier Zilia, die verwundende Rose in den Locken — Eusebius im schwarzen Sammetrock über den Stuhl gelehnt — Florestan (desgleichen) auf dem Tische stehend und Ciceronesirend — Serpentin, Walts[H 14] Nacken umschlingend mit den Beinen und manchmal auf und ab reitend — der Maler à la Hamlet, mit Stier-Augen seine Schattenfiguren auskramend, von denen einige spinnenbeinigte schon von der Wand zur Decke liefen. Zilia fing an und Florestan mochte ungefähr so sprechen, obgleich alles viel ausgearbeiteter:

[13] Nr. 1. A dur. Gedränge von Masken. Pauken. Trompeten. Lichtdampf. Perückenmann: „es scheint sich alles sehr gut zu machen.“ — Nr. 2. Komische Figur sich hinter den Ohren kratzend und immer „pst, pst“ rufend. Verschwindet. — Nr. 3. Harlekin die Arme in die Hüften gestemmt. Kopfüber zur Thür hinaus. — Nr. 4. Zwei steife vornehme Masken, tanzend, wenig miteinander redend. — 5. Schlanker Ritter, eine Maske verfolgend: habe ich dich endlich, schöne Zitherspielerin. — „Laßt mich los.“ — Entflieht. — 6. Straffer Husar mit Federstutz und Säbeltasche. — 7. Schnitter und Schnitterin, selig miteinander walzend. Er leise: „Bist du es?“ Sie erkennen sich. — 8. Pachter vom Land zum Tanz ausholend. — 9. Die Thürflügel gehn weit auf. Prächtiger Zug von Rittern und Edeldamen. — 10. Spanier zu einer Ursulinerin: „sprecht wenigstens, da ihr nicht lieben dürft.“ Sie: „dürft’ ich lieber nicht reden, um verstanden zu sein!….“

Mitten aber im Walzer sprang Florestan vom Tische zur Thür hinaus. Man war so etwas an ihm gewohnt. Auch Zilia hörte bald auf und die Andern zerstreuten sich hierhin und dorthin.

Florestan pflegt nämlich oft mitten im Augenblick des Vollgenusses abzubrechen, vielleicht um dessen ganze Frische und Fülle mit in die Erinnerung zu bringen. Diesmal erreichte er auch, was er wollte — denn erzählen sich die Freunde von ihren heitersten Abenden, so gedenken sie allemal des achtundzwanzigsten Decembers 18**. –



  1. Dem tauben Maler.[H 12]

Anmerkungen (H)

  1. [WS] „Zilia“ ist der Davidsbündlername von Clara Wieck.
  2. [WS] Joseph Christoph Keßler (eigtl. Kötzler) (1800–1872), Drei Polonaisen für Pianoforte op. 25.
  3. [WS] Sigismund Thalberg (1812–1871), 12 Valses „Souvenirs de Vienne“ op. 4 (1835) (spätere Ausgabe bei IMSLP).
  4. [WS] italienisch: „Von vorne“, im Sinne von: noch einmal; die Wiederholung eines musikalischen Formteils oder des ganzen Stückes.
  5. [WS] Clara Wieck, Valses Romantiques op. 4 (1833-35).
  6. [WS] Leopold von Meyer (1806–1883), 6 Walzer „Le Salon“ op. 4.
  7. [GJ] Schumann kannte diese Walzer schon seit einem Jahre. Als Leopold v. Meyer in einer Wiener Correspondenz der Neuen Zeitschrift (1835, II, 101) Internet Archive erwähnt und sein Vortrag Chopinscher und Thalbergscher Compositionen gerühmt wurde, bemerkte Schumann in einer Anmerkung dazu: „Ist er derselbe, der vor einiger Zeit Salonwalzer componirt und herausgegeben, so würden wir ihn auffordern, sein schönes Talent zur Composition durch strengere Studien noch weiter ausbilden zu wollen“. Leopold v. Meyer mag diese Aufforderung vielleicht gelesen haben, — befolgt hat er sie jedenfalls nicht. Er kam, wenige Ausnahmen abgerechnet, wo er einen höheren Anlauf versuchte, aus der Sphäre der gewöhnlichen Salon- und Tanzmusik nicht heraus, wie er denn auch zeitlebens in die Geheimnisse der musikalischen Orthographie nicht eingedrungen ist. Die Zeitschrift hat nicht wieder Veranlassung gefunden, seiner zu erwähnen. Als Virtuos war Leopold v. Meyer bei einem Theil des Wiener Publicums sehr gefeiert; der andere fand, daß er seine Finger wohl zu etwas Besserem hätte gebrauchen können als nur zu Laufburschendiensten. Als er einmal gefragt wurde, warum er denn Schumanns Kompositionen so ganz ignorire, erwiderte er: „Warum soll ich in meinen Concerten Sachen von Schumann spielen? seine Frau spielt auch nichts von meinen Compositionen“. (Vergl. in Hanslicks „Aus dem Concertsaal“ S. 391 den „großen Clavierpauker“. Internet Archive) I.340, FN 57. Internet Archive
  8. [WS] Vorlage: Boleros
  9. [WS] Franz Peter Schubert (1797–1828), [36] Tänze „Erste Walzer“ op. 9 D 365 (1816–1821). Partitur bei IMSLP.
  10. [WS] Sehnsuchtswalzer, eigentlich Trauer-Walzer As-Dur (1816) ist der zweite Walzer der Sammlung; Schumann schrieb 1831–1834 an Variationen über den „Sehnsuchtswalzer“ von Franz Schubert – Scènes musicales sur un thême connu, die womöglich unvollendet blieben, jedenfalls nur fragmentarisch überliefert und erst 2000 in einer rekonstruierten Fassung erschienen sind.
  11. [WS] Franz Schubert, 16 Deutsche Tänze und 2 Ecossaises op. 33 D 783 (1823–1824), Partitur bei IMSLP.
  12. [WS] Fritz Friedrich: Ludwig Peter August Lyser (1803–1870), Komponist und Maler
  13. [WS] Laterna magica, ein weitverbreitetes Projektionsgerät des 19. Jahrhunderts, Vorläufer der Diaprojektion.
  14. [WS] „Ciceronesirend“, von Cicerone, ein Fremdenführer; „Serpentin“, das ist Carl Ludwig Albert Banck; „Walt“, das ist Louis Rakemann.
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