Gedichte von Amélie Godin
[896] Gedichte von Amélie Godin. Von den Lesern unseres Blattes geschätzt und geliebt ist Amélie Godin als Erzählerin; es wird Allen von Interesse sein, ihr auf dem Gebiete der lyrischen Dichtung zu begegnen. Ihre soeben erschienenen „Gedichte“ (München, Theodor Ackermann), denen ihr Bildniß vorangestellt ist, zeugen für das sinnige Naturgefühl der Dichterin und für die Innigkeit, mit der sie sich in das Familienglück am häuslichen Herd versenkt. Die Form der Gedichte ist anmuthend und gefällig; es sind meistens kleinere Liederblüthen, welche an diejenigen von Martin Greif erinnern. Als Probe theilen wir das Gedicht „Schläfer“ mit:
„Frühe Liebe – holder Traum
Einer Sommernacht,
Noch versteht das Herz sich kaum,
Als es schon erwacht
Und auf süße Lust und Qual
Lächelnd sich besinnt,
Wie der Thau im Morgenstrahl
Funkelt und zerrinnt.
Späte Liebe – Todesnacht,
Dunkel, still und tief;
Nie zur Tageslust erwacht,
Wer darin entschlief.
Traumlos sinkt der Schläfer hin,
Kennt nicht Welt noch Zeit,
Weder Ende noch Beginn,
Nur die Ewigkeit.“ †