Gebannt und erlöst (Teil 2)
[237] Der Freiherr war an das Fenster getreten und preßte die Stirn gegen die Scheiben. Einige Minuten lang beobachtete ihn Paul schweigend, dann trat er zu ihm und sagte bittend:
„Raimund, laß uns nach Felseneck zurückkehren!“
Der Freiherr wandte sich um.
„Nein! Weshalb?“
„Weil Du Dich aufreibst in dem täglichen Kampfe mit all dieser Bosheit und Niederträchtigkeit, mit diesem hochwürdigen Herrn Pfarrer, der Alles gegen Dich hetzt. Er macht ja gar kein Hehl daraus, daß er die Feindseligkeit gegen Dich förmlich organisirt. Deine Wohlthaten werden mit Hohn und Spott zurückgewiesen, Deine besten Absichten werden durchkreuzt, und wenn man zufällig erfährt, daß Dir irgend etwas lieb ist, so wird es heimtückisch vernichtet. Du bist ja ganz wehrlos diesen Menschen gegenüber, die Dich immer nur aus dem Hinterhalte treffen. Ich wäre längst auf und davon gegangen, und Du, der sich jahrelang vor jeder Berührung mit den Menschen gewahrt hat, Du hältst jetzt Tag für Tag ihren schlimmsten Angriffen Stand.“
„Weil ich mir das Wort gegeben habe, diesmal Stand zu halten. Ich war mir vollkommen klar darüber, was ein Kampf mit Gregor Vilmut bedeutet.“
„O, hätte ich diesen Pfarrer nur einmal unter Händen!“ rief Paul wüthend. „Ich wollte ihn fragen, wie unsere schöne Ceder gefallen ist.“
Raimund schüttelte den Kopf.
„Nein, Paul, mit dem Verdachte thust Du ihm Unrecht, das ist ohne sein Wissen geschehen. Vilmut ist ein unbarmherziger, aber offener Gegner, diese kleinliche und heimtückische Rache liegt nicht in seiner Natur.“
„Das bezweifle ich sehr! Nennst Du es vielleicht auch Offenheit, daß er all den albernen Märchen über Dich Thür und Thor öffnet? Die Leute glauben ihm blindlings, ein Wort aus seinem Munde genügt, um den lächerlichen Aberglauben niederzuschlagen, der sich an Deine Person knüpft, aber er spricht dies Wort nicht und läßt es ruhig geschehen, daß die Leute Dich für den leibhaftigen Gottseibeiuns halten. Dies Volk ist ja so dumm, so grenzenlos beschränkt, daß man sich schämen muß, in unserer Zeit dergleichen noch zu erleben.“
Das Gesicht des jungen Mannes glühte in leidenschaftlicher Erregung, und es war ihm Ernst mit seiner Entrüstung. Jene Kälte und Fremdheit, welche einst zwischen ihm und seinem Onkel herrschte, War längst gefallen, er hielt wacker zu Raimund in dem aufgedrungenen Kampfe und nahm bei jeder Gelegenheit offen und rücksichtslos seine Partei. Auch Werdenfels fühlte es, welche Stütze er in dem jungen Verwandten besaß, den er anfangs in halb verächtlicher Art als einen liebenswürdigen, aber leichtsinnigen Taugenichts behandelt hatte. Im Kreise seiner italienischen Freunde war Paul das allerdings gewesen, weil er eben nichts Besseres anzufangen wußte, inmitten dieser ernsten und drohenden Verhältnisse aber kam seine ursprünglich tüchtige Natur immer siegreicher zum Vorschein. In erster Linie war es freilich seine Liebe zu Anna von Hertenstein, die ihm diesen Ernst und diesen Halt gegeben hatte. Der Einfluß einer wahren und ideellen Neigung zeigte sich selbst hier, wo diese Neigung hoffnungslos war, sie hob und adelte das ganze Wesen des jungen Mannes.
„Laß Dich zu keiner Unbesonnenheit fortreißen,“ warnte der Freiherr. „Hier gilt es nicht kämpfen, sondern ausharren, und das ist eine schwere Aufgabe für einen jungen Heißsporn, wie Du es bist. Ich habe Dich schon einige Mal gebeten, nach Buchdorf zu gehen, Du erträgst die hiesigen Verhältnisse schwerer als ich.“
„Und Du weißt, daß ich Dich jetzt um keinen Preis allein lasse,“ erklärte Paul. „Du wirst mich doch nicht fortschicken wollen.“
„Nein,“ entgegnete Raimund mit einem matten Lächeln. „Wenn Du willst, so bleibe, aber es wäre mir lieber, wenn ich Dich in Buchdorf wüßte.“
Paul schien die letzten Worte nicht gehört zu haben.
„Du willst heute ausreiten?“ fragte er. „Ich hörte, daß Du Befehl gegeben hast, den Emir zu satteln. Ich darf Dich doch begleiten?“
„Wozu das? Deine Besorgniß ist ganz unnöthig. Bis zu Thätlichkeiten versteigt man sich denn doch nicht gegen mich.“
„Wer weiß! Diese Menschen sind zu allem fähig. Laß mich mit Dir reiten, ich werde pünktlich zur festgesetzten Stunde bei Dir sein.“
Werdenfels erhob keine weitere Einwendung, und der junge Mann verließ das Zimmer. Raimund blieb allein, und jetzt wo er sich ohne Zeugen wußte, fiel die Maske ruhiger Gelassenheit, die er so lange getragen. Es kam kein Wort über seine Lippen, während er mit stürmischen Schritten das Zimmer durchmaß, aber die fest zusammengepreßten Lippen, der schwere, kurze Athem zeigte, wie er litt unter diesen Angriffen, die er nun seit Monaten Tag für Tag ertrug.
[238] Gregor Vilmut hatte Wort gehalten und den Kampf entfesselt gegen den „Hochmüthigen“, der es wagte, seiner Macht zu trotzen, aber es war ein ungleicher Kampf. Paul hatte Recht, der Freiherr war völlig wehrlos, denn all die Angriffe trafen ihn nur aus dem Hinterhalt. Niemand trat ihm offen entgegen, aber ganz Werdenfels stand in einer einzigen Verschwörung gegen ihn. Die Allmacht des Priesters zeigte sich hier in einer wahrhaft erschreckenden Weise, er hatte den Gutsherrn förmlich in den Bann gethan und der Gemeinde hatte das Wort ihres Hirten von jeher für ein Gotteswort gegolten. Der Haß aus früheren Zeiten, der einst nur noch wie eine alte dunkle Sage umging, loderte jetzt von Neuem in furchtbarer Wirklichkeit empor und trug seine bitteren Früchte.
Wohl stutzte man, als der Freiherr es versuchte, im Großen wie im Kleinen der Wohlthäter der Umgegend zu werden, als er überall, wo es Noth und Elend zu lindern gab, die helfende Hand hinreichte, aber trotz alledem wurde diese Hand zurückgestoßen, und die Wenigen, die sie in ihrer Noth vielleicht ergriffen hätten, wagten das nicht. Nur einmal drohten die Bauern den unbedingten Gehorsam zu versagen, als es sich um die Schutzmaßregeln zur Sicherung des Dorfes gegen den Strom handelte. Man hatte das so lange schon für nothwendig erkannt und es immer wieder hinausgeschoben, weil die Mittel zur Ausführung fehlten, und jetzt wurde das so lang Ersehnte als ein Geschenk angeboten.
Jetzt zum ersten Mal erhoben sich Stimmen, welche meinten, es sei gleich, von welcher Hand die Hülfe käme, wenn sie nur überhaupt geboten würde. Zum ersten Mal gab es heftige Debatten in der Gemeinde, die sich sonst blindlings den Beschlüssen ihres Pfarrers unterwarf, aber auch hier siegte Vilmut. Er überzeugte die Zweifelnden, daß man das „Gnadengeschenk“ nicht brauche, daß die Negierung eintreten werde und müsse, und die Energie, mit der er die Sache sofort in Angriff nahm und die nöthigen Schritte that, überzeugte die Bauern, daß ihr Pfarrer auch hier, wie überall, das Richtige getroffen habe. Das Anerbieten wurde durch Beschluß der ganzen Gemeinde abgelehnt. –
Raimund war vor dem Bilde seines Vaters stehen geblieben, und seine Augen wurden dunkler und dunkler, während sie auf jenen Zügen hafteten. Ihm weckte ja das Wort „Vater“ keine einzige jener heiligen Regungen, die sich sonst an diesen Namen knüpfen, ihm rief es nur die Erinnerung zurück an eine einsame Jugend, in sclavisch strenger Zucht verlebt, ohne Freude und ohne Freiheit. Dann war jene Zeit der Entfremdung gekommen, wo der Sohn das väterliche Haus floh, als ruhe ein Fluch auf dessen Schwelle, wo selbst der Befehl des Vaters ihn immer nur auf wenige Tage zurückführte und es nie erreichte, ihn länger festzuhalten. Und dann zuletzt kam die Katastrophe, wo all die jahrelang genährte Bitterkeit endlich ausbrach, wo Raimund offen seine Wahl und seine Liebe bekannte und vertheidigte gegen den Vater, der in seinem aristokratischen Hochmuthe diese Wahl nicht anerkennen wollte. Der Bruch war erklärt, Raimund ging als ein Enterbter, Verstoßener, um als Herr von Werdenfels zurückzukehren, aber segensreich war diese Herrschaft nicht für ihn geworden!
Der verstorbene Freiherr mußte noch im vorgerückten Lebensalter ein stattlicher und schöner Mann gewesen sein, das zeigte sein Portrait, aber sympathisch war dies Antlitz nicht, wo sich in jedem Zuge Hochmuth und rücksichtslose Härte ausprägten. Die kalten grauen Augen blickten wie höhnend nieder auf den Sohn, den er selbst im Leben „Träumer“ gescholten, und doch war er allein es gewesen, der dem jungen Manne Lebensmuth und Lebensfreude genommen hatte.
Auch der Vater war viel gehaßt worden, auch gegen ihn hatten sich Kampf und Feindschaft erhoben, aber er machte sich kein Gewissen daraus, die Menschen niederzutreten, die ihm im Wege standen, und er hatte dies sein ganzes Leben lang so nachdrücklich gethan, daß sich zuletzt keine Hand mehr gegen ihn regte. Das leise hohnvolle Lächeln, das um die schmalen Lippen spielte, schien zu sagen: Ich habe es verstanden, mit den Menschen fertig zu werden, und vor mir lagen sie im Staube! Du Thor, der Du um Liebe und Versöhnung wirbst – Dich werden sie zu Tode hetzen!
Raimund’s Lippen zuckten, als habe er wirklich jene Worte vernommen. Ja wohl, es war ein Erbtheil des Hasses und des Fluches, das der Vater ihm hinterlassen hatte, und sein ganzes Leben war nur ein einziges Ringen gegen dieses Erbe gewesen. Er hatte schon einmal müde und gebrochen den Kampf aufgegeben und den Fluch, der nicht zu lösen war, mit sich genommen in seine Einsamkeit. Jetzt hatte ihn eine Stimme, deren Macht er sich noch immer nicht entziehen konnte, wieder auf den Kampfplatz gerufen, und er war dem Rufe gefolgt. Zum zweiten Male begann das harte verzweifelte Ringen mit der Vergangenheit – die Sünde des Vaters wurde heimgesucht an seinem Kinde!
Im Pfarrhause war der Gemeindevorstand versammelt, der aus den angesehensten Bauern bestand. Sie hatten sich nach der Verhandlung mit dem Verwalter des Gutsherrn zu ihrem Pfarrer begeben, um ihm pflichtschuldigst mitzutheilen, daß der Protest überreicht sei. Es befand sich aber noch ein Fremder dort, der Ingenieur, den Freiherr von Werdenfels aus der Residenz hatte kommen lassen, um die nöthigen Messungen und Pläne aufzunehmen. Er hatte acht Tage lang im Schlosse gewohnt und soeben erst von dem Ausgange der Sache erfahren, die er sich nicht erklären konnte.
„Ich komme, Hochwürden,“ begann er, „um mir von Ihnen die Bestätigung oder vielmehr die Widerlegung einer Nachricht zu holen, die mir ebenso unglaublich als unerhört erscheint. Der junge Baron Werdenfels hat mir im Namen des Freiherrn mitgetheilt, daß meine Thätigkeit zu Ende sei und daß die sämmtlichen schon begonnenen Vorarbeiten eingestellt werden müßten, da die Gemeinde die projectirten Dammbauten nicht ausführen lassen wolle. Es kann sich hier doch nur um ein Mißverständniß handeln oder höchstens um einen Aufschub. Ich bitte um Aufklärung darüber.“
Die Worte klangen ziemlich erregt, desto ruhiger war die Antwort Vilmut’s.
„Ich bedaure, Ihnen die Sache bestätigen zu müssen. Die Gemeinde hat einstimmig und nach reiflicher Erwägung das Anerbieten des Freiherrn zurückgewiesen. Sie hat schwerwiegende Gründe dafür.“
„Gründe, welche sie veranlassen, die Sicherheit des Dorfes preiszugeben?“
„Das Dorf wird nicht preisgegeben; die Hülfe ist uns bereits von anderer Seite zugesagt. Die Regierung wird und muß eintreten, und die Verhandlungen, die schon seit längerer Zeit darüber geführt werden, sind ihrem Abschlusse nahe.“
Der Ingenieur zuckte die Achseln.
„Ich rathe Ihnen, diesen Versprechungen nicht allzusehr zu vertrauen. Ich kenne den Gang derartiger Verhandlungen mit den Behörden. Sie werden endlose Schwierigkeiten zu überwinden haben, im günstigsten Falle erfolgt die Entscheidung erst nach Jahr und Tag, und daß der Gemeinde ein bedeutender Zuschuß aus eigenen Mitteln auferlegt wird, ist selbstverständlich.“
„Die Gemeinde ist bereit diesen Zuschuß zu leisten,“ erklärte Vilmut, sich zu den Bauern wendend, die ohne Zögern beistimmten. „Ich habe selbst die Schrift über diese Angelegenheit ausgearbeitet und werde persönlich nach der Residenz reisen, um sie an betreffender Stelle zu überreichen. Es handelt sich hier nur um eine Beschleunigung der Sache, denn im Princip ist unser Recht auf die Hülfe des Staates längst anerkannt.“
„So will ich wünschen, daß Sie keine unliebsamen Erfahrungen machen,“ sagte der Ingenieur mit einiger Schärfe. „Wenn man dort oben erfährt, daß das fürstliche Geschenk, welches Freiherr von Werdenfels seinem Dorfe machen wollte, bedingungslos machen wollte, so ohne Weiteres zurückgewiesen worden ist, steht die Gewährung von jener Seite noch sehr in Frage. Verzeihen Sie, Hochwürden, wenn ich Ihnen ganz offen sage, daß ich das nur gerechtfertigt finden würde.“
„Sie kennen die Verhältnisse in Werdenfels nicht,“ versetzte Vilmut unbewegt, „und können deshalb auch kein Urtheil darüber haben. Ich erkläre Ihnen, daß nach der Art, wie sich hier der Gutsherr und die Gemeinde einander gegenüberstehen, eine Annahme jenes Vorschlags nicht möglich war. Das ist eine Privatsache, welche für die Behörden durchaus nicht maßgebend sein kann. Uebrigens habe ich bestimmte Nachricht erhalten, daß eine für uns günstige Entscheidung noch im Laufe dieses Jahres zu erwarten steht.“
[239] „Und inzwischen kommen Frühjahr und Herbst und mit beiden droht Ihnen die Gefahr von den Bergwassern.“
„Sie hat uns seit zwanzig Jahren gedroht und die Hand des Herrn hat uns beschützt, sie wird es auch ferner thun. Vor einer nahen Gefahr wäre das Dorf überhaupt nicht zu schützen, die Arbeiten können doch nicht mitten im Winter beginnen!“
„Doch, das sollten sie,“ sagte der Ingenieur mit Nachdruck. „Es war ausdrückliche Weisung des Freiherrn, sofort damit anzufangen. Es sollten einstweilen Erdwälle aufgeführt werden, hoch und fest genug, um einem etwaigen Hochwasser Widerstand zu leisten, bis der Sommer die eigentlichen Dammbauten gestattet. Die Absicht des Gutsherrn ging wohl hauptsächlich dahin, der Noth und dem Elend dieses Winters zu steuern, indem er Arbeit und Verdienst schuf, wenigstens machte er es mir zur Pflicht, nur Leute seiner Güter anzunehmen und die Lohnverhältnisse sehr reichlich zu stellen, ohne den Kostenpunkt in Betracht zu ziehen. Er hat schlechten Dank dafür geerntet.“
Vilmut runzelte die Stirn, ehe er aber noch antworten konnte, trat Rainer hervor, der sich gleichfalls unter den Bauern befand, und sagte trotzig:
„Das ist unsere Sache allein, da lassen wir Niemand dreinreden. Unser Herr Pfarrer hat es Ihnen ja gesagt, daß hier in Werdenfels ganz besondere Verhältnisse sind – und unser Herr Pfarrer hat Recht. Wir wollen nun einmal nichts von dem Werdenfels!“
„Nein, wir wollen nichts von ihm! – Unser Pfarrer hat Recht! – Wir halten uns an die Regierung!“ – klang es von allen Seiten.
Der Ingenieur blickte auf all die finsteren Gesichter ringsum und nahm seinen Hut.
„Dann ist meine Thätigkeit hier allerdings zu Ende. So versuchen Sie denn Ihr Heil bei der Regierung! Ich prophezeie Ihnen einen Mißerfolg, und ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Ich fürchte, die Gemeinde wird diese rücksichtslose Ablehnung der ihr gebotenen Hülfe noch einst schwer bereuen.“
Er grüßte kurz und ging.
Seine letzten mit so großer Bestimmtheit gesprochenen Worte schienen die Bauern doch stutzig gemacht zu haben, es zeigte sich einige Besorgniß in ihren Mienen und sie flüsterten mit einander, nur Vilmut bewahrte seine Ruhe.
Er erwiderte den Gruß mit gemessener Höflichkeit und wandte sich dann zu den Anderen, indem er langsam und nachdrücklich sagte:
„Ich habe die bestimmte Zusicherung unseres hochwürdigsten Herrn Erzbischofes, seinen ganzen Einfluß und seine Protection für unsere Angelegenheit zu verwenden, und sein Einfluß ist sehr mächtig in der Residenz. Ich werde ihm dort persönlich die Gründe aus einander setzen, welche die Gemeinde zu ihrem Entschlusse bestimmten, und bin im Voraus gewiß, daß sie seine Zustimmung finden werden. Wenn Ihr jedoch Euern Protest bereut, so ist es in letzter Stunde immer noch Zeit, ihn zu widerrufen. Ich bin überzeugt, der Freiherr würde sich nicht unzugänglich zeigen, wenn Ihr das Ganze für ein Mißverständniß erklärt. Ueberlegt Euch die Sache noch einmal, ich will Eurer freien Entschließung nicht vorgreifen!“
Der siegesgewisse Blick, mit dem er sich im Kreise umsah, zeigte, wie es mit dieser freien Entschließung bestellt war, und wie gut er seine Bauern kannte.
Sie verneinten allesammt entrüstet, keiner machte auch nur den Versuch, die Sache nochmals in Ueberlegung zu ziehen; da ihr Pfarrer sie in die Hand genommen und der Erzbischof auch seine Verwendung zugesagt hatte, galt sie ihnen bereits für gewonnen.
„So bleibt es also dabei, ich reise übermorgen nach der Residenz,“ sagte Vilmut. „Ich hoffe, Euch von dort die Nachricht mitzubringen, daß das Werk schon im nächsten Jahre beginnen kann. Bis dahin aber wollen wir uns dem Schutze dessen anvertrauen, der Herr ist über die Elemente und auch dem Wasser seinen Weg vorschreibt. Es ziemt uns nicht, kleinmüthig zu zagen und zu zweifeln, nachdem er uns so lange beschützt hat, und ich sage Euch, er wird das Dorf schützen und uns Alle!“
Man hörte es den Worten an, daß sie mit tiefster, innerster Ueberzeugung gesprochen wurden, und deshalb war ihr Eindruck auch unbegrenzt. Die Bauern umdrängten den Priester mit allseitiger, stürmischer Zustimmung. Jeder wollte ihm noch einmal die Hand reichen, und als er sie endlich entließ, da waren sie allesammt der Meinung des alten Eckfried, daß sie in ihrem Pfarrer einen Schatz besäßen, wie er zum zweiten Male nicht gefunden werde.
Vilmut traf in der That sofort die Vorbereitungen zur Abreise. Es war nicht seine Art, eine Sache aufzuschieben, die er einmal übernommen hatte, und was den Eifer und die Energie betraf, so konnte sie in keinen besseren Händen liegen. Er sandte eine kurze Nachricht nach Rosenberg, um seinen Verwandten Mittheilung von der bevorstehenden Reise zu machen, und am Morgen des zweiten Tages führte ihn der Schlitten nach der Bahnstation. –
Rosenberg verleugnete selbst jetzt, wo das Landhaus und der Garten schneebedeckt dalagen, seinen freundlichen Charakter nicht, es lag wie eine Idylle mitten in der öden Winterlandschaft. Die Wintersonne schien hell in die Fenster und in das Zimmer Lily’s, die am Schreibtisch saß und Briefe an „Pensionsfreundinnen“ schrieb. Sie unterhielt noch zahlreiche Beziehungen in dem Institute, das sie erst im vergangenen Herbste verlassen hatte, und die jungen Damen pflegten sich gegenseitig ihre Leiden und Freuden in bogenlangen Episteln mitzutheilen.
Iu der letzten Zeit aber waren diese Freundinnen arg vernachlässigt worden, und auch heute waren die Worte, die so schnell und zierlich aus der Feder flossen, nicht an eine Pensionsbekanntschaft, sondern an einen gewissen Herrn von Werdenfels gerichtet, der gegenwärtig zu den eifrigsten Correspondenten Lily’s gehörte.
Paul hatte naturlich nicht gesäumt, von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch zu machen. Er hatte schon in der nächsten Woche geschrieben, aber der Brief war so verzweiflungsvoll, daß Lily nothgedrungen eine tröstende Antwort senden mußte. Das hatte auch einigen Erfolg gehabt, denn das nächste Schreiben war gefaßter, gab aber das dringende Verlangen nach ferneren Tröstungen kund, die nun füglich auch nicht versagt werden konnten, kurz, es entwickelte sich eine äußerst lebhafte Correspondenz, die auch ungestört blieb. Paul war so vorsichtig, seine Briefe nicht mit dem Werdenfels’schen Wappen zu siegeln, sie passirten also als harmlose „Pensionsbriefe“ die Grenze von Rosenberg.
Lily ihrerseits gefiel sich ungemein in der Rolle einer Trösterin und eines Schutzengels, und da sie bei dem jungen Baron unleugbare Erfolge damit erzielte, so gerieth sie schließlich auf die Idee, es sei überhaupt ihre Mission, abgewiesene Freier zu trösten, und dehnte ihre Barmherzigkeit auch auf den Onkel Justizrath aus, ohne jedoch zu ahnen, daß sie damit ein Unheil anrichtete.
Bei dem Justizrathe hatte die alte Freundschaft, die ihn seit langen Jahren mit der Hertenstein’schen Familie verband, wirklich den Sieg über die verletzte Eigenliebe davongetragen. Er kam nach wie vor nach Rosenberg und vertrat mit vollem Eifer die Angelegenheiten der jungen Frau, aber er war in der ersten Zeit noch so niedergedrückt und wehmüthig, daß Lily von tiefem Mitleide ergriffen wurde und sich alle Mühe gab, ihn aufzuheitern.
Freising hatte das anfangs dankbar, dann mit sehr angenehmen Empfindungen hingenommen, aber er mißdeutete leider diese Theilnahme. Er bildete sich ein, auf das sechzehnjährige Mädchen einen Eindruck gemacht zu haben, und fing an zu überlegen, ob ihm die junge Schwester nicht Ersatz für die ältere sein könne, und so geschah denn eines Tages das Unglück! Der Herr Justizrath zog zum zweiten Male den Frack an, bestellte ein neues prachtvolles Bouquet und fuhr wieder nach Rosenberg, um mit vollen Segeln auf den fünften Korb loszusteuern.
Es war ihm diesmal erwünscht, daß Frau von Hertenstein nicht zu Hause und Fräulein Hofer nicht sichtbar war. Er hörte, daß Fräulein Lily sich in ihrem Zimmer befinde, und machte von seinem Vorrechte als alter Hausfreund Gebrauch, indem er sie dort aufsuchte.
Lily erschrak ein wenig, als es so unvermuthet an ihre Thür klopfte. Sie schob rasch den angefangenen Brief in die Schreibmappe und schloß dieselbe, als sie aber den Eintretenden erkannte, sprang sie auf, eilte ihm entgegen und rief fröhlich:
„Ach, Onkel Justizrath!“
[240] Der also Begrüßte verzog ein wenig das Gesicht. Es war ihm heute durchaus nicht erwünscht, als „Onkel“ empfangen zu werden, aber die Herzlichkeit, mit der das junge Mädchen ihm die Hand reichte, machte das fatale Wort einigermaßen wieder gut, er begann daher sofort die Präliminarien, indem er diese Hand festhielt und küßte.
Lily hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Handkuß war zwar nicht so angenehm, wie der des jungen Baron Werdenfels, aber die Ritterlichkeit des Justizraths blieb doch immerhin anerkennenswerth. Er fing endlich an, „die Kleine“ als eine Dame zu behandeln, und diese war so entzückt über diesen Beweis seiner Hochachtung, daß sie ihm freundschaftlich beim Ablegen seines Paletots behülflich war.
Dabei kam nun zunächst der verhängnißvolle Frack zum Vorscheine, dann erschienen die neuen und engen Glacéhandschuhe verdächtig, und endlich wurde das Bouquet der Papierhülle entledigt, die es gegen die Winterkälte geschützt hatte. Lily’s Augen wurden immer größer, je mehr der Justizrath sich entwickelte, als er ihr aber nun den schönen Strauß aus Veilchen, Maiblumen und Schneeglöckchen überreichte und dabei bedeutungsvoll sagte: „Dem holden Veilchen die ersten Frühlingsblumen!“ da begann sie zu ahnen, daß diese fünfte Variation des bekannten Themas ihr gelten sollte. Sie war im ersten Augenblicke so bestürzt, daß sie verstummte; Freising, der das für ein günstiges Zeichen nahm, begann sofort seinen Antrag, natürlich mit den nöthigen Abänderungen, welche das jugendliche Alter seiner jetzigen Erwählten erheischte, er sprach noch verschiedene Male von dem holden Veilchen und hielt endlich förmlich um dessen Hand an.
Lily hatte sich inzwischen von ihrem ersten Schrecken erholt und war im Begriffe, laut aufzulachen, als ihr der erhebende Gedanke kam, daß es ja ein wirklicher, ernster Heirathsantrag sei, den sie empfing, und daß sie durchaus die Haltung zeigen müsse, die einer Dame in solcher Lage zukam. Sie unterdrückte daher die unpassende und kindische Heiterkeit, sie wurde gleichfalls ernst, gleichfalls feierlich, und als der Justizrath geendigt hatte, stand sie in würdevollster Haltung vor ihm und beantwortete den „ehrenvollen Antrag“. Es war dieselbe Antwort, die Anna vor vier Monaten gegeben hatte, und die ihre junge Schwester jetzt ebenso geläufig hersagte, wie neulich die Predigt Gregor Vilmut’s über den Selbstmord. Sie erklärte dem Freier, daß sie ihn zwar nicht heirathen könne, versicherte ihn aber ihrer tiefsten Hochachtung und bot ihm ewige Freundschaft und Dankbarkeit an.
„Schon wieder Hochachtung!“ rief der Justizrath verzweiflungsvoll. „Fräulein Lily, haben Sie denn gar keine anderen Empfindungen für mich?“
Die Worte klangen so schmerzlich, daß Lily all ihre Würde vergaß.
„Ich achte Sie sehr, Onkel Justizrath!“ rief sie in reuevoller Aufwallung, aber Freising schüttelte melancholisch den Kopf.
„Ja, das kenne ich, das ist mein altes Schicksal! O mein Fräulein, wie gern gäbe ich all diese unendliche Hochachtung hin für ein einziges kleines, kurzes, nettes Ja!“
Lily empfand es fast wie einen Vorwurf, daß sie diesen bescheidenen Wunsch nicht gewähren konnte, im überströmenden Mitleid ergriff sie die Hand des unglücklichen Freiers und sagte tröstend:
„Kommen Sie, Onkel Justizrath, wir wollen uns auf das Sopha setzen und uns die Sache überlegen.“
„Sie wollen sich meinen Antrag überlegen?“ rief Freising, dessen ganzes Gesicht sich verklärte, während er der Aufforderung nachkam.
„Nein, so meinte ich es nicht,“ protestirte Lily. „Ich bin ja erst sechszehn Jahre und Sie –“
„Ich bin allerdings älter, aber bei Frau von Hertenstein und ihrem Gatten war der Unterschied der Jahre noch viel bedeutender.“
„Ja, aber Sie wollen gewiß nicht, daß ich Sie in der Weise liebe, wie ich meinen Schwager geliebt habe – als einen ehrwürdigen Großvater nämlich.“
„Nein, mein Fräulein, das will ich nicht,“ sagte der Justizrath sehr pikirt. „Und übrigens bin ich noch gar nicht so alt, um Großvater sein zu können, ich stehe im siebenundvierzigsten Lebensjahre.“
„Ich führte das nur des Beispiels wegen an,“ entschuldigte sich das junge Mädchen. „Ich möchte Ihnen so gern helfen, und da ich Sie nicht selbst heirathen kann – wie wäre es, wenn ich Ihnen eine Frau verschaffte?“
[253] „Wenn ich Ihnen eine Frau verschaffte!“ Dieses Anerbieten Lily’s klang sehr treuherzig, aber der Justizrath, der den „Großvater“ sehr übel genommen hatte, befand sich noch immer in höchst gereizter Stimmung.
„Nein, ich danke!“ versetzte er. „Ich werde das selbst thun – wenn ich mich überhaupt noch dazu entschließen sollte.“
„Nur nicht wieder an einem Freitage!“ bat Lily. „Wir haben heute wieder den Unglückstag, der sicherlich ganz allein an Ihrem Mißgeschick schuld ist. Fräulein Hofer hat es Ihnen ja prophezeit.“
„Fräulein Hofer und ihre Prophezeiungen sind mir sehr gleichgültig!“ rief Freising ärgerlich; das junge Mädchen sah ihn ganz erschrocken an.
„O wie schade! Gerade Emma Hofer wollte ich Ihnen zur Justizräthin vorschlagen.“
Das war dem rechtsgelehrten Herrn zu viel, er sprang auf.
„Wollen Sie mich verspotten? Ich dächte, Sie wüßten doch, wie ich mit dieser Dame stehe. Sie verabscheut in mir den trockenen Actenmenschen, und ich verabscheue in ihr den personificirten Aberglauben. Wir machen ja Beide kein Hehl daraus.“
Er ergriff wüthend seinen Hut und machte Miene, auch den Paletot an sich zu reißen, um mit beiden das Haus zu verlassen, wo man seine Gefühle so schonungslos verspottete, aber Lily blieb auf dem Sopha sitzen und sagte kaltblütig:
„Sie sind im Irrthum, Onkel Justizrath – Sie werden geliebt!“
„Wo – was?“ rief Freising, während er im höchsten Grade überrascht stehen blieb.
„Emma Hofer liebt Sie,“ wiederholte das junge Mädchen; „sie zeigt es Ihnen nur nicht.“
Der Justizrath kehrte um; er legte den Hut auf den Tisch, nahm wieder auf dem Sopha Platz und fragte angelegentlich:
„Woher wissen Sie das?“
Jetzt geriet Lily doch in einige Verlegenheit. Sie wußte im Grunde gar nichts, sondern hatte ihre Behauptung rein aus der Luft gegriffen. Sie hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, dem Justizrath das „kleine, kurze, nette Ja“ zu verschaffen, das er so sehr ersehnte, und da zwei von den Damen Rosenbergs ihm bereits die übliche Hochachtung gezollt hatten, so blieb nur die dritte übrig, die dann auch ohne Weiteres zum Opfer ausersehen wurde. Da Lily die kühne Behauptung aber nun einmal aufgestellt hatte, so mußte sie nothgedrungen daran festhalten und erfand in der Eile so viel Gründe und Beweise dafür, daß sie schließlich selbst daran zu glauben begann.
Freising hörte mit einer Aufmerksamkeit zu, die nichts zu wünschen übrig ließ. Man sah, wie wohl es ihm that, bei einem weiblichen Wesen endlich einmal eine andere Empfindung als Hochachtung zu erwecken, und der Gedanke, daß man eine heimliche Liebe zu ihm im Herzen trage, die sich unter äußerer Feindseligkeit verberge, war ihm unendlich schmeichelhaft. Als Lily geendigt hatte, seufzte er tief auf und sagte:
„Wir wollen das einstweilen ruhen lassen. Ich kann so unmittelbar nach einer bitteren Enttäuschung nicht daran denken, aber ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme, Lily, und – sagen Sie Fräulein Hofer nicht, weshalb ich heute nach Rosenberg gekommen bin.“
„Sie erfährt keine Silbe davon!“ versicherte Lily, indem sie freundschaftlich den Hut herbeiholte und ihrem abgewiesenen Freier auch beim Anlegen seines Paletots behülflich war. Er ließ sich das ruhig gefallen, denn er war bereits gewöhnt, daß man sich mit aller möglichen Freundschaft und Dankbarkeit um ihn bemühte, nachdem er den üblichen Korb erhalten hatte. Er warf noch einen wehmüthigen Blick auf das junge Mädchen und verabschiedete sich dann.
Draußen im Hausflur traf er mit Fräulein Hofer zusammen, die gerade die Treppe herunterkam und eine ungewöhnlich tiefe und respectvolle Verbeugung empfing. Sie bedauerte, daß Frau von Hertenstein nicht zu Hause sei, und lud den Justizrath ein, noch zu verweilen, da die gnädige Frau bald zurückkehren werde, er entschuldigte sich jedoch mit dem Mangel an Zeit und verhieß, in der nächsten Woche wiederzukommen. Das Fräulein bemerkte mit Befremden, daß er in der Hausthür noch einmal stehen blieb, einen langen und ganz eigenthümlichen Blick zurückwarf und dann mit einer zweiten tiefen Verbeugung verschwand.
Nach einer halben Stunde kehrte Anna zurück. Sie hatte in ihrem Wohnzimmer bereits Hut und Mantel abgelegt und musterte die soeben eingetroffenen Postsendungen, die auf dem Tische lagen. Aber der Blick der jungen Frau glitt nur flüchtig über die Briefschaften hin, die ihren Namen trugen, dagegen schien ein anderer Brief sie sehr zu interessiren, dessen Aufschrift an ihre Schwester lautete. Sie blickte mit unruhigem besorgtem Ausdruck darauf nieder, als die Thür sich öffnete und Lily mit ihrem gewöhnlichen Ungestüm und ihrem Veilchenstrauß in der Hand hereinstürzte.
[254] Sie flog sogleich auf die Schwester zu, die bei ihrem Eintritt jenen Brief unter die übrigen Postsachen schob, und begann ohne alle Einleitung zu berichten, was sie am heutigen Vormittag erlebt hatte. Ganz entzückt darüber, daß sie einen Heirathsantrag erhalten hatte und damit unwiderruflich zu einer Dame erhoben war, sprudelte sie den ganzen Bericht so stürmisch und zusammenhanglos hervor, daß Anna sie anfangs gar nicht verstand.
„So erzähle doch ruhiger, Kind!“ sagte sie. „Wer hat Dir einen Antrag gemacht? Wer hat um Deine Hand angehalten?“
„Der Onkel Justizrath!“ rief Lily, indem sie triumphirend ihr Bouquet schwenkte. „Er weiß es ja nicht, daß ich damals hinter der Salonthür stand und Alles mit anhörte. Ich habe ihm gleichfalls ewige Hochachtung und Freundschaft gelobt, aber er weinte fast darüber.“
Anna schüttelte unmuthig den Kopf.
„Ich begreife Freising nicht! Wie kann ein Mann, der so tüchtig und zuverlässig in seinem Berufe ist, in diesem einen Punkte immer wieder der Lächerlichkeit verfallen! Er ist nicht davon zu heilen.“
„O, ich werde ihn heilen,“ versetzte Lily zuversichtlich. „Ich werde ihm eine Frau verschaffen.“
„Lily, treibe nicht Kinderpossen!“ sagte die junge Frau verweisend, aber Fräulein Lily nahm das gewaltig übel in ihrem neu erwachten Selbstgefühl. Sie hob ihren Veilchenstrauß wie ein Triumphzeichen empor, hielt ihn der Schwester dicht unter die Augen und verlangte feierlichst, hinfort als Erwachsene behandelt zu werden. Sie erklärte, jetzt sehr viel von „solchen Dingen“ zu verstehen, und drohte noch nachträglich, Frau Justizräthin zu werden.
Leider machte diese Rede nicht den geringsten Eindruck auf Anna. Sie nahm ihrer Schwester ruhig die Blumen aus der Hand, legte sie auf den Tisch und sagte ernst und bestimmt:
„Laß die Thorheiten und höre mich an! Ich habe Ernstes mit Dir zu besprechen.“
Lilly wurde auf einmal ganz kleinlaut. Sie kannte diesen Blick und Ton, vor dem sie eine heilsame Furcht hegte, all ihr Selbstbewußtsein hielt nicht Stand davor und sie blickte fast erschrocken auf.
„Ich habe diese Handschrift schon öfter bemerkt,“ sagte Anna, den Brief hervorziehend, „aber ich glaubte, Du correspondirtest mit einem Deiner ehemaligen Lehrer. Erst heute sehe ich, daß der Brief aus Werdenfels kommt. Wer schreibt Dir von dort?“
Das junge Mädchen erröthete bis an die Schläfe, erwiderte aber ohne Zögern:
„Von dem Baron Paul Werdenfels.“
„So? Er schreibt Dir also öfter, und Du hast ihm auch vermuthlich geantwortet. Weshalb verschwiegst Du mir das?“
„Weil Du so grausam warst und ihm nicht einmal ein Wort des Trostes gönnen wolltest!“ rief Lily aufflammend. „Ich habe Dir doch seine Verzweiflung geschildert, ich habe Dir gesagt, daß er am Rande des Selbstmordes stand, aber Du wolltest mich nicht hören. Da habe ich mich seiner angenommen, ich habe ihm erlaubt, mir zu schreiben, und Dir verschwieg ich es, weil Du mir den Briefwechsel verboten hättest. Aber ich lasse es mir nicht verbieten, einen Unglücklichen zu trösten und vom Tode zu retten. Meine Tröstungen sind ja überhaupt das Einzige, was ihn noch im Leben festhält, das sagt er mir in jedem Briefe.“
Sie hielt in athemloser Erregung inne, Anna’s Blick ruhte forschend auf den Zügen des jungen Mädchens, das gar nicht ahnte, wie viel diese leidenschaftliche Aufregung verrieth, dann sagte sie mit Nachdruck:
„Lily, ich werde diesen Brief in Deiner Gegenwart öffnen und lesen.“
„Thu das nur!“ rief Lily heftig. „Du wirst es sehen, daß nur von Dir darin die Rede ist.“
Anna erbrach den Brief und begann zu lesen. Es war ein ziemlich umfangreiches Schreiben von drei Bogen, das allerdings sehr melancholisch begann. Paul erklärte, er könne und werde es nie verschmerzen, daß ihm das Ideal seines Lebens verloren sei, sprach von einer düsteren, trostlosen Zukunft, beeilte sich aber hinzuzufügen, daß diese Zukunft doch wenigstens durch einen tröstenden Lichtstrahl erhellt werde, und strömte über von Dankbarkeit gegen die junge Trösterin. Dann entschuldigte er sich, daß er diesmal schreibe, ohne die Antwort abzuwarten, und damit lenkte der Brief in einen ruhigeren Ton ein. Es war viel von gewissen Haselsträuchen am Schloßberg die Rede, nach denen der junge Baron eine merkwürdige Sehnsucht zu empfinden schien, dann berührte er die peinlichen Verhältnisse in Werdenfels, die es ihm zur Pflicht machten, jetzt an der Seite seines Onkels zu bleiben und die Uebersiedelung nach Buchdorf noch aufzuschieben, und dann folgte eine sehr ausführliche Beschreibung seiner zukünftigen Heimath.
Er schilderte Lily das Herrenhaus, den Park, das Gut selbst mit seinen Umgebungen auf’s Allergenauste, theilte ihr mit, welche Einrichtungen und Verbesserungen er zu treffen gedenke, kurz er machte sie zur Vertrauten seiner düsteren Zukunft, die sich übrigens nach dieser Beschreibung ganz heiter anließ, denn der junge Gutsherr war offenbar entzückt von seinem neuen Besitz. Endlich folgte noch die Erzählung eines sehr komischen Intermezzos, zu dem Arnold in Buchdorf Veranlassung gegeben hatte. Erst ganz am Schluß schien es dem jungen Manne einzufallen, daß er ja eigentlich in Verzweiflung sei, er kehrte deshalb mit einer kühnen Wendung zu der Anfangsstimmung seines Briefes zurück, erklärte, wenn er auch auf Augenblicke sein herbes Schicksal vergessen könne, so laste es dennoch mit Centnerschwere auf seiner Seele, und legte es Lily dringend an’s Herz, ihm dies Centnergewicht durch eine baldige Antwort zu erleichtern.
Anna’s Stirn begann sich immer mehr aufzuhellen, je weiter sie las, als sie zu Ende war und den Brief zusammenlegte, schwebte sogar ein halbes Lächeln um ihre Lippen. Lily, die neben ihr stand und mitgelesen hatte, blickte sie erwartungsvoll an.
„Nun, was sagst Du zu dem Briefe? Der arme Paul Werdenfels, er ist so unglücklich!“
„Ich glaube, er wird sich trösten,“ sagte Anna ruhig. „Er scheint mir auf dem besten Wege dazu.“
Lily schüttelte zweifelnd das Köpfchen.
„Ich fürchte, er überwindet es nie! Er hat mir ja selbst gesagt, daß sein Schmerz ewig ist, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn ich ihm damals nicht die Flinte aus der Hand genommen und sie in den Schloßgraben geworfen hätte!“
„Hast Du Dich auch überzeugt, ob die Flinte geladen war?“ fragte Anna mit einem Lächeln, das sie diesmal nicht zu unterdrücken vermochte.
„O Anna, wie kannst Du so spotten!“ fuhr das junge Mädchen empört auf. „Gilt sie Dir denn gar nichts, diese anbetende Liebe, dieser Schmerz und Gram um Deinen Verlust? Wenn ich so geliebt würde –“
Sie vollendete nicht, sondern hielt wie erschrocken inne, aber ihr ganzes Antlitz war in Gluth getaucht.
„Ich spotte nicht,“ sagte Anna ernster. „Ich bin nur überzeugt, daß es sich hier um eine Jugendschwärmerei handelt, die rein und ideal sein mag, die aber auf die Dauer nicht Stand halten würde. Paul Werdenfels und ich sind zu verschieden geartet, als daß sich je ein festeres Band zwischen uns knüpfen könnte. Aber er braucht sich dieser Jugendneigung nicht zu schämen, und ich mache ihm wahrlich keinen Vorwurf daraus. Du würdest das auch nicht thun, Lily, wenn Dir später einmal ein Mann bekennen sollte, daß er vor Dir eine Andere geliebt hat, nicht wahr?“
„Nein, gewiß nicht,“ versicherte Lily mit einer Unbefangenheit, die deutlich verrieth, wie ahnungslos sie noch über ihre eigenen Gefühle war. „Aber hier handelt es sich ja nicht um mich, Du verlangst doch nicht, daß ich den Briefwechsel aufgebe?“
„Willst Du mir versprechen, den jungen Werdenfels nicht wieder anzusehen, ohne daß ich davon weiß, und mir jeden seiner Briefe zu zeigen?“
„Und wenn ich es Dir nun verspreche, wirst Du mir dann erlauben ihm zu antworten? O Anna, sei nicht hart! Du siehst es ja, wie verzweifelt er noch immer ist, und Du hast ja das ganze Unglück angerichtet!“
Sie hob bittend die gefalteten Hände zu der Schwester empor, die sie leise an sich zog. Die junge Frau drückte einen Kuß auf das rosige Gesichtchen, und ihre Stimme schmolz in Weichheit, als sie antwortete:
„Nein, meine kleine Lily, ich will nicht hart sein gegen ihn und – gegen Dich. Ich will ihm seinen ‚Lichtstrahl‘ nicht rauben. Beantworte den Brief, wenn Du willst, und halte nur Dein Versprechen. Vielleicht kommt Baron Paul noch einmal [255] nach Rosenberg und erzählt Dir mündlich von seinem schönen Buchdorf.“
Lily verstand die letzten Worte nicht, sie war ja felsenfest überzeugt, daß Paul einzig und allein ihre Schwester liebe, aber sie schlang mit der ganzen stürmischen Freude eines Kindes ihre Arme um den Hals der jungen Frau und flog dann mit ihrem Briefe davon, um sich schleunigst an den Schreibtisch zu setzen. Das Veilchenbouquet, das zu Boden gefallen war, lag unbeachtet auf dem Teppiche, das junge Mädchen hatte jetzt andere Dinge im Kopfe, als den Antrag des Onkel Justizrath.
Anna Hertenstein sah dem glücklichen Kinde nach, und um ihre Lippen zuckte ein Ausdruck schmerzlicher Wehmuth, als sie leise sagte:
„Nein, es wäre ein Unrecht, diese aufkeimende Neigung zu hindern. Vielleicht ist meiner Lily das Glück beschieden, das mir versagt wurde – mit einem Werdenfels!“
Wieder waren Wochen vergangen. Der Winter herrschte noch immer mit unverminderter Strenge, obgleich der März schon begonnen hatte; er lastete diesmal schwer und hart auf Werdenfels und dessen ganzer Umgebung. Es waren schlimme Krankheiten im Dorfe ausgebrochen, die Manchen dahinrafften und Noth und Elend im Gefolge hatten, aber auch für die Gesunden fehlte es an Verdienst und Arbeit. Dazu zeigte sich das Unheilsgespenst der Umgegend, die Eisjungfrau, unheilbringender als je. Die Stürme, welche von der Geisterspitze niederwehten, waren nie so heftig und verderblich gewesen. Eine Waldung, die der Gemeinde gehörte und deren Hauptvermögen bildete, wurde durch einen jener Stürme verwüstet und zur Hälfte niedergebrochen, die einzelnstehenden Gehöfte wurden schwer beschädigt, es kamen sogar Menschen in jenen Schneewehen um – kurz, es war ein Unglückswinter für Werdenfels.
Das Dorf hatte freilich eine zuverlässige Stütze an seinem Pfarrer, der überall helfend und ermuthigend eintrat. So weit sein Pfarrbezirk reichte, so weit reichte auch seine Hand und sein Auge. Kein Weg war ihm zu weit, kein Opfer zu schwer, und mit Wort und Beispiel wußte er auch die Wohlhabenderen zu solchen Opfern anzutreiben. Aber das Alles reichte nicht aus, der immer steigenden Noth gegenüber, und der Eine, dessen Hülfe ebenso unbeschränkt gewesen wäre, als seine Mittel zu helfen, war ja förmlich in den Bann gethan worden, sodaß Niemand wagte, etwas von ihm anzunehmen.
Raimund von Werdenfels hatte in der That nach jener letzten tiefbeleidigenden Zurückweisung die ferneren Annäherungsversuche aufgegeben, aber gewichen war er jenem Banne nicht. Er blieb in Werdenfels und bot der Feindseligkeit Trotz, die sich immer drohender gegen ihn erhob, je mehr sie durch den alten Aberglauben genährt wurde. Es war ja Friede und Gedeihen gewesen im Orte jahrelang, aber seit der Felsenecker von seinem Bergschlosse gekommen war, folgte Unglück auf Unglück. Mit jenem Sturme, der seine Ankunft begleitete, hatte es begonnen, und es wich auch nicht wieder, so lange er im Schlosse war. Er hatte ja schon einmal dem Dorfe Verderben gebracht.
Den Glauben theilte ganz Werdenfels vom reichsten Bauer bis zum ärmsten Tagelöhner. Sie hatten den Gutsheren gehaßt, als er es versuchte, ihnen Wohlthaten zu erweisen; jetzt, wo er ihnen in finsterer Zurückhaltung gegenüberstand, haßten sie ihn noch mehr. Die ganze Ungerechtigkeit der Armuth und des Aberglaubens wendete sich gegen ihn, bei jedem neuen Schicksalsschlage richteten sich alle Augen nach dem Schlosse, als sei dort allein die Quelle des Unheils zu suchen.
Es war allerdings Grund genug zu einer niedergedrückten Stimmung vorhanden; denn auch die Reise des Pfarrers nach der Residenz hatte nicht den erwarteten Erfolg gehabt, er hatte seinen Pfarrkindern nicht die Gewährung mitgebracht, auf die sie so sicher rechneten. Vilmut lernte in der That die endlosen Schwierigkeiten kennen, die man ihm prophezeit hatte, und er, dessen Einfluß und Wille in seinem Dorfe allmächtig waren, mußte die Erfahrung machen, daß er bei den Behörden wie jeder andere Bittsteller behandelt wurde. Selbst die Verwendung des Erzbischofes erwies sich als machtlos; denn man hatte an maßgebender Stelle bereits das Anerbieten des Freiherrn von Werdenfels und dessen Ablehnung erfahren. Vilmut mußte es mehr als einmal hören, wenn die Gemeinde reich genug sei, um ein derartiges Geschenk zurückzuweisen, so könne sie auch die Dammbauten auf eigene Kosten ausführen, die Hülfe des Staates sei für ärmere Ortschaften da. Es war nicht abzuleugnen, daß jene Zurückweisung einen höchst nachtheiligen Einfluß auf die schon so lange schwebenden diesbezüglichen Verhandlungen ausübte. Die Entscheidung wurde hinausgeschoben, die schon theilweise gegebenen Zusagen wieder zurückgenommen; Vilmut erreichte nichts als das Versprechen, daß die Angelegenheit nochmals in Erwägung gezogen werden solle. Damit aber wurde sie auf unbestimmte Zeit vertagt, von einer Beschleunigung war keine Rede.
Auch Frau von Hertenstein, deren Landgut gleichfalls zum Pfarrbezirk von Werdenfels gehörte, trat mit aller Energie für die Linderung der allgemeinen Noth ein. Sie war die Erste, welche dem Beispiele ihres Vetters folgte, und stand überall muthig und helfend an seiner Seite. Erst jetzt zeigte es sich deutlich, wie ähnlich die beiden Charaktere einander waren, kalt und hart, sobald es sich um die weicheren Empfindungen des Menschenherzens handelte, aber, sobald ihre Thatkraft herausgefordert wurde, von einer wahrhaft bewundernswerthen Aufopferung und Hingebung im Dienste der Menschenliebe. Es war nur natürlich, daß die Verehrung, welche der Pfarrer allgemein genoß, sich jetzt auch zum Theil auf die junge Frau übertrug, und Gregor, der sonst alles nur beherrschte, gestand ihr allein den Platz an seiner Seite zu.
Eines Tages war Anna mit ihrer Schwester wieder von Rosenberg herübergekommen und beide befanden sich mit Vilmut in dessen Wohnzimmer. Es wurde soeben über eine Unterstützung debattirt, die geschafft werden mußte und mit den vorhandenen Mitteln doch nicht zu schaffen war. Lily, die sich nie an solchen Gesprächen betheiligte, und der man auch nicht erlaubt hätte, sich darein zu mischen, stand am Fenster und sah hinaus; plötzlich aber wurde ihr ganzes Gesicht wie mit einer Rosengluth übergossen, während sie einen Gruß erwiderte, der von draußen gespendet wurde, und sich umwendend, sagte sie mit stockender Stimme:
„Gregor, ich glaube – ich glaube, Du erhältst Besuch – der junge Baron Werdenfels tritt soeben in das Pfarrhaus.“
„Paul Werdenfels? Unmöglich!“ rief Vilmut; aber Lily’s Augen hatten sie nicht getäuscht. Man vernahm bereits draußen im Hausflur die Stimme Paul’s, der nach Seiner Hochwürden fragte und von der Magd in das Studirzimmer gewiesen wurde, wo der Pfarrer fremde Besuche empfing.
„Was kann er wollen?“ fragte Gregor, indem er sich erhob. „Ich dächte, zwischen dem Schlosse und dem Pfarrhause gäbe es nichts mehr zu verhandeln, aber gleichviel, ich muß hören, was er mir bringt. Du bleibst doch, Anna, bis ich zurückkehre?“
Die junge Frau bejahte schweigend, mit einem Neigen des Hauptes, und Vilmut ging. Er schloß zwar die Thür des Studirzimmers, das von dem Wohnzimmer nur durch ein kleines Zwischengemach getrennt war, aber die zweite Verbindungsthür blieb offen, und wenn auch anfangs nichts von dem Gespräche zu verstehen war, das dort drüben geführt wurde, so erhoben sich die Stimmen der beiden Männer doch bald so laut und erregt, daß man jedes Wort vernehmen konnte.
Paul stand bereits im Studirzimmer, als der Pfarrer eintrat, und begrüßte diesen mit einer sehr kühlen und gemessenen Verbeugung.
„Sie werden erstaunt sein, Hochwürden, mich hier zu sehen,“ begann er. „Es ist jedoch etwas Außergewöhnliches, das mich zu Ihnen führt.“
„Das setzte ich voraus,“ erwiderte Vilmut, ebenso kühl und gemessen, indem er dem Gaste Platz anbot, aber Paul schien das nicht zu bemerken, sondern blieb stehen, während er fortfuhr:
„Mein Onkel weiß nichts von diesem Besuche. Er würde mir schwerlich gestattet haben, die Schwelle des Pfarrhauses zu überschreiten, und ich gestehe, daß mir das schwer geworden ist unter den obwaltenden Umständen. Es sind jedoch Dinge vorgefallen, die mich zwingen, einmal offen mit Euer Hochwürden zu reden. Ich komme, Sie zu mahnen, daß Sie endlich ein Wort des Friedens sprechen in diesem Streite zwischen den Bewohnern [256] von Werdenfels und ihrem Gutsherrn. Es ist wahrlich die höchste Zeit, daß Sie Ihre Pflicht als Priester üben.“
Vilmut sah den jungen Mann, der es wagte, in solcher Weise zu ihm zu sprechen, von oben bis unten an.
„Ich bin es nicht gewohnt, an meine Pflicht gemahnt zu werden,“ entgegnete er, „am allerwenigsten von Leuten Ihres Alters, Herr Baron. Das Wort, das Sie erwarten, muß von dem Freiherrn gesprochen werden. Wenn er ernstlich den Frieden will, so wird er ihn finden, wenn nicht, so –“
„Mein Onkel hat dem Dorfe oft genug den Frieden geboten,“ unterbrach ihn Paul. „Man hat mit Beleidigungen darauf geantwortet. Mit Menschen, die lieber darben und hungern, ehe sie die helfende Hand ergreifen, die lieber ihre eigene Sicherheit und die ihrer Heimath preisgeben, ehe sie den gebotenen Schutz annehmen, ist überhaupt nicht zu rechten. Sie sind entweder wirklich unversöhnlich oder – sie sind blinde, beschränkte Werkzeuge eines fremden Willens.“
Er sprach die letzten Worte mit scharfer Betonung.
Vilmut hörte mit einem Gemisch von Erstaunen und Entrüstung zu. Er hatte bei jener ersten Begegnung die Achseln gezuckt über den jungen Menschen, der damals nichts im Kopfe hatte, als seine Schwärmerei für die schöne Reisegefährtin, und der ihm herzlich unbedeutend erschien. Dies entschiedene Auftreten überraschte ihn, aber er war viel zu sehr erfüllt von dem Gefühle seiner Ueberlegenheit, als daß es ihm hätte imponiren sollen.
„Sie sind im Irrthum,“ erwiderte er. „Die Gemeinde handelte aus eigener, freier Entschließung, als sie die Anerbietungen des Freiherrn ablehnte. Ich habe ihr allerdings meine Meinung nicht verhehlt, daß ein Geschenk aus solcher Hand nicht Segen bringen könne und daß sie besser thue, der eigenen Kraft zu vertrauen.“
„Hat etwa die Ablehnung Segen gebracht? Doch es handelt sich nicht darum, sondern um die fortwährenden Angriffe auf uns, die mit jedem Tage frecher und bedrohlicher werden. Seit die Zerstörung unserer schönen Ceder ungestraft geblieben ist, werden die Schloßgärten systematisch verwüstet. Es vergeht keine Woche, wo nicht irgend ein seltener Baum oder Strauch zum Opfer fällt, weil man weiß, daß der Schloßherr Werth auf diese Zierden seines Parkes legt. Sogar in die Gewächshäuser hat man sich während der Nacht Eingang zu verschaffen gewußt, um die Orangerie zu beschädigen, und der Marstall ist vorgestern nur durch die Wachsamkeit eines Reitknechtes gesichert worden, wahrscheinlich galt das geplante Attentat diesmal dem Lieblingspferde meines Onkels. Ich nehme an, daß Sie von diesen Dingen unterrichtet sind, Hochwürden.“
„Und glauben Sie etwa, daß ich dergleichen Ausschreitungen billige oder beschütze? Sie zu strafen ist meines Amtes nicht. Wozu hat der Freiherr seine Verwalter und seine Dienerschaft? Er mag die Sache untersuchen und die Thäter bestrafen lassen mit aller Strenge, ich werde ihn wahrlich nicht daran hindern.“
„Das ist es ja eben, daß er keine Untersuchung und Bestrafung will!“ rief der junge Mann heftig. „Ich wollte den heimtückischen Zerstörern bald auf die Spur kommen, aber er duldet es ja nicht.“
„Er wird seine Gründe haben,“ sagte Gregor kalt. „Und wenn er es nicht wagt, die Thäter zur Rechenschaft zu ziehen, so thun Sie am besten, seinem Beispiele zu folgen.“
„Raimund ist kein Feigling!“ brauste Paul auf. „Wie oft habe ich ihn gebeten, nach Felseneck zurückzukehren, wo er sicher ist vor all diesen Quälereien, aber es ist umsonst. Er bleibt und bietet immer wieder der Gefahr die Stirn, mit einer Hartnäckigkeit, die ihm noch das Leben kosten wird.“
Vilmut zuckte die Achseln.
„Sie übertreiben! Von Gefahr ist doch wahrlich keine Rede. So arg auch jene Ausschreitungen sein mögen, die ich – ich wiederhole es Ihnen – auf das Strengste verdamme – die persönliche Sicherheit des Freiherrn ist doch in keinem Falle bedroht!“
„Sind Sie so fest davon überzeugt?“
„Ja, das bin ich!“
„Nun denn, so sage ich Ihnen, daß man schon zweimal versucht hat, die Pferde an dem Wagen meines Onkels scheu zu machen, als er nach Felseneck fuhr, und das gerade an der gefährlichsten Stelle des Weges, dicht am Flusse. Und heute Morgen, als wir an dem Gehölz bei der Bachmühle vorüberritten, flog ein Stein aus dem Hinterhalt, ein mächtiger Feldstein, mit sicherer Hand geworfen; hätte das Pferd nicht instinctiv einen Seitensprung gemacht, so wäre Raimund der Kopf zerschmettert worden. Sie sehen, man ist im Zuge mit dem, was Sie Ausschreitungen nennen. Heute sind es Steine, morgen werden es Kugeln sein, und die werden vermuthlich besser treffen. Hier zu Lande weiß ja jeder Bauer und jeder Knecht mit dem Stutzen umzugehen.“
[269] Vilmut war bleich geworden, dieser Nachricht von den Angriffen gegen das Leben des Freiherrn schien auch seine Ruhe nicht Stand zu halten, denn er trat wie in jähem Schrecken einen Schritt zurück, dann aber sagte er kurz und bestimmt:
„Sie haben Recht, dem muß ein Ende gemacht werden! Ich ahnte nicht, daß der Haß so weit gehen könne, aber diese Angriffe werden sich nicht wiederholen, mein Wort darauf!“
„Also können Sie ihnen doch ein Ende machen?“ sagte Paul mit bitterem Vorwurf, „und erst jetzt, im Angesichte eines Mordversuches, entschließen Sie sich dazu?“
Gregor hatte bereits seine Fassung wiedergefunden, und seine Stimme hatte den alten unbewegten Klang, als er antwortete:
„Herr Baron, ich lebe seit zwanzig Jahren in Werdenfels und habe ein besseres Urtheil über die hiesigen Verhältnisse als Sie, der Sie erst seit wenigen Monaten hier sind. Ihnen mag dieser Haß und diese Feindseligkeit des Volkes empörend erscheinen, ich erkläre Ihnen aber, daß damit nur ein Urtheil vollzogen wird an dem Manne, der sich einem anderen Urtheilsspruch nicht beugen wollte. Fragen Sie mich nicht, warum ich nicht früher eingegriffen habe, ich wäre sonst gezwungen, Ihnen Dinge zu enthüllen, von denen Sie keine Ahnung haben.“
Paul lachte verächtlich auf.
„Sprechen Sie nur immerhin! Ich kenne das alberne Märchen, das sich an den Brand von Werdenfels knüpft. Man erzählt es sich ja laut genug in der Umgegend, es ist auch mir zu Ohren gekommen, aber Sie muthen mir doch wohl nicht im Ernste zu, daran zu glauben!“
„Ich muthe Ihnen nur zu, den Freiherrn selbst zu befragen. Hören Sie seine Antwort und dann spotten Sie weiter über das ‚alberne‘ Märchen.“
Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich, und seine Stimme klang ernster, als er erwiderte:
„Ich weiß, daß hier irgend ein schweres, dunkles Geheimniß liegt, das das ganze Leben des Freiherrn verdüstert und ihn zu dem gemacht hat, was er ist, aber ich weiß auch, daß Raimund von Werdenfels kein Verbrecher sein kann, und wer ihn dazu stempeln will, ist ein Lügner! Ein Lügner!“ wiederholte er mit vollem Nachdruck, als Vilmut ihn unterbrechen wollte. „Das werde ich nöthigenfalls der ganzen Welt gegenüber vertreten, ich bedarf keiner Fragen und keiner Beweise – ich kenne meinen Onkel!“
Es lag etwas so Muthiges, Ritterliches in dieser Vertheidigung, in diesem energischen Eintreten für die Ehre eines Anderen, daß selbst Vilmut nicht ganz unberührt davon blieb, der strenge Ausdruck seiner Züge milderte sich etwas.
„Diese Zuversicht macht Ihrem Herzen Ehre, ich bedaure, sie nicht theilen zu können, und deshalb wollen wir nicht darüber streiten. Im Uebrigen wiederhole ich Ihnen mein Versprechen. Die persönliche Sicherheit des Freiherrn soll nicht mehr bedroht werden. Ich werde jenen Angriffen ein Ende machen.“
„Nun, Hochwürden, wenn Sie denn doch so allmächtig sind, so machen Sie zuvörderst dem Aberglauben ein Ende,“ sagte Paul, gereizt durch die Unfehlbarkeit jener Worte, „diesem kindischen Glauben, der in dem Gutsherrn einen Hexenmeister und Teufelsbanner, einen Unheilbringer und der Himmel weiß was noch Alles sieht. Ganz Werdenfels schwört darauf, vom reichsten Bauer bis zum ärmsten Tagelöhner; die Sache wäre einfach lächerlich, wenn sie nicht empörend wäre in unserem Zeitalter. Mit einer einzigen energischen Rede von der Kanzel hätten Sie dem Unfug ein Ende machen können, aber freilich, Raimund hat Recht, der Aberglaube ist Ihnen ein zu nützliches Zucht- und Schreckmittel, als daß Sie ihn entbehren könnten.“
Gregor richtete sich zu seiner vollen Höhe auf.
„Herr Baron, Sie scheinen zu vergessen, daß ein Priester vor Ihnen steht. Raimund von Werdenfels ist Ihnen ein schlimmer Lehrmeister gewesen, bei ihm haben Sie diesen Trotz gegen die Kirche gelernt, aber von ihm sollten Sie auch lernen, wohin es führt, wenn die Kirche ihre Segnungen verweigert. Fordern Sie mich nicht auch zum Kampfe heraus, es könnte ein Tag kommen, wo auch wir Beide uns als Feinde gegenüberstehen.“
Er stand vor dem jungen Manne mit der ganzen stolzen Unnahbarkeit des Priesters, der von jedem Bekenner seines Glaubens Unterwerfung fordert, weß Standes er auch sei, aber die hellen klaren Augen Paul’s wichen den seinigen nicht, und auch seine Stimme erhob sich jetzt laut und volltönend:
„Das heißt mit anderen Worten, Sie drohen mir in Buchdorf dieselbe Hölle zu bereiten, wie meinem Onkel in Werdenfels. Sie wollen auch dort Alles gegen mich hetzen? Wie Sie eine solche Drohung mit Ihrer Priesterpflicht vereinigen, ist Ihre Sache, die unserige ist es, uns dagegen zu wehren, und das werden wir thun. Ich fürchte mich nicht vor der geistlichen Ruthe, wie Ihre Bauern, und ich werde auch meine Buchdorfer davon zu entwöhnen suchen. Die Werdenfelser gebe ich auf, die sind blind und willenlos in Ihrem Banne. In meiner künftigen Heimath aber werde ich Alles daran setzen, daß es hell wird in den Köpfen, [270] denn ich sehe, wie noth das thut. Werfen Sie mir nur den Fehdehandschuh hin, ich nehme ihn auf, und es soll ein frischer fröhlicher Krieg werden!“
Der ganze kecke Trotz der Jugend sprach aus diesen Worten, aber sie verriethen doch mehr, als nur jugendlichen Uebermuth, es lag eine Energie darin, die ihre Wahrheit verbürgte.
Das mochte auch Vilmut fühlen, denn seine Augen hafteten auf dem jungen Manne mit einem Ausdruck, als wolle er die Stärke des Gegners abschätzen. Dann aber sagte er mit jener eisernen Ruhe, die nicht zu erschüttern war:
„Sie sind sehr aufrichtig, Herr von Werdenfels! Jedenfalls weiß ich nun, was ich von dem neuen Gutsherrn von Buchdorf zu erwarten habe, und werde mich darnach richten. Für den Augenblick stehen Sie noch als Gast unter dem Dache meines Hauses, sonst –“
„Bemühen Sie sich nicht, ich gehe schon!“ fiel Paul ein. „Aber eines bitte ich Sie doch Ihren Bauern mitzutheilen. Ich halte es nach den letzten Vorfällen für nothwendig, einen geladenen Revolver bei mir zu führen, und wenn einer von der Mordbande sich wieder an meinen Onkel wagt, so schieße ich ihn ohne Weiteres nieder. Wir sind jetzt im Stande der Notwehr, da denke ich das vertreten zu können!“ und mit einem kurzen, stolzen Gruße, welcher nicht erwidert wurde, verließ Paul das Zimmer.
Draußen im Hausflur blieb der junge Mann noch einige Secunden stehen, um die Erregung niederzukämpfen, wie er sich sagte, aber sein Blick, der so sehnsüchtig auf der gegenüberliegenden Thür haftete, gab eine andere Erklärung für dies Zögern; dann aber, wie unwillig über sich selbst, warf er den Kopf zurück und wandte sich zum Gehen.
Da wurde jene Thür leise geöffnet und ebenso leise wieder geschlossen. Eine zierliche, leichte Gestalt glitt heraus, und in der nächsten Minute stand Lily vor dem jungen Baron, der bei ihrem Anblick freudig überrascht auffuhr.
„Fräulein Vilmut! Wie sehr habe ich die Gelegenheit gesucht, Sie nur einen Augenblick zu sehen, zu sprechen!“
Lily blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf und streckte ihm zutraulich die Hand entgegen, während sie mit gedämpfter Stimme, aber aus Herzensgrunde sagte:
„Ich danke Ihnen, Herr von Werdenfels! O, ich danke Ihnen!“
„Wie? Wofür denn?“ fragte Paul befremdet, aber dies Befremden hinderte ihn nicht, schleunigst die dargebotene Hand zu ergreifen und festzuhalten.
„Dafür, daß Sie dem Vetter Gregor endlich einmal die Wahrheit gesagt haben! Das wagt sonst Niemand, und deshalb dünkt er sich unfehlbar. Aber Sie haben ihn gründlich abgekanzelt, gerade so, wie er mich immer abkanzelt, und das freut mich, dafür danke ich Ihnen, das geschieht dem Gregor recht – ganz recht!“
Und Fräulein Lily stampfte mit den Füßchen und machte eine kleine Faust nach der Richtung des Studirzimmers.
Es war eine sehr kindische Zustimmung zu seiner Kriegserklärung, aber Paul war ganz entzückt darüber, und während er die Hand küßte, die noch immer in der seinigen lag, fragte er lächelnd:
„Sie erschrecken also nicht vor meiner Ketzerei? Sie, die Cousine des gestrengen Herrn Pfarrers!“
„In unserem Institut war man sehr freisinnig,“ erklärte Lily mit Selbstgefühl. „Deshalb war auch Gregor von Anfang an dagegen, er wollte mich zur Erziehung in ein Kloster stecken, aber Anna litt das nicht. Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr von Werdenfels! Ich fürchte mich auch nicht vor der geistlichen Ruthe, räumen Sie in Ihrem Buchdorf nur damit auf. Ich wollte, ich könnte Ihnen dabei helfen!“
„Ja, das wollte ich auch!“ fuhr Paul unwillkürlich heraus.
Seine kleine Vertraute war ihm nie so reizend erschienen, wie in diesem Augenblick, wo sie in voller Rebellion gegen den strengen Vetter mit heißgerötheten Wangen dastand.
Er beugte sich zu ihr nieder, und ihr tief in die Augen sehend, sagte er leise:
„Fräulein Lily, wir haben uns lange nicht gesehen – haben Sie denn bisweilen an mich gedacht?“
Um die Lippen des jungen Mädchens zuckte ein schelmisches Lächeln.
„Dafür haben Sie schon gesorgt. Sie schrieben mir ja oft genug.“
„Ich schreibe morgen wieder!“ rief Paul eifrig. „Ich werde Ihnen schriftlich alle meine Reformpläne hinsichtlich Buchdorfs aus einander setzen, und Sie werden mir umgehend antworten, nicht wahr?“
In der Wohnung des Pfarrers hörte man eine Thür öffnen und schließen, und Fräulein Lily, die so tapfer bei den Reformplänen und bei der Rebellion mithelfen wollte, fuhr erschrocken zusammen.
„Ich muß fort,“ flüsterte sie. „Wenn Gregor zufällig käme –“
„Dann gnade Gott uns Beiden!“ fiel Paul lachend ein. „Aber Sie haben Recht, auch ich darf nicht länger bleiben. Leben Sie wohl, Lily, und vergessen Sie mich nicht ganz!“
Er hatte ihre Hand bereits zum zweiten Male geküßt, jetzt unterzog er sich nochmals dieser Beschäftigung, ehe er wirklich ging. Lily sah ihm eine ganze Weile nach.
„Vergessen Sie mich nicht ganz!“
Das klang so innig und bittend, und eigentlich verstand es sich doch von selbst. Aber wie seltsam weich hatte er ihren Namen ausgesprochen und wie tief hatte er ihr dabei in das Auge gesehen!
In dem jungen Mädchen begann zum ersten Male eine Ahnung aufzudämmern, daß dieser Blick und Ton nicht blos der Vertrauten, der Trösterin galt, als welche sie sich bisher ausschließlich betrachtet hatte.
Lily erschrak bei dem Gedanken, und ihr Herz fing plötzlich so heftig an zu klopfen, daß sie die Hand darauf preßte, aber das half durchaus nichts, denn das Klopfen hörte nicht auf, und der Gedanke kam immer wieder, aber er verlor mehr und mehr das Erschreckende. Wenn Paul nun wirklich die Hoffnungslosigkeit seiner ersten Liebe eingesehen hatte – man fand ja allgemein, daß die beiden Schwestern einander so sehr glichen, vielleicht fand er es auch.
Mit gesenkten Augen und glühenden Wangen kehrte Lily in das Zimmer zurück. Sie fand Anna nicht mehr dort, und auch die zweite Verbindungsthür war jetzt geschlossen; diesmal drang kein Laut herüber von dem Gespräche, das dort drüben geführt wurde, aber das junge Mädchen dachte auch nicht mehr an das Lauschen, sondern warf sich, froh des Alleinseins, in den großen Lehnstuhl und begann zu träumen.
Vilmut ging mit tief verfinstertem Gesichte in dem Studirzimmer auf und nieder, ganz beschäftigt mit den Besorgnissen, die jenes Gespräch in ihm wach gerufen hatte. Er sah in dem für so unbedeutend und leichtsinnig gehaltenen jungen Manne einen gefährlichen Gegner erstehen, und was ihm Macht gab über den Herrn von Werdenfels, das existirte nicht für den Gutsherrn von Buchdorf, der stand ihm frei gegenüber, und er hatte soeben gezeigt, daß er diese Freiheit brauchen werde.
Da wurde unvermuthet die Thür geöffnet und Anna erschien. Sie trat vor den Pfarrer hin, der aus seinem Nachdenken auffuhr, und sagte ohne jede Einleitung, mit athemlos gepreßter Stimme:
„Siehst Du es nun endlich ein, Gregor, wohin dieser unselige Streit geführt hat?“
„Du hast gehört, was wir sprachen?“ fragte Gregor mit scharfem Tadel.
„Unfreiwillig! Eure Stimmen tönten ja so laut, daß jedes Wort vernehmbar wurde. Also so weit ist es bereits gekommen, Raimund’s Leben ist bedroht, man will ihn tödten!“
„Den Freiherrn von Werdenfels meinst Du!“ sagte Vilmut eifrig. „Du hörtest ja, daß ich seinem Neffen das Versprechen gab, diesen Angriffen ein Ende zu machen.“
„Wenn das noch in Deiner Macht steht! Ich fürchte, es ist zu spät dazu.“
Ein stolzes, halb verächtliches Lächeln kräuselte Vilmut’s Lippen bei diesen Worten.
„Meine Pfarrkinder sind gewohnt, meinem Worte zu folgen, sie werden auch diesmal gehorchen.“
„Und sie haben Dir doch diesmal verschwiegen, was der junge Baron Dir soeben enthüllte. Du wußtest nichts davon, Du, der sonst Alles weiß und erfährt, was im Umkreise von Werdenfels geschieht. Du hast die Geister des Hasses und der [271] Zwietracht gerufen, versuche es, ob Dein bloßer Wink sie wieder bannen kann, ich zweifle daran.“
„Mäßige Dich, Anna!“ sagte Vilmut streng. „Du weißt nicht, was Du sprichst. Wenn wirklich eine Gefahr Werdenfels bedroht –“
„So trage ich die Schuld daran!“ fiel Anna leidenschaftlich ein, „denn ich habe ihn hergerufen.“
„Du?“
„Ja, und er ist dem Rufe gefolgt.“
„Also das war der Inhalt jener Unterredung in den Bergen? Ich hätte es wissen können, als er so plötzlich wieder erschien. Deinem Rufe folgte er natürlich.“
„Zu seinem Unglücke! Ich wollte ihn der Träumerei, der Entnervung entreißen, in der er zu Grunde ging, und stachelte ihn so lange, bis er sich zu dem Entschlusse aufraffte. Nun ist er gekommen, nun steht er mitten in dem Kampfe, den Du ihm aufgezwungen hast, und wird darin unterliegen, denn weichen wird er Dir nicht zum zweiten Male – ich kenne Raimund.“
Das ganze Wesen der jungen Frau bebte in leidenschaftlicher Erregung; so hatte Gregor sie nur einmal gesehen, als er mit erbarmungsloser Hand ihren Glückes– und Liebestraum zerstörte. In seiner Schule hatte sie jene Selbstbeherrschung gelernt, die jeden Sturm der Seele niederzwingt vor fremden Augen, und jetzt brach der Sturm doch hervor, das sagte ihm genug. Die drohende Falte stand noch auf seiner Stirn, aber seine Stimme klang im herbsten Spotte, als er erwiderte:
„Du bist ja ganz außer Dir! Der bloße Gedanke an die Gefahr dieses Mannes raubt Dir fast die Besinnung. Beruhige Dich! Ich konnte dem allgemeinen, dem verdienten Hasse einen gewissen Spielraum lassen; sobald er sich bis zum Verbrechen versteigt, werde ich ihn zu zügeln wissen.“
„Kannst Du auch den Aberglauben zügeln?“ fragte Anna mit schmerzlicher Bitterkeit. „Paul Werdenfels hat Recht, er ist eine mächtige Waffe in Deiner Hand, aber auch eine zweischneidige Waffe. Du selbst hast das Volk gelehrt, in Raimund einen Unheilsbringer zu sehen, dessen bloße Nähe schon verderblich wird, dessen Wohlthaten selbst zum Fluche werden. Du hast geschwiegen zu all jenen unsinnigen Märchen, in denen er als der leibhaftige Böse erscheint. Die Leute glauben ja ihr Seelenheil gefährdet, wenn sie ein Geschenk aus solcher Hand annehmen, und damit allein hast Du es erreicht, daß Deine Gemeinde in blinder Unterwerfung unter Deinen Willen ihre eigene Sicherheit preisgab. Wer schützt das Dorf, wenn die Wasser ihm wirklich einmal drohen?“
„Der Gott im Himmel, der es so lange geschützt hat!“ sagte Vilmut energisch. „Wo die Gefahr von den Elementen droht, die seinem Willen gehorchen, da heißt es, ihm vertrauen.“
„Und wo Menschenarme den Elementen wehren können, da heißt es ihn herausfordern, wenn man diese Arme zurückhält, und das hast Du gethan.“
„Was soll das heißen, Anna?“ fuhr Gregor gereizt auf. „Welch eine Sprache wagst Du gegen mich zu führen? Habe ich Dir von meinem Thun Rechenschaft abzulegen? Ich dulde keinen Einspruch in dem, was ich für recht anerkenne, ich folge einzig der Stimme meines Gewissens.“
„Und die Noth der ganzen Umgegend giebt Dir die Antwort darauf!“ sagte Anna unerschrocken. „Wir können ihr nicht wehren mit all unseren Kräften, aber Raimund konnte und wollte es. Du weißt am besten, weshalb er die Arbeiten an den Dämmen mitten im Winter beginnen ließ und weshalb sie abgebrochen wurden. Jetzt darben die Leute auf Dein Geheiß und all ihr Haß, all ihre Bitterkeit wendet sich gegen den, der ihnen Hülfe bringen wollte. Raimund allein –“
„Raimund und immer Raimund!“ unterbrach sie Vilmut mit einer beinahe wilden Heftigkeit. „Hast Du denn gar keinen anderen Namen für diesen Werdenfels? Muß ich Dich an das Wort erinnern, das Du mir gabst, als Du die Gattin Hertenstein’s wurdest? Du selbst sagtest mir: Meine Liebe ist überwunden und begraben, ich nehme nichts davon mit hinüber in des neue Leben! Hast Du damals mich oder Dich selbst belogen?“
Er war zu der jungen Frau getreten, und seine Hand umschloß die ihrige mit so eisernem Drucke, daß es sie schmerzte. Trotzdem entzog sie ihm ihre Hand nicht, und ihr Auge begegnete groß und flammend dem seinigen.
„Wenn es eine Lüge war, mit der ich mich täuschte, so hast Du allein sie mir aufgezwungen. Du stelltest mir diese Liebe ja als ein Verbrechen hin, bis ich selbst daran glaubte, bis ich Raimund von mir stieß. Vielleicht hätte ich es nicht gethan, vielleicht hätte ich Schuld und Verzweiflung mit ihm getheilt, wäre der erbarmungslose Richter nicht an meiner Seite gewesen, der mich immer und immer wieder auf diese Schuld hin wies. Ich glaubte damals mit der Vergangenheit gebrochen zu haben, aber man hält Manches für todt und begraben, was dann plötzlich nach Jahren wieder aufwacht mit seiner alten unbezwungenen Macht.“
Gregor erbleichte bei den letzten Worten, langsam, wie unwillkürlich löste sich seine Hand von der Anna’s und sank nieder. Die junge Frau mißverstand diese Bewegung, sie trat zurück, und es legte sich ein unendlich herber Ausdruck auf ihre Züge, als sie fortfuhr:
„Fürchte nichts, Dein Werk bleibt bestehen! Wir sind und bleiben getrennt. Die Kluft zwischen uns ist zu weit und zu tief, als daß wir uns je die Hände reichen könnten. Aber geliebt habe ich Raimund von dem Augenblicke an, wo ich mich von ihm losriß, bis zu dieser Stunde. Das ist nicht niederzuzwingen und zu ertödten mit aller Willenskraft, das löscht keine Schuld aus und kein Verbrechen. Ich kann ihn verlassen, verwerfen, verdammen – lieben werde ich ihn in alle Ewigkeit!“
Sie athmete tief auf, als sei mit dem Geständniß eine Last von ihrer Brust genommen. Gregor stand regungslos da, ohne zu antworten, aber seine Augen hafteten mit einem seltsamen Ausdruck auf dem schönen, glühend erregten Antlitz. War es Zorn über das Bekenntniß, oder Haß gegen Raimund, der Blick ließ sich nicht enträthseln, aber es glühte unheilverkündend darin.
Da drang plötzlich das Geläute der nahen Kirche herüber, und Vilmut zuckte zusammen bei dem ersten Glockenton, wie von einer Mahnung getroffen.
„Die Messe!“ sagte er halblaut. „Ich muß zur Kirche.“
„So will ich gehen,“ versetzte Anna, der diese Unterbrechung nicht unwillkommen zu sein schien. „Ich war im Begriff, mit Lily nach Hause zurückzukehren, wenn Du jedoch wünschest, daß wir der Messe beiwohnen –“
„Nein. Ich erlasse es Dir. Geh!“
Die Schroffheit dieser Worte verletzte die junge Frau sichtlich, sie wandte sich kurz und kalt ab.
„Dann fahren wir sofort. Leb’ wohl!“
Sie verließ das Zimmer, und Gregor hatte kein Wort des Abschiedes für sie. Er stand noch immer wie in sich selbst verloren und noch immer weilte der räthselhafte Ausdruck in seinem Auge. Lauter und mahnender klangen die Glocken, die den Priester sonst hinwegriefen von jeder Arbeit, von jedem weltlichen Gedanken zu dem Dienst am Altare, dem er sich mit voller, begeisterter Ueberzeugung geweiht hatte. Sie riefen ihn auch heute, und er hörte den Ruf und war bereit, ihm zu folgen, aber mitten hinein in den Glockenton flüsterten und raunten die Worte, die wie mit glühender Schrift in seiner Seele eingegraben waren: Ich kann ihn verlassen, verdammen, verwerfen – lieben werde ich ihn bis in alle Ewigkeit!
Auf der Försterei, die inmitten der großen Bergforsten von Felseneck lag, herrschte ein ungewöhnliches Leben, denn man erwartete nichts Geringeres als den Besuch des Freiherrn. Das war nun freilich nicht mehr so unerhört, als es noch vor sechs Monaten gewesen wäre, denn seit der Gutsherr sich in Werdenfels befand, hatte er seine frühere Unzugänglichkeit und Abgeschlossenheit theilweise aufgegeben, aber es blieb doch immer ein außerordentliches Ereigniß.
Die Veranlassung dazu lag freilich nahe. Das Forsthaus war ein altes baufälliges Gebäude, dem die Stürme und Schneelasten dieses Winters hart zugesetzt hatten; ein Umbau erwies sich als dringend nöthig, und der Förster hatte sich deshalb brieflich an den Freiherrn gewandt. Er hatte auch die gewünschte Zusage erhalten, es sollte ein Baumeister aus der Stadt kommen, um die Besichtigung vorzunehmen und Bericht darüber zu erstatten, urplötzlich aber hatte Werdenfels seinen Entschluß geändert. Er wollte selbst kommen, um an Ort und Stelle persönlich die nöthigen Anordnungen zu treffen, und hatte seinen Besuch zu einem bestimmten Tage ankündigen lassen.
[272] Zufällig befand sich auch Emma Hofer bei ihren Eltern. Sie war gestern gekommen, um einige Tage auf der Försterei zuzubringen, wie dies öfter geschah, diesmal aber hatte sie Frau von Hertenstein begleitet. Der Förster und seine Frau waren ebenso erfreut als überrascht über diesen Besuch, denn wenn ihre Tochter auch Lily bisweilen mitbrachte, die junge Frau hatte noch niemals das Forsthaus betreten, das im Umkreise von Felseneck lag. Sie nahm auch diesmal die ihr herzlich gebotene Gastfreundschaft nur für einen Tag an und beabsichtigte schon am nächsten wieder nach Rosenberg zurückzukehren.
Der Freiherr wurde um die Mittagsstunde erwartet, da er erst nach Felseneck fuhr und von dort herüber kam. Der Förster mit seinem ganzen Personal war in voller Gala zum Empfange bereit, während sich seine Frau und Tochter unten im Wohnzimmer befanden, um den vielbesprochenen Raimund von Werdenfels zu sehen. Sie kannten ihn freilich von früheren Zeiten her, wo er oft in der Försterei gewesen war, aber das war vor langen Jahren gewesen, und in Felseneck war er ihnen ebenso unsichtbar geblieben, wie jedem Anderen.
Am Fenster des Gastzimmers, das im oberen Stock lag, lehnte Anna von Hertenstein ganz allein und sah in den beschneiten Wald hinaus. Die mühsam verhaltene Aufregung der jungen Frau ließ ahnen, daß ihr Hiersein gerade an dem heutigen Tage kein bloßer Zufall war. Bald verließ sie ihren Platz, um in heftiger Unruhe das Zimmer zu durchschreiten, bald trat sie wieder an das Fenster und blickte auf den Fahrweg, der zum Forsthause führte.
Sie hatte Raimund nicht wieder gesehen seit jener Stunde auf der Bergwiese, und seitdem waren Monate vergangen. Sie sah noch das bleiche, müde Antlitz, die Augen voll finsterer Träumerei, die matte, halb gebrochene Gestalt des Mannes, der längst mit dem Leben abgeschlossen hatte, und der nur in Momenten der äußersten Erregung noch fieberhaft aufflammte, um dann wieder zusammen zu sinken. So war er damals gewesen, was mochte jetzt aus ihm geworden sein, nachdem er all die Bitterkeiten gekostet hatte, die man ihm in Werdenfels bereitete; dem Kampfe war selbst eine frische ungebrochene Kraft nicht gewachsen, er mußte ihm erliegen.
Da endlich ertönte in der Ferne das Geläut des Schlittens, und bald darauf fuhr dieser am Forsthause vor. Es war ein rauher, trüber Wintertag, und der Wind wehte mit schneidender Schärfe, trotzdem kam Raimund im offenen Schlitten, und er trug nicht einmal den Pelz zum Schutz gegen die Witterung, sondern nur einen einfachen Mantel, ebenso wie Paul, der neben ihm saß. Der Letztere stieg zuerst aus und wollte seinem Onkel behilflich sein, aber Werdenfels schien das nicht zu bemerken, und die rasche Bewegung, mit der er sich aus dem Schlitten schwang, hatte beinahe etwas Jugendliches. Auch seine krankhafte Scheu vor den Menschen schien sich gemindert zu haben, er runzelte nicht einmal die Stirn, als er die sämmtlichen Forstleute zu seinem Empfange versammelt fand. Ruhig, ohne Stolz und ohne Herablassung erwiderte er die Begrüßung, und als er mit dem Förster sprach, da sah man deutlich, daß auch das Schlaffe, Matte aus seiner Haltung verschwunden war, er überragte sogar die jugendlich schlanke Gestalt Paul’s, der hinter ihm stand.
Anna hielt sich verborgen hinter dem Fenstervorhang, und auch ihr fiel jene Veränderung auf. Was war das? Hatte Raimund in dem Kampfe, wo sie ihn unterliegend wähnte, die so lange verlorene Energie wiedergefunden? Fast schien es so!
Der Förster geleitete jetzt die beiden Herren in das Haus, dessen Besichtigung sofort begann. Zuerst wurden die unteren Räume in Augenschein genommen, dann kamen die oberen an die Reihe, und jetzt klang die Stimme des Freiherrn dicht vor der Thür des Gastzimmers.
„Nein, Hofer, von einem Umbau kann keine Rede sein, das Haus ist zu baufällig. Sie bleiben einstweilen hier, bis das neue Forsthaus fertig ist, das drüben an der Waldseite stehen soll, dann wird das alte Gebäude niedergerissen. Der Baumeister soll mir schon in der nächsten Woche die Pläne vorlegen, damit die Arbeit bald beginnen kann.“
Der Förster erging sich in lebhaften Dankesäußerungen, Werdenfels achtete nicht darauf, er musterte die Thüren zu beiden Seiten des Hausflurs, als eine dieser Thüren sich öffnete und Frau von Hertenstein auf der Schwelle erschien.
[285] Paul fuhr zurück, er hätte alles Andere eher erwartet, als die junge Frau hier zu sehen, die wie eine plötzlich auftauchende Vision in dem Rahmen der Thür stand. Raimund dagegen zeigte keine besondere Ueberraschung bei diesem Zusammentreffen. Er verneigte sich und sagte mit kühler Höflichkeit:
„Ich bedaure, wenn wir stören, gnädige Frau.“
„Ich bin nur Gast hier,“ entgegnete Anna in demselben Tone, „aber ich höre, daß Sie eine Besichtigung des Hauses vornehmen, Herr von Werdenfels, und wollte bitten, dabei keine Rücksicht auf meine Anwesenheit zu nehmen. Das Zimmer, das ich bewohne, steht gleichfalls zur Verfügung.“
Sie trat etwas zurück, um den Eintritt frei zu lassen. Paul fand das Anerbieten sonderbar, und noch sonderbarer, daß es angenommen wurde. Was konnte denn an diesem Giebelzimmer liegen, wenn der Bau des neuen Forsthauses einmal beschlossene Sache war? Raimund schien indessen anderer Meinung zu sein, denn er trat ein, wandte sich aber auf der Schwelle zu seinen Begleitern.
„Die Wirthschaftsgebäude werden kaum in einem besseren Zustande sein,“ bemerkte er. „Willst Du die Besichtigung übernehmen, Paul? Hofer wird Dich führen, und ich verlasse mich darin ganz auf Dein Urtheil.“
Der junge Mann stutzte, und es wurde ein unbestimmter Argwohn in ihm rege. Seine Augen schweiften langsam von dem Freiherrn zu Frau von Hertenstein hinüber, aber er vermochte nichts in dem schönen ernsten Antlitz der jungen Frau zu lesen, und Raimund’s Züge blieben ihm vollends verschlossen.
„Wie Du wünschest,“ entgegnete er. „Du – willst inzwischen hier bleiben?“
„Ja,“ sagte Werdenfels kurz und bestimmt, indem er vollends eintrat.
Paul’s Blick flog mit einem seltsamen Ausdrucke zurück, während der Förster die Thür schloß, aber er schwieg. Erst als er mit seinem Begleiter am Fuße der Treppe angelangt war, blieb er plötzlich stehen und fragte hastig, aber mit gedämpfter Stimme:
„Seit wann ist Frau von Hertenstein bei Ihnen?“
„Seit gestern Abend,“ war die unbefangene Antwort des Försters. „Wir waren sehr erfreut, daß sie sich einmal entschlossen hat, meine Tochter zu begleiten und die Försterei zu besuchen.“
„So? Und wie lange denkt die Dame zu bleiben?“
„Sie will uns leider schon heute Nachmittag wieder verlassen, da sie nach Rosenberg zurück muß.“
„Das ist in der That ein kurzer Besuch; er lohnt ja kaum die weite Fahrt in dieser Winterszeit. – Frau von Hertenstein wußte natürlich nichts von der Absicht meines Onkels, heute die Försterei zu besichtigen?“
„Keine Silbe! Ich selbst habe ja erst gestern die Nachricht erhalten, und auch die gnädige Frau erfuhr es erst bei ihrer Ankunft. Sie würde sonst wohl einen anderen Tag gewählt haben.“
„Vermuthlich!“ sagte Paul kurz. „Lassen Sie uns jetzt gehen!“
Der Förster kam der Weisung nach, aber er konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß der junge Baron plötzlich so schweigsam und zerstreut geworden war. Paul hörte gar nicht auf die Erklärungen und Auseinandersetzungen, die ihm gegeben wurden, er sah sich kaum um in den Wirthschaftsräumen und kürzte die Besichtigung so viel als möglich ab. Er schien große Eile damit zu haben.
Die beiden Zurückgebliebenen waren allein. Raimund stand der jungen Frau gegenüber, aber es lag eine kalte, ernste Zurückhaltung in seinem Wesen, als er fragte:
„Du hast mich gerufen, Anna?“
„Ja,“ erwiderte sie leise. „Ich mußte Dich sprechen. Du hast mein Billet erhalten?“
„Die drei Zeilen von Deiner Hand, die mir die Försterei zur Zusammenkunft bestimmten – ja.“
„Mir blieb kein anderer Ausweg. Du begreifst, daß ich Dich nicht nach Rosenberg rufen konnte.“
„Weshalb nicht? Weil Gregor Vilmut Dir diese Zusammenkunft verboten hätte?“
„Verboten? Glaubst Du, daß ich so vollständig von seinem Willen abhängig bin?“
„Ich glaube, daß er in allem, was mich betrifft, Deinen Willen vollständig in Fesseln geschlagen hat. Ich habe Proben davon.“
Anna schwieg, sie mochte die Wahrheit dieses Vorwurfes empfinden, aber ihre Augen ruhten fragend und erstaunt auf dem Freiherrn. Erst jetzt, wo er vor ihr stand, sah sie, wie tief und mächtig jene Veränderung war, die sie schon beim ersten Anblick entdeckt hatte.
Raimund’s Antlitz war noch bleich, und es lag noch der [286] alte düstere Ernst darin, aber die Müdigkeit, die tödtliche Gleichgültigkeit war verschwunden und mit ihnen auch die starre, todte Ruhe, die so unheimlich und erkältend berührte. Es stand jetzt ein Zug tiefster Bitterkeit dort, aber auch ein Zug unleugbarer Energie. Die Augen waren noch träumerisch verschleiert, aber trotzdem leuchtete etwas darin, wie der Wiederschein einer Flamme, die sich hinter dem Schleier barg. Man sah es, der Mann hatte sich emporgerafft aus seinem Hinbrüten; er war erwacht, vielleicht zu Qual und Kampf, zu Schmerz und Bitterkeit, aber doch zum Leben erwacht.
„Du siehst, ich bin gekommen,“ nahm er wieder das Wort. „Was hast Du mir zu sagen?“
„Ich habe eine Bitte an Dich!“ sagte Anna hastig und gepreßt. „Ich fürchtete, daß ein Brief allein Dich nicht bewegen würde, deshalb bin ich selbst gekommen – verlaß Werdenfels!“
Raimund schien gerade diese Bitte am wenigsten erwartet zu haben, aber ohne nur einen Augenblick zu zögern, antwortete er mit voller Bestimmtheit:
„Nein.“
„Aber Dein Leben ist dort in Gefahr,“ mahnte Anna dringender. „Bis jetzt sind die Anschläge mißglückt, aber wenn Du fortfährst, Dich ihnen so auszusetzen, werden sie ihren Zweck erreichen. Kehre nach Felseneck zurück, geh’ auf Reisen, geh’ wohin Du willst, nur verlaß Werdenfels!“
„Um mich wieder als Feigling verachten zu lassen? Nein, diesmal bleibe ich und fechte den Kampf durch, bis zum Ende. Die Furcht war es nicht, die mich das erste Mal zwang, ihn aufzugeben, das solltest Du am besten wissen. Jetzt habe ich nichts mehr zu gewinnen, aber auch nichts zu verlieren, als höchstens das Leben, und der Verlust wiegt wahrlich leicht genug.“
„Aber wenn ich Dich bitte, Raimund! Wirst Du auch meine Stimme nicht hören? Ich habe Dich gerufen, ja, aber ich konnte ja nicht ahnen, daß Dir das bereitet war, als ich Dich zu der Welt und den Menschen zurückrief. Ich hoffte auf Versöhnung, ich glaubte wenigstens an einen offenen ehrlichen Kampf. Jetzt flehe ich Dich an, zu weichen, den Mordanschlägen zu weichen, die Dich auf Schritt und Tritt bedrohen. Wozu willst Du Dich dem wahnsinnigen Hasse dieser Menschen preisgeben, Du siehst es ja, wessen sie fähig sind. Sie werden nicht ruhen, bis Du ihnen wirklich zum Opfer fällst.“
Es war eine leidenschaftliche, angstvolle Bitte, aber sie schien abzugleiten an der kalten Bitterkeit, womit Werdenfels sich gewaffnet hatte.
„Nun, und wenn ich falle!“ fragte er. „Wen kümmert das? Vilmut und seine getreue Gemeinde werden darin nur die Vollstreckung eines verdienten Urtheils sehen. Paul wird durch meinen Tod Herr von Werdenfels. Ich glaube, daß er wahre Anhänglichkeit für mich hegt, aber das reiche Erbe wird ihn bald genug über meinen Verlust trösten, und Du – athmest vielleicht auf, wenn mit mir die Erinnerung an eine Vergangenheit erlischt, die sich bisweilen noch mahnend und quälend in Dein Leben drängt.“
„Raimund!“
Es war ein halb zürnender, halb vorwurfsvoller Ausruf. Raimund hielt inne, und seine eben noch so herbe Stimme verschleierte sich, als er fortfuhr:
„Oder würdest Du um mich weinen? Hättest Du wirklich noch eine Thräne für mich übrig?“
Die junge Frau hob das Auge zu ihm empor, und die heiß aufquellenden Thränen darin gaben ihm die Antwort, noch ehe die Lippen sie aussprachen:
„Dir liegt nichts mehr an dem Leben? Nun denn, so denke an mich und meine Angst! Schütze Dich – um meinetwillen!“
Eine leichte Röthe floß über das Antlitz des Freiherrn, es flammte darin auf, wie ein Wiederschein der Jugend und des Glückes, er trat rasch einen Schritt vor, als wolle er diesen thränenumschleierten Blick und diese bebenden Worte festhalten.
„Um Deinetwillen, Anna? Kennst Du Deine Macht so gut? Und Du weißt es doch nicht ganz, was Du mir einst gewesen bist. Der einzige Sonnenstrahl in einem Leben voll Nacht und Verzweiflung, das einzige Glück, das sich zu mir herniederneigte, um wie ein Traum zu verschwinden, als ich es in die Arme schließen wollte. Ich wähnte, das Alles sei untergegangen in der Bitterkeit unserer Trennung, und doch ist es bei mir gewesen in all den Jahren meiner Einsamkeit, und doch hat es mich allein im Leben festgehalten. Du hast es auch nicht überwunden, Du kannst auch nicht loskommen von der Vergangenheit. Anna – muß der Traum denn zu Ende sein? Kann er uns nie zur Wirklichkeit werden?“
Es war ein längstverschollener Klang, der aus diesen Worten hervorwehte, verschollen, aber nicht vergessen! Mit diesem Tone hatte einst Raimund um die Geliebte geworben, und das waren auch wieder seine Augen, mit der alten schwärmerischen Gluth, mit jenem strahlenden Aufleuchten, das die düsteren Tiefen auf einmal sonnenhell erscheinen ließ. So hatte er sich damals den Weg gebahnt zu dem Herzen des jungen Mädchens, dem man gelehrt hatte, das Leben nur als eine Kette harter, strenger Pflichten anzusehen, und das nun zum ersten Male die Seligkeit dieses Lebens kennen lernte. Wohl war der Traum kurz gewesen, aber er schloß doch ein grenzenloses Glück ein, und die stolze, willensstarke Frau erlag noch jetzt seinem Zauber. Widerstandslos lauschte sie den alten süßen Klängen und hatte weder die Kraft noch den Willen zu einem harten Nein.
Raimund war an ihre Seite getreten, jetzt beugte er sich leise nieder und ergriff ihre Hand, um sie in die seinige zu schließen, aber diese Berührung löste den Bann. Anna zuckte zusammen, als habe sie ein glühendes Eisen getroffen, mit einer unzweideutigen Bewegung des Schauders, des Entsetzens stieß sie die Hand von sich und wich zurück.
Werdenfels war todtenbleich geworden, das Leuchten in seinen Augen erlosch, und die alte Starrheit legte sich wieder schwer und kalt über seine Züge.
„Du hast Recht!“ sagte er dumpf. „Ich vergaß – was uns trennte.“
Die junge Frau schien sich jetzt erst bewußt zu werden, wie tief ihre Zurückweisung getroffen hatte.
„Vergieb,“ sagte sie tonlos. „Ich wollte Dich nicht kränken, es geschah unwillkürlich –“
„Daß Du mich zurückstießest! Gewiß! Die Regung war unwillkürlich und eben deshalb wahr. Ich weiß genug – lassen wir die Vergangenheit in ihrem Grabe.“
Anna strebte sichtbar, sich zu fassen, und es gelang ihr auch die verlorene Selbstbeherrschung wiederzufinden, sie wurde ruhiger, und jetzt war sie es, die dem Freiherrn nahte.
„Sei offen gegen mich, Raimund!“ sagte sie ernst und bittend. „Was enthielt jener Brief, den Du mir bei der Trennung sandtest? Du hast mir die Auskunft verweigert, und doch fühle ich, daß es eine Erklärung, eine Vertheidigung war. Vielleicht war ich ungerecht gegen Dich, vielleicht habe ich zu schnell verurtheilt. Sage mir die Wahrheit, ich – will nicht mehr davor zurückbeben.“
Sie machte eine Bewegung, wie um die Hand auszustrecken, aber Werdenfels hob die seinige nicht und seine Haltung blieb starr und eisig, als er antwortete:
„Das ist zu spät! Deine Empfindung hat zu deutlich gesprochen, ich täusche mich nicht mehr darüber, auch wenn Du selbst Dich täuschen wolltest. Du würdest Dich vielleicht überwinden und mir die Hand reichen, wenn Du alles wüßtest, aber ich würde in jedem Lächeln, in jedem Händedruck den Schauder und das Entsetzen fühlen, das nur Deine Willenskraft niederzwingt, und das wäre mir eine Hölle, schlimmer als all der Haß, den ich ertragen habe. Du wolltest mich damals nicht hören, als ich alles daran setzte, von Dir gehört zu sein, Du rührtest nicht einmal die Hand, als Vilmut mein Bekenntniß den Flammen überlieferte – nun denn, so laß es auch darin begraben sein!“
Die Worte trafen, Anna senkte das Haupt, aber sie machte keinen ferneren Versuch, ihm das Geheimniß zu entreißen, erst als er sich zum Gehen wandte, fragte sie mit wieder erwachender Angst:
„Und Du willst Werdenfels nicht verlassen?“
„Nein! Du hast mich auf den Kampfplatz gerufen, jetzt werde ich ihn behaupten. Mag Vilmut die ganze Bevölkerung gegen mich hetzen, mögen sie das Aergste versuchen, ich will ihnen nicht weichen, und ich weiche nicht, verlaß Dich darauf!“
Er ging und die Thür fiel hinter ihm zu. Das war nicht [287] mehr der haltlose „Träumer“, auf den Gregor so verächtlich herabsah, der mit krankhafter Scheu jede Berührung mit den Menschen floh. Es hatte einen eisernen Klang, dies „Ich will nicht weichen“, es gab Zeugniß davon, daß der Mann kämpfen und leben gelernt hatte.
Anna stand regungslos da, das Auge auf den Boden geheftet. Also war der Schritt umsonst, zu dem sie sich nach schwerem Kampfe entschlossen hatte. Raimund blieb und die Gefahr blieb, die ihn bedrohte. In der heißen Angst, die sie bei dem Gedanken überfluthete, gingen alle anderen Empfindungen unter. Sie hatte es ja erreicht, den Gebannten, Verfehmten in das Leben zurückzuführen, aber um welchen Preis!
Da wurde die Thür von Neuem geöffnet, und Paul Werdenfels erschien, aber er blieb auf der Schwelle stehen, und es lag eine ungewohnte Zurückhaltung und Fremdheit in der Art, wie er sich verneigte.
„Mein Onkel ist im Begriff, fortzufahren. Ich wollte mich Ihnen empfehlen, gnädige Frau.“
Anna sah auf, und plötzlich reifte ein Entschluß in ihrem Innern, sie gab dem jungen Manne ein Zeichen, einzutreten.
„Herr von Werdenfels, nur auf einige Minuten! Bitte, kommen Sie näher.“
Paul gehorchte, aber seine Augen hafteten forschend und unruhig auf den Zügen der jungen Frau; er sah es nun nur zu gut, wie bleich und erregt sie war.
„Ich war kürzlich ungesehen und unfreiwillig Zeuge Ihrer Unterredung mit dem Pfarrer Vilmut,“ begann sie. „Sie sprachen damals die Absicht aus, bei den jetzigen drohenden Verhältnissen in Werdenfels Ihrem Onkel zur Seite zu bleiben. Sie werden Wort halten, nicht wahr?“
„Gewiß, gnädige Frau. Zweifeln Sie nicht daran.“
Anna fühlte die Kälte in diesen Worten – trotzdem fuhr sie fort:
„Der Freiherr bedarf jetzt eines Freundes und vielleicht noch mehr eines Schützers. Er kennt die Gefahr, die ihn bedroht, in ihrem vollen Umfange, trotzdem will er Werdenfels nicht verlassen und denkt nicht einmal daran, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu nehmen.“
„Hat er Ihnen das selbst gesagt?“ fragte Paul mit einer Bitterkeit, die er nicht zu unterdrücken vermochte. „Ich sah allerdings, daß eine Unterredung ohne Zeugen gewünscht wurde.“
„Herr von Werdenfels,“ die Stimme der jungen Frau klang in rührender Bitte, „Sie haben mich geliebt, Sie haben um meine Hand geworben, und wenn ich auch glaube, daß diese Liebe mehr in Ihrer Phantasie als in Ihrem Herzen wurzelt, so weiß ich doch, daß ich jetzt Schweres von Ihnen verlange. Aber als Sie so muthig und energisch meinem Vetter Vilmut gegenüberstanden, da habe ich erkannt, daß Sie mehr werth sind, als Andere, und das giebt mir den Muth zu meiner Bitte. Bleiben Sie an Raimund’s Seite, denn ich fürchte, man wird noch ärger auf ihn einstürmen, als bisher. Wachen Sie über ihn, schützen Sie ihn, so weit es in Ihrer Macht steht.“
Es entstand eine Pause.
Paul war sehr bleich geworden und schien keine Antwort zu finden, endlich fragte er:
„Sie haben meinen Onkel in früheren Zeiten gekannt?“
„Ja,“ sagte Anna leise.
„Und er hat Ihnen – nahe gestanden?“
„Ja!“
Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.
„Dann begreife ich die Zurückweisung, die mir zu Theil wurde.“
„Herr von Werdenfels –“
„O, das soll keine Bitterkeit sein. Ich habe Raimund in diesen letzten Monaten kennen gelernt und weiß, daß er mit all seiner Düsterheit und Verschlossenheit, mit all seinen Seltsamkeiten doch einen Zauber ausübt, über den ich nicht gebieten kann. Es liegt etwas in seiner Persönlichkeit, das wider Willen zwingt, und es muß unwiderstehlich gewesen sein, als er noch dem Leben und dem Glücke angehörte.“
Anna schüttelte leise das Haupt.
„Dem Glücke hat er nie angehört, auch damals nicht, als ich ihn kennen lernte, und das Leben, in das er jetzt zurückkehrt, zeigte sich ihm feindlich von allen Seiten. Paul, ich lege Raimund’s Schutz in Ihre Hände. Wenn Sie mich je geliebt haben – wachen Sie über ihn!“
„Ich werde es thun!“ entgegnete Paul fest. „Ich weiche nicht von seiner Seite, und so weit ich ihn schützen kann, wird er sicher sein!“
Anna streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen!“
Es war ein Dank, der wirklich aus Herzensgrunde kam. Die Stimme, die dem jungen Manne immer so kalt, so ruhig erschienen war, bebte jetzt in weichen, rührenden Lauten. Er vernahm zum ersten Male diesen Ton tiefster Innigkeit, der – einem Andern galt, und wortlos beugte er sich über die dargereichte Hand und drückte seine Lippen darauf.
Wenn Paul auch bereits angefangen hatte, seine hoffnungslose Leidenschaft zu überwinden, in diesem Augenblicke empfand er doch voll und ganz, was er verlor, und der heiße, bittere Schmerz des Verlustes preßte ihm das Herz zusammen. Seine Augen schimmerten feucht, als er seine Jugendliebe begrub.
Wenige Minuten später fuhr der Schlitten fort, in dem sich der Freiherr und sein Neffe befanden, und einige Stunden später kehrte auch Frau von Hertenstein nach Hause zurück. In der Försterei ahnte Niemand, daß dies Zusammentreffen kein bloßer Zufall gewesen war.
Es war bereits gegen Abend, als die beiden Herren in Werdenfels anlangten. Sie hatten die Fahrt größtentheils schweigend zurückgelegt, Raimund schien seine ganze ehemalige Verschlossenheit wieder aufgenommen zu haben, und Paul seinerseits war froh, des Sprechens überhoben zu sein. Er empfand es als eine Erleichterung, daß der Freiherr sich unmittelbar nach der Ankunft in sein Zimmer zurückzog, denn die heutige Entdeckung hatte ihn doch tiefer getroffen, als er sich eingestehen wollte.
Als der junge Baron in sein Wohnzimmer trat, übergab ihm Arnold einen inzwischen angelangten Brief, indem er bedeutsam sagte:
„Aus Rosenberg!“
Paul erkannte Lily’s Handschrift auf dem Couvert und griff hastig danach. Er trat mit dem Briefe zur Lampe, öffnete ihn und begann zu lesen.
Es war die Antwort auf sein eigenes sehr ausführliches Schreiben, in welchem er der jungen Dame seine Reformpläne hinsichtlich Buchdorfs aus einander gesetzt hatte. Lily ging mit vollem Eifer darauf ein, und wenn sie auch bisweilen noch sehr naive Ansichten entwickelte, so war sie doch in der Hauptsache mit dem künftigen Reformator einig, daß dem Vetter Gregor energisch Opposition gemacht werden müsse.
Dabei war der Ton des Briefes so frisch, so herzlich und kindlich, daß Paul in seiner tiefen Verstimmung wirklich wie von einem hellen Sonnenstrahl berührt wurde. Er fühlte erst jetzt, wie hoch und fern Anna von jeher über ihm gestanden hatte, wie tief die Kluft zwischen ihnen war, die all seine Leidenschaft nicht ausfüllen konnte. Seit heute wußte er freilich, daß er nur das Wort des Zaubers nicht besessen hatte, der das schöne kalte Bild belebte. Ein Anderer hatte dies Wort lange vor ihm ausgesprochen, und diesem Anderen galt jener thränenumschleierte Blick, jener weiche, süße Ton aus dem stolzen Munde: bei der Erinnerung daran zuckte es noch immer bitter und schmerzlich in dem Herzen des jungen Mannes.
Aber gerade in dieser bitteren Enttäuschung trat das Bild seiner kleinen Trösterin um so deutlicher und lieblicher hervor. Er dachte an ihre herzliche Theilnahme bei seiner Liebe und seiner Werbung um ihre Schwester, an ihre rührende Angst um sein Leben, als sie das vermeintliche Mordgewehr aus seinen Händen nahm; mit ihr war er gleich in der ersten Stunde vertraut gewesen, wie fremd und eisig hatte Anna dagegen von jeher ihm und seiner Liebe gegenüber gestanden!
„Herr Paul, ich glaube, jetzt haben Sie den Brief sechsmal durchgelesen,“ bemerkte Arnold, der sich inzwischen im Zimmer zu thun gemacht hatte und äußerst ungehalten darüber war, daß man gar keine Notiz von ihm nahm. Paul schien sich in der That erst jetzt seiner Gegenwart zu erinnern.
„Du kannst gehen,“ sagte er, zerstreut aufblickend. „Ich brauche Dich heute Abend nicht mehr, laß mich allein!“
[288] Arnold zeichnete sich bekanntlich vor anderen Dienern dadurch aus, daß er stets das Gegentheil von dem that, was ihm befohlen war; da er gehen sollte, so blieb er natürlich, und da sein junger Herr ungestört zu sein wünschte, so begann er eine freundschaftliche Unterhaltung mit der Frage:
„Wie steht es denn mit der Verlobung, Herr Panl?“
Der junge Mann runzelte die Stirn.
„Ich habe Dir ein für alle Mal Deine Einmischung in diese Angelegenheit verboten, das weißt Du doch.“
„Deshalb kommt sie auch nicht von der Stelle,“ meinte Arnold. „Sie haben gar kein Vertrauen mehr zu mir! In Italien erfuhr ich Alles, wenn Sie auch leider nie auf meine Ermahnungen hörten, hier aber zerbreche ich mir schon den ganzen Winter den Kopf darüber, weshalb Sie keinen Fuß nach Rosenberg setzen, während doch die Correspondenz mit der gnädigen Frau immer lebhafter wird.“
Paul hatte es nicht für nöthig befunden, den alten Diener darüber aufzuklären, mit wem er die Correspondenz führe, er hörte auch jetzt kaum auf die Worte; denn er war soeben beschäftigt, Lily’s Brief zum siebenten Male durchzulesen. Arnold, den diese Verschlossenheit unbeschreiblich ärgerte, änderte daher seinen Angriffsplan, indem er die Bemerkung hinwarf:
„Ich war heute Vormittag in Rosenberg.“
Das that endlich seine Wirkung, Paul erwachte aus seiner Träumerei und wurde aufmerksam.
„Wie kommst Du nach Rosenberg? Hast Du etwa dort spioniren wollen?“
„Herr Paul, Sie beleidigen mich!“ erklärte Arnold, indem er eine tiefbeleidigte Miene annahm. „Ich kam zufällig bei dem Landhause vorüber, und zufällig stand am Eingangsthore der Gärtner, den ich ebenfalls ganz zufällig vor einiger Zeit kennen gelernt habe.“
Diese lange Kette von Zufällen hatte eigentlich einen ganz logischen Zusammenhang. Der alte Arnold war zwar für gewöhnlich sehr exclusiv und hielt dergleichen Bekanntschaften tief unter seiner Würde; er verkehrte in vertraulicher Weise sonst nur mit den Kammerdienern des Freiherrn von Werdenfels und mit dem Haushofmeister, diesmal aber hatte seine Neugier doch den Sieg davon getragen. Er war nämlich fest überzeugt, daß sein junger Herr trotz alledem Besuche in Rosenberg mache, und daß die Verlobung noch geheim gehalten werde, weil man in Werdenfels mit dem Pfarrer Vilmut, dem nahen Verwandten der Frau von Hertenstein, verfeindet war. Um Gewißheit darüber zu erlangen, hatte er sich zu der Bekanntschaft mit dem alten Ignaz herabgelassen, bisher aber noch ohne jedes Resultat.
[301] „Die gnädige Frau war nicht zu Hause,“ fuhr Arnold fort, „auch die Gesellschafterin nicht, nur die Kleine war im Garten.“
„Welche Kleine?“ fragte Paul.
„Die Schwester der Frau von Hertenstein, das kleine Fräulein Lily. Sie warf mit Schneebällen nach den Krähen auf den Bäumen und schließlich auch nach uns Beiden, sodaß wir ganz durchnäßt wurden. Nun, Kindern muß man das Vergnügen gönnen.“
„Sprich nicht in solchen Ausdrücken von der jungen Dame,“ sagte Paul sehr ungnädig. „Fräulein Vilmut ist sechszehn Jahr.“
„Wirklich? Ich hätte sie für weit jünger gehalten, und sie tollt ja auch noch umher wie ein Kind. Nun, hoffentlich wird sie noch etwas wachsen!“
Paul hatte sich noch nie so über die Naseweisheit seines alten Dieners geärgert, wie in diesem Augenblick, und die Behauptung, daß Lily noch wachsen müsse, brachte ihn nun vollends außer sich. Er fuhr auf und forderte so nachdrücklich Respect für die „junge Dame“, daß Arnold ihn ganz verwundert ansah.
„Sie sind ja ganz wüthend, Herr Paul,“ sagte er. „Freilich wird man nervös und aufgeregt in diesem Werdenfels, wo man keine Stunde seines Lebens sicher ist. Der ganze Lärm gilt zwar dem gnädigen Herrn Onkel, aber bei uns heißt es ‚mit gefangen – mit gehangen‘. Der Haushofmeister behauptet, die Rotte da unten wäre im Stande, uns das Haus über dem Kopfe anzuzünden, oder in hellen Haufen das Schloß zu stürmen. Wenn wir doch nur erst in unserem schönen ruhigen Buchdorf wären!“
„Mache Dir keine Illusionen,“ sagte Paul, der heute in einer sehr kriegerischen Stimmung war. „Wenn ich erst in Buchdorf regiere, ist es mit der Ruhe vorbei. Ich werde dem Herrn Pfarrer Vilmut die Spitze bieten, wir haben uns bereits gegenseitig die Fehde angekündigt.“
Der alte Diener schlug entsetzt die Hände zusammen.
„Um des Himmels willen! Müssen Sie denn dem gnädigen Onkel Alles nachmachen, sogar den Skandal, den er mit seinen Bauern hat?“
„Ich werde den meinigen schon die Köpfe zurechtsetzen,“ rief Paul kampflustig, „hoffentlich sind sie nicht ganz so hart, wie die der Werdenfelser; aber von Ruhe wird trotzdem keine Rede sein. Merke Dir das, Arnold, und jetzt geh und laß mich allein.“
Arnold war so erschrocken über die ihm eröffneten Aussichten, daß er diesmal ausnahmsweise gehorchte. Er seufzte tief auf und ging dann, um seinem Vertrauten, dem Haushofmeister, mitzutheilen, daß es nächstens in Buchdorf auch losgehen werde, ebenso wie in Werdenfels, und daß der junge Herr sich geradezu darauf freue. –
Die Nacht war schon ziemlich weit vorgerückt, das Schloß lag still und dunkel da, und selbst im Zimmer des Freiherrn war [302] das Licht längst erloschen. Paul, der sich sonst eines festen und ungestörten Schlafes erfreute, träumte diesmal viel und unruhig. Die Erregung des Tages drängte sich bis in seine Träume, und mitten in der Nacht wachte er auf, ohne sogleich wieder einschlafen zu können. Dabei fiel ihm plötzlich ein, daß Lily’s Brief offen in einem Fache seines Schreibtisches lag. Er pflegte diese Correspondenz sorgfältig vor den neugierigen Augen seines Arnold zu sichern, wenn dieser aber morgen früh das Wohnzimmer betrat, um aufzuräumen, mußte er jedenfalls den Brief entdecken. Das durfte natürlich nicht geschehen, der junge Mann erhob sich sofort und ging in das anstoßende Gemach. Er zündete kein Licht an, denn das Mondlicht, obgleich durch Wolken verschleiert, erhellte das Zimmer hinreichend, und er wußte ja genau, wo der Brief lag. Er fand ihn auch sofort, legte ihn in ein verschlossenes Fach zu der übrigen Correspondenz und war im Begriff, in sein Schlafzimmer zurückzukehren, trat aber vorher noch einen Augenblick an das Fenster, um nach dem Wetter zu sehen.
Die Nacht war stürmisch, wie gewöhnlich in dieser Jahreszeit, der Mond verschwand hinter den jagenden Wolken, und draußen im Parke herrschte ein ungewisses Halbdunkel, das nichts deutlich unterscheiden ließ. Auf einmal stutzte Paul, und seine Augen hefteten sich scharf auf einen Punkt. Es war ihm, als ob irgend etwas sich da draußen regte, als ob es leise und vorsichtig unter den Fenstern des Schlosses entlang schleiche, freilich nur eine Minute lang, dann verschwand jenes Etwas im Dunkel der Mauer, in der Richtung, wo die Zimmer des Freiherrn lagen.
Es konnte eine Täuschung gewesen sein, vielleicht der Schatten eines Baumes, den der Wind bewegt, und unter anderen Umständen würde Paul es schwerlich beachtet haben, aber die letzten Ereignisse in Werdenfels hatten ihn argwöhnisch gemacht, und in seinen Ohren klang noch die Bitte Anna’s: „Wachen Sie über ihn!“ Er beschloß, sich auf jeden Fall zu überzeugen, und unerschrocken, wie er war, fiel es ihm nicht ein, sich erst irgend eine Hülfe zu sichern. Er kleidete sich rasch an, nahm die Pistole, die geladen über seinem Bette hing, um für alle Fälle bereit zu sein, und verließ das Schloß, indem er eine kleine Seitentreppe und eine Ausgangsthür benutzte, die gewöhnlich für die Dienerschaft bestimmt und nur von innen verriegelt war.
Draußen war Alles still und ruhig, nichts regte sich in der Nähe des Schlosses, nur der Wind rauschte in den Bäumen des Parkes, und wahrscheinlich hatte ihr Schattenspiel auf dem Rasen die Täuschung veranlaßt. Paul war jetzt auch dieser Meinung, aber ehe er den Rückweg antrat, wollte er der Sicherheit wegen noch einmal die Wohnung seines Onkels recognosciren; langsam und leise schritt er an der Mauer entlang, deren tiefer Schatten ihn völlig barg, während der Wind seine Schritte verwehte.
Die Zimmer des Freiherrn lagen auf derselben Seite, nach dem Parke hinaus, und von seinem Schlafzimmer führte eine Glasthür auf eine Veranda, deren zierlicher Holzbau im Sommer über und über von blühenden Gesträuchen beschattet wurde. Es waren theils ausländische Schlingpflanzen, theils seltene Spalierrosen, die man hier angepflanzt hatte und die zum Schutz gegen die Winterkälte jetzt mit dichtgeflochtenen Strohmatten bedeckt waren. Auch das hölzerne Spalierwerk, das sich zwischen den Fenstern hinzog und bis in das erste Stockwerk hinauf reichte, war sammt den daran hängenden Ranken sorgfältig mit Stroh umwunden, und unter dem Balcon war trockenes Laubwerk aufgehäuft, um den Boden, der die Wurzeln barg, zu schützen.
Paul hatte sich der Veranda bis auf wenige Schritte genähert, als er plötzlich stehen blieb. Er sah wieder, und diesmal ganz deutlich, daß sich dort etwas regte, und jetzt erkannte er auch, daß es eine menschliche Gestalt war, die am Boden kauerte, wo sie sich irgend etwas zu schaffen machte. Mehr ließ sich bei dem ungewissen Mondlicht nicht unterscheiden. Der junge Mann glaubte natürlich, daß es sich wieder um ein Attentat auf die schönen Pflanzen handle, und war entschlossen, diesmal ohne Rücksicht auf den Wunsch des Freiherrn den Uebelthäter zu ergreifen, als ihm dessen Vorhaben in anderer, schrecklicherer Weise klar wurde.
Am Fuße der Veranda flammte ein Lichtschein auf, Paul sah deutlich eine Hand, die ein brennendes Schwefelholz hielt, er sah, wie es den Strohmatten genähert wurde, die sofort zu glühen begannen, und wie es dann in das trockene Laub geworfen wurde.
„Elender!“ rief der junge Mann hinzuspringend, indem er den Brandstifter, der ihm ahnungslos den Rücken zukehrte, bei den Schultern packte und zu Boden warf. „Also darauf war es abgesehen? Rühr’ Dich nicht!“ fuhr er drohend fort, als Jener eine krampfhafte Bewegung machte. „Bei dem ersten Versuche zur Flucht fliegt Dir meine Kugel nach, und ich weiß gut zu treffen!“
Er ließ den Hahn der Pistole knacken, um seiner Drohung mehr Nachdruck zu geben, aber das schien kaum nöthig zu sein. Der am Boden Liegende war offenbar so betäubt durch den unerwarteten Ueberfall, daß er gar keinen Versuch machte, sich zur Wehr zu setzen, er regte sich nicht mehr und ließ nur ein dumpfes Aechzen hören.
Jetzt wandte sich Paul um und riß mit kräftigem Griffe die Strohmatte herab, an der eben die helle Flamme aufzuschlagen begann. Er schleuderte sie weit hinaus in den Schnee, wo sie zischend erlosch, und stieß dann mit dem Fuße das Laubwerk aus einander, wo der Funke noch nicht gezündet zu haben schien.
Das Alles war das Werk weniger Minuten, dennoch mußte der Freiherr davon erwacht sein. In seinem Schlafzimmer wurde es plötzlich hell, die Glasthür öffnete sich, und gleich darauf fragte seine Stimme von der Veranda:
„Was giebt es da draußen?“
„Eine Niederträchtigkeit ohne Gleichen!“ antwortete Paul mit zornbebender Stimme. „Man hat das Schloß anzünden wollen, und wahrscheinlich war es in erster Linie auf Dich abgesehen. Aber ich habe den Mordbrenner, er soll uns nicht entgehen! Rufe die Dienerschaft herbei, Raimund, so lange werde ich schon allein mit dem Buben fertig.“
Werdenfels gab keine Antwort, aber er rief auch Niemand zu Hülfe, sondern kam die Treppe herunter, die von der Veranda in den Park führte, und stand in der nächsten Minute neben dem jungen Manne.
„Was ist geschehen? Wen hast Du da ergriffen?“
„Wahrscheinlich einen der Werdenfelser. Ich traf ihn gerade, als er dabei war, die Strohmatten anzuzünden. Wenn ich fünf Minuten später kam, so brannte die ganze Veranda lichterloh.“
„Steh’ auf!“ sagte Raimund kurz und befehlend zu dem am Boden Liegenden, dessen sich Paul bereits wieder versichert hatte. „Gieb Antwort, wer bist Du?“
Der Mann gehorchte, es wurde ihm augenscheinlich schwer, sich aufzurichten, er half sich mühsam an dem Holzwerke empor. Der Antwort wurde er überhoben; denn gerade in diesem Augenblicke trat der Mond klar hervor aus den Wolken und sein heller Schein beleuchtete das graue Haar und das braune, verwitterte Antlitz des alten Eckfried.
„Eckfried!“ rief Werdenfels zurückweichend, mit einem Tone des Entsetzens.
„Ja, der Eckfried ist’s,“ entgegnete dieser mit halberstickter Stimme. „Nun wißt Ihr es – und nun laßt mich gehen!“
„Unverschämter! Das heißt denn doch die Frechheit zu weit treiben!“ rief Paul. „Wir werden Dich zuvörderst dingfest machen, damit Du die verdiente Strafe –“
„Still, mache keinen Lärm!“ unterbrach ihn Raimund halblaut, aber in einem Tone, der keinen Widerspruch duldete. „Wir wollen die Sache vorläufig allein untersuchen. Bringe den Mann nach meinem Zimmer.“
„Aber ich bitte Dich, Raimund –“
„Ihr geht voran, Eckfried, die Treppe dort hinauf. Du folgst ihm, Paul, und sorgst dafür, daß er bleibt. Ich komme sogleich nach, ich will mich nur überzeugen, ob die Gefahr für das Schloß vollständig beseitigt ist.“
Paul hätte es weit zweckmäßiger gefunden, die Dienerschaft zusammenzurufen und sie zu Zeugen des beabsichtigten Verbrechens zu machen; da indessen bei dem Gebrechen des alten Bauers kein Fluchtversuch zu fürchten war, so fügte er sich dem Befehle seines Onkels.
Werdenfels blieb zurück und untersuchte rasch, aber sorgfältig die Veranda und deren Umgebung. Der Frevel war noch rechtzeitig verhindert worden, nirgends zeigte sich mehr ein Funke oder ein Brandgeruch, und die losgerissene Strohmatte lag mitten im Schnee, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Im Schlosse blieb Alles still und dunkel, Niemand schien die nächtliche Störung bemerkt zu haben, und das war auch kaum möglich, da die [303] Zimmer der Dienerschaft nach der andern Seite lagen. Nur der Hund im Schloßhofe schlug an, beruhigte sich aber bald wieder, als er keinen Laut weiter vernahm.
Jetzt kehrte auch Werdenfels wieder in das Schlafzimmer zurück. Der flackernde Schein der Kerze, die er beim Aufstehen angezündet hatte, beleuchtete die gebeugte Gestalt Eckfried’s, der mitten im Zimmer stand, während Paul neben ihm jede seiner Bewegungen bewachte.
„Das ist ein verstockter Sünder!“ sagte er zornig. „Nicht ein Wort, nicht eine Silbe ist ihm zu entreißen. Und bei aller Schändlichkeit hat er die Sache so ungeschickt wie nur möglich angefangen! Das von außen angelegte Feuer mußte bald bemerkt werden, und den Mauern konnte es auch nicht viel Schaden thun, höchstens brannte die Veranda nieder. Ich habe ihm das eben zu Gemüth geführt, aber er verharrt in seinem trotzigen Schweigen.“
„Mir wird er Rede stehen,“ erklärte Raimund kalt. „Laß uns allein, Paul!“
„Dich mit dem Mordbrenner? Auf keinen Fall.“
„Was befürchtest Du denn? Dem alten Mann werde ich im Nothfall doch gewachsen sein.“
„Gleichviel! Er kann ein Messer bei sich haben, er kann hinterrücks einen Angriff auf Dich versuchen. Diesem Menschen ist alles zuzutrauen, und ich habe versprochen, über Dich zu wachen.“
„Versprochen? Wem?“
„Anna von Hertenstein! Sie hat Deinen Schutz in meine Hände gelegt, und ich werde ihr Wort halten.“
In dem Gesichte des Freiherrn zeigte sich eine fliegende Röthe, aber er erwiderte keine Silbe auf die Eröffnung, dennoch sah man es, daß die Ruhe erzwungen war, mit der er antwortete:
„Sei unbesorgt, es ist keine Gefahr bei dieser Unterredung, aber sie verträgt keine Zeugen. Bleibe im Nebenzimmer, wenn es Dich beruhigt, ich habe nichts dagegen.“
„Der Mann haßt Dich,“ sagte Paul bedeutungsvoll. „Er haßt Dich mit einer so blinden Wuth, daß ich schon einmal glaubte, einen Wahnsinnigen vor mir zu sehen, als ich zufällig Deinen Namen aussprach.“
„Ich weiß es, eben deshalb muß ich ihn sprechen. Geh’, ich bitte Dich.“
Die Unterredung war mit gedämpfter Stimme geführt worden, sodaß Eckfried nichts davon vernahm. Paul gehorchte nur ungern und zögernd, er trat allerdings in das Nebenzimmer, aber er lehnte die Thür nur an, um bei dem geringsten verdächtigen Laut sofort herbeieilen zu können.
Jetzt wandte sich Werdenfels zu dem Bauer, der bisher regungslos und theilnahmlos dagestanden hatte, und fragte langsam, aber mit schwerem Nachdruck:
„Was wolltet Ihr thun, Eckfried?“
Der Angeredete hob den Kopf, es lag weder Furcht noch Reue in seinen Zügen, nur der Ausdruck eines verbissenen Trotzes, und derselbe Trotz klang auch aus seiner Stimme, als er antwortete:
„Das haben Sie ja gesehen! Leugnen kann ich’s nicht – und will’s auch nicht.“
„Das sieht Euch ähnlich! Mein Neffe hat Recht, wenn Ihr das Schloß anzünden wolltet, so seid Ihr ungeschickt zu Werke gegangen, aber der Brand wurde vor den Fenstern meines Schlafzimmers gelegt, das erklärt die Ungeschicklichkeit. Antwortet! Wem galt der Plan, mir oder dem Schlosse?“
„Euch Beiden!“
Es waren nur zwei Worte, aber es sprach ein grenzenloser Haß daraus, es klang wie das Zischen einer verwundeten Schlange.
Werdenfels schwieg, er richtete nur einen langen düsteren Blick auf den alten Mann, der jetzt mit einer Art wilder Genugthuung wiederholte:
„Ja, Euch Beiden! Das Schloß für unser Dorf und Sie für meinen armen Buben! So wär’ es recht gewesen und so wollt’ ich es. Jetzt zeigen Sie mich an bei den Gerichten, Sie können mich ja in das Zuchthaus bringen, ich denke aber, Sie lassen es bleiben, denn dann würde ich reden und ganz Werdenfels würde reden, und dann könnte es dem hochgeborenen Freiherrn auch einmal an den Kragen gehen.“
„Eckfried!“ fuhr der Freiherr auf, seine Hand ballte sich krampfhaft und hob sich wie zum Schlage, während er mit so furchtbar drohendem Ausdruck vor den Bauer hintrat, daß dieser zurückwich.
„Schlagen Sie nur zu!“ sagte er dumpf. „Thun Sie mir, wie ich Ihnen thun wollte – mir ist’s recht, wenn das Elend mit einem Mal ein Ende nimmt.“
Die Worte schienen Raimund zur Besinnung zu bringen, seine Hand sank nieder, er rang augenscheinlich schwer mit sich selber, aber es dauerte Minuten, ehe er die verlorene Selbstbeherrschung wiederfand.
„Weshalb seid Ihr im Elend geblieben?“ fragte er endlich. „Ich habe Euch schon damals vor Jahren die reichste Hülfe geboten, Ihr wolltet sie nicht annehmen.“
„Nein, und ich will sie auch jetzt nicht. Eher verhungere ich sammt meinem Enkelkinde.“
„Ihr wäret im Stande dazu! Damals habt Ihr mir mit dem Stutzen geantwortet, und Ihr hättet losgedrückt, wenn ich nicht gegangen wäre, um Euch einen Mord zu sparen. Heut war es nahe daran, daß der Mord wirklich vollführt wurde, an Euch lag es nicht, wenn der Plan mißglückte.“
„Nein,“ sagte der Alte mit herber Bitterkeit, „aber mißglücken mußte er, das hätt’ ich wissen können! Ich habe es den Anderen nicht glauben wollen, daß Sie ‚fest‘ sind, jetzt sehe ich’s mit eigenen Augen. Ihnen kann nichts beikommen, weder Kugel noch Feuer, Sie haben sich gesichert.“
Werdenfels zuckte verächtlich die Achseln.
„Wieder der alte, unsinnige Aberglaube! Wer hat es Euch denn eingeredet, daß ich ein Hexenmeister sei? Euer Pfarrer vielleicht?“
Eckfrieds Augen glühten seltsam und unheimlich, als er sie auf das Gesicht des Freiherrn heftete.
„Eingeredet hat uns das Niemand, aber wir wissen es ja, warum der Herr Pfarrer Ihnen Beichte und Absolution verweigert, wir haben es erlebt, was Sie uns von Ihrem Felseneck mit herunterbrachten. In Sturm und Unwetter sind Sie gekommen, wie Ihr Herr und Meister, dem Sie sich verschrieben haben, und von dem Tage an war das Unglück losgelassen in Werdenfels. Da kamen die Stürme und der Schnee, die Krankheiten und das Elend, und das wird kein Ende nehmen, so lange Sie unter uns sind, das wissen wir Alle. Was Sie mir auf den Hals schicken werden nach dieser Nacht, darnach frage ich nicht, ich habe nicht viel mehr zu verlieren im Leben. Aber den Anderen hab’ ich helfen wollen, und sie hätten es mir Alle gedankt, es hätte mich Keiner verrathen. Und unser Pfarrer – nun, der würde mich strafen vielleicht. aber die Absolution würde er mir nicht weigern. Er hat es ja selbst gesagt: All das Unheil kommt von dem Felsenecker!“
Die anfangs dumpfe und gebrochene Stimme des Alten steigerte sich allmählich bis zur wildesten Leidenschaftlichkeit, und die Gluth in seinen Augen wurde zur Flamme. Es war der wahnsinnige Fanatismus des Hasses und des Aberglaubens, der auf kein Wort der Vernunft mehr hört, der nur ein Ziel noch kennt, die Vernichtung des Feindes, und überzeugt ist, damit ein gutes Werk zu thun.
„Also soweit hat es Gregor Vilmut gebracht!“ sagte Raimund mit zuckenden Lippen. „Und mit diesem Menschen wollte ich Versöhnung suchen – es ist genug und übergenug!“
Er richtete sich zu seiner vollen Höhe empor, es lag ein fremder, eisiger Klang in seinen Worten, aber sie hatten nichtsdestoweniger den vollen Ton des Gebieters.
Hört mich an, Eckfried, und wiederholt Euren Genossen da unten im Dorfe Wort für Wort, was ich Euch jetzt sage. Ich bin der ewigen Quälereien müde! Ich kam von Felseneck, um Frieden mit Euch zu suchen. Ihr botet mir statt dessen den Krieg, und es war nicht einmal ein ehrlicher, offener Krieg. Was ich in Werdenfels erfahren habe, das ist nur eine einzige Kette von Beleidigungen gewesen, und jetzt scheint Euer Pfarrer mich für vogelfrei erklärt zu haben, es gilt Euch als eine verdienstliche That, mich aus dem Wege zu räumen. Jetzt aber ist auch meine Geduld zu Ende! Wenn von heute an noch ein Angriff erfolgt, sei es gegen mich, das Schloß oder die Gärten, so werden die Thäter unnachsichtlich ergriffen und der verdienten Strafe überliefert. Da meine Schonung Euch nur für Furcht und Schwäche [304] gilt, so sollt Ihr die Hand Eures Herrn kennen lernen. Hütet Euch, mich oder mein Eigenthum wieder anzurühren! Ich schone hinfort Keinen mehr – Keinen, und wenn es Euer Pfarrer selber wäre. Ihr zwingt mich, dem Namen Werdenfels wieder seinen alten Klang zu geben – nun denn, so sollt Ihr auch spüren, was das Regiment eines Werdenfels bedeutet, vielleicht kommt Euch mit der alten Furcht auch die verlorene Vernunft wieder zurück!“
Es lag ein furchtbarer Ernst in diesem drohenden Ausbruch des auf’s Aeußerste gebrachten Mannes, das mochte auch Eckfried fühlen, denn er blieb die Antwort schuldig. Seine Augen hingen starr an dem Gesichte des Freiherrn, als könne er das eben Gehörte nicht fassen und begreifen, aber man sah es, daß der gebieterische Ton ihm trotz alledem imponirte. Der Ausdruck des Hasses wich nicht aus seinen Zügen, aber es mischte sich eine unverkennbare Scheu mit demselben.
„Ganz wie sein Vater!“ murmelte er vor sich hin. „Jetzt gleicht er ihm – zum ersten Male!“
„Habt Ihr mich verstanden?“ fragte Werdenfels nach einer kurzen, drückenden Pause.
Der Alte raffte sich zusammen.
„Ja, ich hab’s verstanden, und ich werd’ es auch bestellen – verlassen Sie sich darauf.“
Er wandte sich zum Gehen, aber die Aufregung und vielleicht auch der Schlag, den der alte Mann beim Niederwerfen erhalten hatte, machten jetzt ihre Wirkung geltend. Er schwanke und hielt sich krampfhaft an der Lehne eines Stuhles fest, um nicht niederzustürzen. In dem flackernden Lichtschein erschienen seine tiefdurchfurchten Züge so gramvoll, so finster und hoffnungslos, daß Werdenfels unwillkürlich seinen Ton milderte.
„Ich werde Euch den Gerichten nicht anzeigen und auch meinen Neffen veranlassen, über den Vorfall der heutigen Nacht zu schweigen. Wenn man die Spuren der Brandstiftung finden sollte, so wird Niemand den Thäter kennen, damit ist aber auch getilgt, was noch von alten Zeiten her zwischen uns lag. Ihr geht frei aus, und ich dächte, Eurem Haß und Eurer Rache wäre genug geschehen. Jetzt sind wir Beide quitt mit einander!“
„Meinen Sie?“ rief der Alte mit einem lauten, höhnischen Auflachen. „Nun, wenn Sie mit mir quitt sind, ich bin es noch nicht mit Ihnen, Freiherr von Werdenfels. Geben Sie mir meinen Buben wieder, meinen Einzigen! Sie wissen es ja, daß er mit zerschmettertem Kopfe unter den brennenden Balken hervorgezogen wurde. Wenn Sie mir meinen Toni wieder heil und gesund in die Arme legen können, dann sind wir quitt, eher nicht – das habe ich mir und Ihnen zugeschworen!“
Und als hätte der Haß ihm neue Kräfte gegeben, raffte er sich empor, wankte aus dem Zimmer und verschwand draußen auf der Veranda.
Kaum eine Minute später öffnete sich die Thür des Nebengemaches, und Paul trat ein.
„Du läßt ihn wirklich gehen, Raimund?“ fragte er vorwurfsvoll. „Welche unzeitige Großmuth!“
Raimund folgte dem sich Entfernenden mit den Augen. Es war wieder jener dunkle, räthselvolle Blick, mit dem er damals in Felseneck in die Flammengluth des Kamins starrte. Bei der Anrede fuhr er wie aus einem Traume auf und strich mit der Hand über die Stirn.
„Laß das, Paul,“ sagte er. „Der Mann hat ein Recht auf meine Schonung, aber auch nur der allein. Du hast unsere Unterredung ja wohl theilweise mit angehört? Ich gebe Dir mein Wort darauf, ich werde diesen Menschen, denen ich für vogelfrei gelte, die Antwort nicht länger schuldig bleiben. Sie haben meinen Vater gehaßt, wie mich, und doch beugten sie sich vor ihm in sclavischer Furcht. Ich habe es lange genug mit der Güte versucht – jetzt werde ich ihnen zeigen, daß ich auch ein Werdenfels bin!“
Paul stimmte bei, aber auch ihm drängte sich jetzt dieselbe Beobachtung auf, wie vorhin dem alten Eckfried. So wenig Aehnlichkeit Raimund auch mit seinem Vater haben mochte, in diesem Augenblicke glich er dem Bilde, das drüben im Salon hing. Es war derselbe Zug von Härte, von rücksichtsloser Energie, der sich zum ersten Mal auch in dem Antlitz des Sohnes ausprägte – der alte Familienzug des Geschlechtes der Werdenfels.
[317] Justizrath Freising hatte sich in sein altgewohntes Geschick gefunden und trug den fünften der Körbe mit derselben Würde, wie die vier vorhergehenden. Augenblicklich war er überdies von einem Interesse in Anspruch genommen, das bei ihm alle Körbe der Welt in den Hintergrund drängte.
Fräulein Hofer hatte nicht so unrecht, wenn sie behauptete, der Justizrath hege eine förmliche Leidenschaft für den Actenstaub, er beschäftigte sich in der That nicht blos von Berufswegen damit. Es war sein größtes Vergnügen, in Archiven und Bibliotheken herumzustöbern und uralten Acten und Handschriften nachzuspüren, für die sich sonst kein Mensch mehr interessirte, und die er mit dem größten Eifer durchstudirte.
Er hatte längst schon sein Augenmerk auf Werdenfels gerichtet, denn das Archiv und die Bibliothek des Schlosses galten als die reichhaltigsten der ganzen Umgegend, aber der Freiherr hatte Beides nach Felseneck bringen lassen, als er dort seinen Wohnsitz nahm, und Felseneck war und blieb unzugänglich auch für den Justizrath. Er bekam nicht einmal seinen Clienten zu Gesicht, viel weniger dessen Archiv, und jeder Versuch zu einer persönlichen Annäherung wurde höflich, aber bestimmt abgewiesen.
Das änderte sich jedoch, als der Freiherr nach Werdenfels kam und allmählich wieder in Verkehr mit den Menschen trat. Er empfing dort auch einige Male seinen juristischen Vertreter, und dieser säumte nicht, die Erlaubniß zu einer gründlichen Durchmusterung der vorhandenen Actenschätze zu erbitten. Raimund hatte mit der größten Artigkeit seine Zustimmung ertheilt, und der Justizrath benutzte die erste Gelegenheit, um sich auf einige Tage frei zu machen und nach dem Bergschlosse zu fahren.
Die Ausbeute, die er dort fand, fiel über Erwarten reichlich aus. Die Werdenfels waren nicht nur eines der ältesten und reichsten, sondern auch eines der unruhigsten Geschlechter gewesen, das fortwährend in Umfrieden mit seinen Nachbarn und seinen Anverwandten lebte. Da gab es alte Grenzstreitigkeiten, die sich durch Jahrzehnte hinzogen, Erbschaftsprocesse von höchst verwickelter Beschaffenheit, Klagen, Vergleiche, richterliche Entscheidungen, und vor Allem eine unendliche Menge Acten darüber. Der Justizrath wühlte sich förmlich ein darin, er saß vom Morgen bis zum Abend im Archiv und athmete mit einem wahren Entzücken den Staub ein, der aus all diesen vergilbten Pergamenten und Urkunden emporwirbelte. Mit ausdrücklicher Erlaubniß des Freiherrn traf er endlich eine Auswahl unter den Papieren, um das Interessanteste mit nach Hause zu nehmen und es dort in aller Ruhe durchzustudiren.
Es war am Morgen des zur Abfahrt bestimmten Tages; der Justizrath beschäftigte sich eben damit, die Acten zusammenzupacken, die er mitnehmen wollte, als die Thür seines Zimmers sich öffnete und sein Kutscher eintrat, der gleichfalls in Felseneck geblieben war.
„Was kommt Ihr jetzt schon, Anselm?“ fragte Freising, etwas ungehalten über diese Störung. „Ihr wißt ja, daß ich erst um die Mittagsstunde fort will.“
„Ich wollte nur anfragen, ob der Herr Justizrath nicht lieber heut Morgen fahren wollen,“ meinte Anselm. „Wir werden am Nachmittag Schnee haben.“
„Warum nicht gar! Das Wetter ist prächtig und wir haben hellen Sonnenschein.“
„Ja, aber die Geisterspitze ist zum Greifen nahe! Die schickt uns sicher wieder ein Wetter über den Hals.“
„Was geht mich die Geisterspitze an?" sagte Freising ärgerlich. „Ich habe noch Vieles zu ordnen und kann nicht vor ein Uhr fertig sein.“
„Dann fahren wir vielleicht morgen,“ schlug Anselm vor.
„Nein, ich muß heut Abend in der Stadt sein. Was habt Ihr denn eigentlich? Warum wollt Ihr am Nachmittage nicht fahren? Dahinter steckt etwas.“
Der Kutscher drehte verlegen seine Mütze in den Händen hin und her.
„Es ist nur – wir haben heute Sanct Rupertus – und da ist es nicht geheuer in den Bergen, das weiß jedes Kind. Wenn wir heute in den Schnee gerathen, dann faßt uns die Eisjungfrau, und Sie kennen ja das Sprüchwort: Wenn die Eisjungfrau von der Geisterspitze niedersteigt –“
„Dachte ich es doch, daß so etwas herauskommen würde!“ fuhr der Justizrath auf. „Schämt Ihr Euch denn nicht, Anselm, an solchen Unsinn zu glauben? Ihr wißt, wie ich darüber denke. Wir fahren auf jeden Fall am Nachmittage, und ich sage Euch, das Wetter bleibt schön, ich verstehe mich auch auf die Wetterzeichen.“
„Ja, aber die Geisterspitze –“
„Laßt mich endlich in Ruhe mit der Geisterspitze! Ihr seid pünktlich um ein Uhr mit dem Schlitten im Schloßhofe, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt sind, und wenn die Geisterspitze, die Eisjungfrau und all das Hexenzeug, das in Eurem Kopfe spukt, uns unterwegs aufhalten wollen, so werde ich sie allesammt zum Kukuk jagen!“
[318] Er focht energisch mit einem der großen Actenhefte in der Luft herum, als wolle er damit die erwähnte Heldenthat ausführen. Der Kutscher entsetzte sich insgeheim vor dieser gottlosen Herausforderung der allgemein gefürchteten Macht des Gebirges, dem bestimmten Befehle seines Herrn gegenüber aber mußte er sich fügen; er schwieg also und trollte ab. Der Justizrath brummte noch etwas von verwünschtem Aberglauben, der die Leute ganz dumm mache, und fuhr dann fort, seine Acten zusammenzupacken, mit einer Sorgfalt, als ob es sich um den Transport eines kostbaren Schatzes handelte.
Zur festgesetzten Stunde fuhr der Schlitten von Felseneck ab. Das Wetter hatte sich in der That vollständig geändert in den wenigen Stunden, die Sonne verschwand gänzlich hinter dem weißgrauen Gewölke, das von allen Seiten heranzog, die Berge verschleierten sich immer mehr, nur die Geisterspitze war noch deutlich sichtbar. Das Pferd trabte munter dahin auf der glatten Bahn, desto grämlicher sah der Kutscher aus, der mit offenbarer Besorgniß den Himmel musterte. Der Justizrath dagegen saß, in seinen Pelz gehüllt, bequem im Schlitten, warf von Zeit zu Zeit einen zärtlichen Blick auf das umfangreiche Actenbündel, das wohlbehütet neben ihm auf dem Sitze lag, und fand, daß das Wetter wunderschön sei.
Die Fahrt hatte ungefähr eine Stunde gedauert und man war mitten auf der öden Bergstraße, wo sich weit und breit keine menschliche Wohnung zeigte, als es zu schneien begann, anfangs noch leicht und unbedeutend, aber der Kutscher drehte sich um und sagte bedeutungsvoll:
„Da haben wir den Schnee!“
Der Justizrath wollte das nicht zugeben, sondern erklärte, der Wind treibe den Schnee von den Bäumen herüber, bald aber fielen die Flocken dichter und häufiger, und es entwickelte sich ein so regelrechtes Schneegestöber, daß Freising seine hartnäckige Behauptung, daß das Wetter schön sei, nicht länger aufrecht erhalten konnte.
„Fahrt schneller, Anselm,“ sagte er etwas kleinlaut. „Das Wetter scheint doch unzuverlässig zu sein, und wenn wir in den Schnee geraten –“
„Dann holt uns die Eisjungfrau!“ ergänzte Anselm wehmüthig. „’s ist Sanct Rupertustag.“
„Jetzt wird mir die Sache zu arg!“ rief der Justizrath wüthend. „Ich wollte, ich könnte Euch sammt Eurem Rupertustage auf die Geisterspitze hinaufschicken. Das ist der rechte Ort für Dummköpfe, in denen die Eisjungfrau spukt. Vernünftigen Menschen wie mir kommt sie sicher nicht in den Weg, ich wollte es ihr auch nicht rathen, meine Bekanntschaft zu machen.“
Anselm erschrak dermaßen über diese Lästerung, daß er sich bekreuzigte und dabei auf einen Moment die Zügel aus der Hand ließ. In derselben Minute fegte der Wind eine stäubende Schneelast von der nächsten Tanne, das Pferd erschrak, scheute und machte einen heftigen Sprung seitwärts. Der Schlitten prallte mit voller Gewalt gegen einen Felsstein, es gab ein lautes Krachen, dann jagte das Pferd, vollends scheu gemacht, mit der zerbrochenen Deichsel davon, und der Schlitten, der Justizrath und der Kutscher lagen malerisch gruppirt im Schnee.
Anselm war der Erste, der sich wieder aufraffte.
„Das kommt davon!“ brummte er. „Das kommt von den gottlosen Spöttereien. Herr Justizrath, leben Sie noch?“
Der Justizrath lebte allerdings, und sein erster Gedanke nach der Betäubung des Sturzes galt seinem Schatze.
„Meine Acten!“ rief er. „Wo sind meine Arcen geblieben?“
„Die werden wohl da unten liegen,“ meinte Anselm, auf den Abhang der Bergstraße zeigend. „Gott sei Dank, daß wir wenigstens oben geblieben sind!“
Der Schlitten hatte sich in der That vermittelst eines höchst wunderbaren Umschwunges seiner sämmtlichen Insassen entledigt, und zwar dicht am Ahhange. Die Menschen waren glücklicher Weise auf der Chaussee liegen geblieben, das schwere Actenbündel aber war jedenfalls in die Tiefe gerollt, denn es zeigte sich keine Spur davon.
Der Justizrath versuchte jetzt auch, sich aufzurichten, was ihm nur mit Mühe gelang. Er war zwar nicht ernstlich verletzt, hatte sich aber den rechten Fuß derartig verstaucht, daß er nicht einmal auftreten, viel weniger gehen konnte, und das war doppelt schlimm in der jetzigen Situation.
Der Kutscher hatte zwar das Pferd zurückgeholt, das noch eine Strecke weit gelaufen und dann ruhig stehen geblieben war, aber der Schlitten war bei dem heftigen Anprall so arg zugerichtet worden, daß seine fernere Benutzung sich als unmöglich erwies, er lag fast in Trümmern.
Anselm jammerte laut darüber, fand aber bei seinem Herrn gar kein Mitgefühl.
„Was kümmert mich der Schlitten!“ rief dieser verzweiflungsvoll. „Ich will meine Acten wieder haben! Sie können nicht tief gefallen sein, sie müssen da unten zwischen den Tannen liegen. Steigt hinunter, Anselm, und holt sie mir herauf.“
„Um keinen Preis!“ erklärte der Kutscher. „Nach diesem Unglück noch an der glatten Bergwand niederklettern, das würde mir den Hals kosten am Rupertustage. Bieten Sie mir, was Sie wollen, Herr Justizrath, aber das thu’ ich nicht.“
Freising bat und drohte vergebens. Er wäre zur Noth selbst hinuntergestiegen, um mit Gefahr seines Lebens die geliebten Acten zu retten, aber er konnte sich ja nicht von der Stelle rühren, und sein Fuß begann heftig zu schmerzen. Er schien wirklich das Opfer tückischer Mächte zu sein, die sich für den Spott rächen wollten.
„Was fangen wir nun an?“ seufzte er.
„Ja, irgend etwas müssen wir anfangen,“ meinte Anselm. „Wir können nicht hier im Schnee sitzen bleiben, und gehen können Sie nicht. Setzen Sie sich auf das Pferd, Herr Justizrath, ich führe es am Zügel bis zum nächsten Gehöft.“
„Auf keinen Fall!“ protestirte Freising. „Soll die wilde Bestie zum zweiten Male mit mir durchgehen? Ich bin ja ganz hülflos, da ich den Fuß nicht regen kann.“
Der Kutscher versuchte nichtsdestoweniger einen Sattel zu improvisiren, das Pferd aber, ein junges, lebhaftes Thier, schien das übel zu nehmen und machte so bedenkliche Bocksprünge, daß die Sache aufgegeben werden mußte.
Man kam endlich überein, Anselm solle nach dem nächsten Gehöft eilen, das leider fast eine halbe Stunde entfernt war, um dort den Schlitten des Bauers zu requiriren, und dann seinen Herrn abholen. Dieser mußte nothgedrungen zurückbleiben, da er nicht fähig war, auch nur zehn Schritte zu gehen. Er hinkte mühsam nach der Felswand, die ihm wenigstens einigen Schutz vor dem Schneetreiben gewährte, und ließ sich dort auf einem Stein nieder, während der Kutscher mit dem Pferde sich auf den Weg machte.
Da saß nun der arme Justizrath neben den Trümmern seines Schlittens, mitten auf der öden Bergstraße, in Schnee und Einsamkeit. Er kam sich völlig verlassen und verloren vor und wurde immer muthloser, je länger er wartete. Wenn nun Anselm gar nicht wieder kam, wenn inzwischen ein Schneesturm ausbrach, der ihm die Rückkehr unmöglich machte, dann mußte sein Herr hier elendiglich umkommen und wurde endlich erfroren und verschüttet aufgefunden.
Das Schneegestöber wurde immer heftiger, der Nebel immer dichter, nur von Zeit zu Zeit tauchte die Geisterspitze daraus hervor und blickte höhnend nieder auf ihr Opfer, das sich jetzt einer düsteren Melancholie hingab.
So also sollte ein Leben endigen, das nie der warme Sonnenstrahl der Liebe berührt, dem immer nur das kalte Mondenlicht der Hochachtung geleuchtet hatte! Der Justizrath seufzte tief auf bei der Erinnerung an die fünf Körbe, die er mit in das Grab nahm, und dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken an das Aufsehen, das sein Tod überall machen werde. Ja, an Hochachtung hatte es ihm nie gefehlt, die Zeitungen der Stadt brachten sicher einen ehrenvollen Nachruf:
„Wir erfüllen hiermit die traurige Pflicht, unseren Lesern mitzutheilen, daß einer der bekanntesten und beliebtesten Rechtsgelehrten, Justizrath Freising, ein beklagenswerthes Ende gefunden hat. Die ganze Umgegend wird mit uns den Verlust dieses ausgezeichneten Mannes empfinden, und leider sind mit ihm auch kostbare und unersetzliche Urkunden aus dem Felsenecker Archiv zu Grunde gegangen.“
Hier übermannte den Justizrath der Schmerz von Neuem, er streckte beide Arme empor zu der Geisterspitze, die eben wieder auf einen Moment aus den Wolken hervorblickte, und rief ganz laut:
„Du weißes Ungethüm! Gieb mir meine Acten wieder, und ich – ja wahrhaftig – ich will an Deine Hexerei glauben!“
[319] Die Eisjungfrau war prompt, im Bösen wie im Guten, das mußte man ihr lassen. Kaum waren jene Worte ausgesprochen, so ertönte lustiges Schellengeklingel in ziemlicher Nähe. Wäre Freising nicht so angelegentlich beschäftigt gewesen, seine eigene Todesanzeige zu stilisiren, so würde er es wohl schon früher vernommen haben, jetzt sah er gleichzeitig einen Schlitten um die Windung des Weges biegen, der nach wenigen Minuten die Unglücksstätte erreichte.
Der alte Kutscher, der das Pferd lenkte, hatte den Mantelkragen in die Höhe geschlagen, die Dame aber, die in dem offenen Schlitten saß, schien sich das Wetter nicht anfechten zu lassen, denn sie blickte ganz heiter in das Flockengewimmel, das auch sie überschüttete. Plötzlich aber stieß sie einen Schrei der Ueberraschung aus und rief dem Kutscher zu, zu halten.
„Herr Justizrath! Was sitzen Sie denn hier auf der Landstraße in diesem Wetter?“
Der arme Rechtsgelehrte bot in der That einen merkwürdigen Anblick dar; Anselm hatte ihn sorgfältig in den Pelz gehüllt und ihm ebenso sorgfältig die Reisedecke über die Füße gebreitet, so saß er denn in anscheinender Gemüthlichkeit auf seinem Steine wie ein Naturschwärmer, obgleich er bereits vom Kopfe bis zu den Füßen mit einer weißen Decke überzogen war.
„Fräulein Hofer!“ rief er. „Gott sei Dank, daß ich wieder ein Menschenantlitz erblicke! Ich glaubte ganz verlassen sterben zu müssen.“
„Aber was ist denn geschehen? So stehen Sie doch wenigstens auf.“
„Ich kann nicht, ich bin verhext!“
„Was sind Sie?“
„Verhext – das heißt, ich habe mir den Fuß verstaucht,“ verbesserte sich der Justizrath, der mit Schrecken inne wurde, daß er auch bereits dem Aberglauben verfallen war, und nun begann er sein Mißgeschick zu berichten, zu dem der zertrümmerte Schlitten eine traurige Illustration gab.
Fräulein Hofer, die sich noch zum Besuch bei ihren Eltern befand und soeben von einem kurzen Ausfluge nach der Försterei zurückkehrte, war inzwischen ausgestiegen. Sie ließ ihren alten Widersacher seine zahllosen Spöttereien nicht entgelten, sondern nahm sich in christlicher Barmherzigkeit seiner an. Sie bot ihm einen Platz in ihrem Schlitten an und verhieß ihn sicher nach der Försterei zu bringen, wo man ihm Fuhrwerk verschaffen werde.
„Nur noch eine Bitte!“ sagte der Justizrath wehmüthig, indem er sich mühsam erhob. „Unterstützen Sie mich ein wenig, damit ich bis zu jenem Abhange gelangen kann.“
Emma fand das Begehren etwas seltsam, zögerte aber nicht, es zu erfüllen, und mit ihrer Hülfe gelangte Freising, der kaum aufzutreten vermochte, auf die andere Seite der Straße, wo er sich auf einen der Chausseesteine stützte und in die Tiefe hinabblickte.
„Da unten liegen sie!“ sagte er in düsterem Grabestone.
„Um des Himmelswillen – Menschen?“ rief Fräulein Hofer entsetzt.
„Nein - Acten! Ich sehe ganz deutlich den blauen Umschlag des Paketes auf dem weißen Schnee.“
„Nun, dann lassen Sie sie in Gottes Namen liegen! Wir können uns in einer solchen Situation doch nicht mit Ihren langweiligen Acten abgeben.“
„Langweilig?“ rief der Justizrath empört. „Es sind die interessantesten, die merkwürdigsten Urkunden aus dem Archiv von Felseneck. Eine Grenzstreitigkeit von Anno sechszehnhundertundachtzig, die sich bis siebenzehnhundertzehn hingezogen hat; ein Erbschaftsproceß –“
„Auch von Anno sechszehnhundertachtzig?“
„Nein, vom Anfange dieses Jahrhunderts. Werdenfels contra Werdenfels – die jüngere Linie gegen die ältere – ein unglaublich interessanter Proceß, sogar eine Urkundenfälschung ist dabei vorgekommen! Und das alles liegt nun im Schnee begraben! In wenigen Stunden ist es völlig durchweicht, verdorben, verloren! Könnte Ihr Kutscher denn nicht versuchen, hinunterzusteigen? Ich wollte ihn überreich belohnen.“
„Nein,“ sagte das Fräulein mit Bestimmtheit. „Der alte Mann ist über die Siebenzig hinaus und wird nur noch zu den leichtesten Diensten verwendet. Liegt Ihnen denn wirklich so viel an diesen alten Räritäten?“
„Alles!“ erklärte Freising mit einem trostlosen Blick in die Tiefe.
„Nun gut, dann werde ich sie heraufholen.“
„Um Gotteswillen, Sie wollen doch nicht etwa – “
„Hinuntersteigen? Natürlich will ich das! Ich bin in den Bergen aufgewachsen und werde zur Noth wohl noch einen steilen Abhang hinunterklettern können. Wo liegt das Paket? Ah, dort unten!“
„Ich gebe es nicht zu,“ protestirte Freising. „Die Sache ist gefährlich, mein Anselm wollte sie nicht wagen – noch dazu heute am St. Rupertustage.“
Emma lachte laut auf.
„Wie, Herr Justizrath. sind Sie auf einmal gläubig geworden? Was kümmert denn den Freigeist der St. Rupertustag, der steht ja nur im Codex unseres Aberglaubens verzeichnet. Sein Sie ohne Sorge, ich stehe mit dem Heiligen auf sehr gutem Fuße, mich läßt er nicht stürzen,“ und ohne auf die weiteren Einwendungen zu hören, trat sie muthig den Weg in die Tiefe an.
Es war immerhin ein gefährlicher Weg, der einen schwindelfreien Blick und einen sicheren Fuß verlangte, aber Emma Hofer besaß beides. Zum Glück lag der Schnee an dieser Stelle nicht hoch und die Bäume und Baumwurzeln boten ihr Stützpunkte, die sie geschickt benutzte; nach einer kühnen Rutsch- und Kletterpartie gelangte sie glücklich zu dem verlorenen Schatze, der in ziemlicher Tiefe auf einem freien Vorsprunge lag, und belud sich ohne Zögern damit. Der Rückweg mit dem schweren Actenbündel gestaltete sich noch schwieriger, aber die tapfere kleine Dame brachte auch dies zu Stande. Sie kletterte ebenso muthig den steilen Abhang wieder hinauf und tauchte endlich erhitzt und athemlos am Rande der Chaussee auf.
„Da ist die Geschichte von Anno sechszehnhundertachtzig, sammt der Urkundenfälschung!“ rief sie triumphirend, indem sie das Paket auf die Straße schleuderte und dann vollends emporstieg.
Der Justizrah athmete auf. In die Angst, mit der er das Beginnen der kühnen Bergsteigerin verfolgte, mischte sich ein sehr angenehmes Gefühl, denn er sah in dieser Aufopferung die unleugbare Bestätigung dessen, was Lily ihm anvertraut hatte. Für einen Fremden, einen Gegner wagte man doch nicht dergleichen! Es war kein Zweifel, die Kleine hatte recht gesehen, und ganz erfüllt von diesem Gedanken streckte Freising der Emporsteigenden beide Hände entgegen und rief:
„Ich werde Ihnen ewig dankbar sein!“
Emma wehrte lachend die dargebotene Hülfe ab.
„Ich danke, Herr Justizrath, ich helfe mir schon allein. Denken Sie an Ihren verletzten Fuß, und was Ihre ewige Dankbarkeit betrifft, so ist die kleine Bergfahrt gar nicht so vieler Umstände werth.“
Freising war durchaus anderer Meinung. Er sah die verlorenen Acten – Werdenfels contra Werdenfels – vor sich liegen, er dachte daran, daß er noch vor einer Viertelstunde seinen Nekrolog verfaßt hatte und bereit gewesen war, mit fünf Körben in die Ewigkeit zu gehen – und seine sonst etwas trockenen und pedantischen Züge gewannen beinahe einen Ausdruck von Schwärmerei, als er sagte:
„Sie haben mir den Glauben an das Leben wiedergegeben!“
Fräulein Hofer, die diese Aeußerung natürlich auf die Acten bezog, fand das doch etwas übertrieben und schüttelte befremdet den Kopf.
„Herr Justizrath, Sie wissen, ich achte Sie hoch, aber Ihre Actenmanie –“
„Um Gotteswillen nur das nicht!“ unterbrach sie Freising, mit allen Zeichen des Entsetzens. „Alles auf der Welt, nur keine Hochachtung!“
„Aber Herr Justizrath –“
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, aber das ist eine Eigenthümlichkeit von mir, ich – ich kann nun einmal keine Hochachtung vertragen – ich habe eine förmliche Aversion dagegen. Hassen Sie mich, wenn Sie wollen, aber achten Sie mich nicht hoch – ich habe das zu oft schon ausgehalten!“
Das Geständniß klang so verzweifelt, daß es die Idee erwecken konnte, bei dem Unfall sei nicht allein der Fuß, sondern auch der Kopf des Herrn Justizrathes zu Schaden gekommen. [320] Fräulein Hofer aber wußte durch die Ausplaudereien Lily’s, woher diese Aversion gegen die Hochachtung stammte, dagegen hatte sie keine Ahnung von der Intrigue, die Fräulein Lily auf eigene Hand eingefädelt hatte und deren Opfer sie selbst war. Sie ahnte nicht, daß ihr Mitleid und ihre unbefangene Theilnahme für etwas ganz anderes genommen wurden, und packte ganz ruhig erst die Acten und dann den Justizrath in ihren Schlitten, endlich stieg sie selbst ein und befahl dem Kutscher, nach der Försterei zu fahren.
Der Justizrath war sanftmüthig wie ein Lamm und ließ alles Mögliche mit sich vornehmen, nur bei der Abfahrt warf er noch einen bedenklichen Blick hinüber nach der Geisterspitze, dem „weißen Ungethüm“, das sein in der Verzweiflung gethanes Gelübde gehört und angenommen hatte. War er denn nun wirklich verpflichtet, an die Hexerei zu glauben?
Eine Viertelstunde später kam ein Bauernschlitten an, auf dessen Vordersitz sich Anselm und ein Knecht befanden, der die Pferde lenkte, aber Beide waren im höchsten Grade erstaunt und verblüfft, als sie die Unglücksstätte leer fanden. Die Trümmer des Schlittens lagen zwar noch an der alten Stelle, von dem Justizrath aber zeigte sich keine Spur.
„Er hat nicht länger warten wollen, und hat sich zuletzt selbst auf den Weg gemacht,“ meinte der Knecht, aber Anselm schüttelte den Kopf.
„Er konnte nicht fünf Schritte weit gehen, und dann hätten wir ihm ja auch begegnen müssen.“
Sie suchten noch einmal die ganze Windung des Weges ab, spähten in die Tiefe, riefen nach allen Himmelsgegenden; vergebens, der Justizrath war und blieb verschwunden. Die Männer blickten sich rathlos an, sie hatten beide denselben Gedanken und schauderten.
„Die Eisjungfrau hat ihn geholt!“ sagte Anselm endlich im Flüstertone. „Er hat sie gelästert, dafür hat sie ihn nun mit Haut und Haar genommen.“
„Ja, das hat sie gethan!“ bestätigte der Knecht, indem er die Hände faltete und einen scheuen Blick nach der Geisterspitze hinübersandte.
Anselm trat an den Rand des Weges und schaute in die Tiefe.
„Und die Acten hat sie auch geholt!“ rief er mit einem erneuten Schauder. „Schrecklich!“
„Gräßlich!“ bestätigte der Knecht, und dann bestiegen sie schleunigst wieder ihren Schlitten und flohen so schnell als möglich den Schauplatz des Entsetzlichen. Sie jagten im Galopp davon, um überall die Schauernachricht zu verbreiten, die Eisjungfrau habe den Justizrath Freising geholt, und er sei hinfort, zur Strafe für seine Freigeisterei, für ewig auf die Geisterspitze gebannt.
[333] „Also Anna war am vergangenen Dienstag in der Försterei? Wie kam sie dazu? Sie ist ja noch niemals dort gewesen?“
Es war Gregor Vilmut, der seine kleine Cousine Lily in dieser Weise examinirte. Er war soeben erst von Werdenfels herüber gekommen und hatte nur das junge Mädchen im Balconzimmer gefunden. Lily war bekanntlich sehr kriegerisch gegen den Vetter Gregor gestimmt, sobald er abwesend war, in seiner Gegenwart aber hielt weder diese Tapferkeit noch ihr gewohnter Uebermuth Stand. Auch jetzt zeigte sie sich sehr ernst und verständig und war nur erstaunt, daß ihre ganz harmlose und zufällige Aeußerung über jenen Ausflug ihrer Schwester den gestrengen Verwandten so erregte. Er war aufgefahren, als sie den Tag nannte, und seine Fragen klangen so scharf und heftig, als ob es sich um ein begangenes Unrecht handelte.
„Anna hatte den Eltern Fräulein Hofer’s längst einen Besuch versprochen,“ entgegnete Lily. „Es war stets davon die Rede, daß sie einmal nach der Försterei kommen werde.“
„Und dieser Besuch wurde auf einmal so dringend, daß sie ihn mitten im Winter abstatten mußte. Warum nahm sie Dich nicht mit? Du pflegst sie ja sonst stets zu begleiten.“
„Sie fuhr mit Emma Hofer, und in unserem Schlitten haben nur zwei Personen Raum. Anna kehrte ja auch schon am folgenden Tage wieder zurück.“
Vilmut erhob sich und trat an das Fenster, indem er dem jungen Mädchen den Rücken zuwendete.
„Er war an dem Tage in Felseneck!“ murmelte er. „Sie haben sich wieder gesehen, wieder gesprochen – ich weiß es!“
Lily wagte noch eine schüchterne Bemerkung, die aber nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurde. Sie fand es sehr anmaßend, daß Gregor sogar die Besuche ihrer Schwester controlirte und darüber Rechenschaft verlangte, schwieg aber wohlweislich, denn sie sah, daß er äußerst ungnädig war. Sie athmete förmlich erleichtert auf, als Anna eintrat.
Die junge Frau begrüßte mit einer gewissen kühlen Zurückhaltung ihren Verwandten, der sich bei ihrem Eintritt umwandte und ihr entgegen ging. Es schien eine Entfremdung zwischen ihnen eingetreten zu sein seit jener letzten Unterredung im Pfarrhause, auch Vilmut’s Gruß hatte nichts mehr von der alten Vertraulichkeit.
„Ich komme, um zu hören, wie es mit dem Verkauf von Rosenberg steht,“ begann er. „Freising, den ich gestern sprach, sagte mir, daß er Dir einen Käufer vorgeschlagen habe. Du wirst jedenfalls den Vorschlag annehmen?“
„Nein,“ erwiderte Anna ruhig. „Ich habe dem Justizrath soeben geschrieben, daß ich den Antrag ablehne.“
„Ablehne? Und weshalb?“
„Weil das Gebot nicht den geforderten Preis erreicht. Du weißt, welchem Zwecke jene Summe dienen soll und weshalb ich darauf bestehen muß.“
„Allerdings, trotzdem solltest Du die Sache nicht von der Hand weisen. – Laß uns allein, Lily, ich habe mit Deiner Schwester zu reden!“
Lily würde unter anderen Umständen sehr beleidigt darüber gewesen sein, daß man sie ohne Weiteres wie ein Kind fortschickte. Da es aber galt, dem Vetter Gregor zu entlaufen, so nahm sie die Verabschiedung mit höchst vergnügter Miene hin und verschwand eiligst aus dem Zimmer.
Anna hatte sich inzwischen niedergesetzt. Sie war bleicher als sonst, und ihre großen braunen Augen hatten den strahlenden Glanz verloren; sie blickten matt und verschleiert, als hätten sie in der letzten Zeit viel Thränen vergossen, aber auch Vilmut schien verändert. Er zeigte nicht mehr die gewohnte eiserne Ruhe, die nichts mehr zu zerstören und zu erschüttern vermochte, es lag etwas Unruhiges, Unstetes in seinem Wesen, und es war auch nicht mehr der alte eisige Blick, der auf den Zügen der jungen Frau haftete, als wolle er die geheimsten Gedanken darin lesen. Es zuckte bisweilen auch in diesem Blicke, flackernd und unheimlich, wie eine Flamme, die vom Luftzuge hin und her getrieben wird.
„Ich würde Dir rathen, den Vorschlag anzunehmen,“ nahm Vilmut das Gespräch wieder auf. „Wer weiß, ob sich sobald ein zweiter Käufer für Rosenberg findet. Jene letzte Schuld Deines Gatten muß allerdings im vollen Umfange gedeckt werden, aber die gebotene Summe deckt sie zum größten Theil, und das Fehlende würde ich im Nothfalle aus eigenen Mitteln ergänzen.“
„Du, Gregor?“ fragte Anna mit unverhehltem Erstaunen. „Deine Mittel sind ja überhaupt beschränkt, wie die meinigen, und in diesem Winter vollends sind sie von allen Seiten in Anspruch genommen worden. Du hast ebenso wie ich alles nur Entbehrliche hingegeben.“
„Gleichviel! Meine Bürgschaft genügt für jede Summe, und ich stelle sie Dir zur Verfügung. Schließe den Kauf ab!“
Die letzten Worte klangen nicht wie ein Rath, sondern wie ein Befehl, dessen Befolgung man erwartet. Anna schlug langsam das Auge auf und fragte statt aller Antwort:
[334] „Liegt Dir so viel daran, daß ich Rosenberg verlasse?“
Vilmut zuckte ungeduldig die Achseln.
„Welche thörichte Empfindlichkeit! Mir liegt daran, Dich diesen ungewissen Verhältnissen zu entziehen, damit Du endlich einen festen und bestimmten Zukunftsplan fassen kannst. Ich dächte, das müßte Dir selbst erwünscht sein, aber Du scheinst keine Eile damit zu haben.“
„Wenigstens will ich nichts übereilen. Freising selbst räth mir, noch zu warten, da das Landgut den geforderten Preis werth ist, und im schlimmsten Falle haftet es für jene Schuld. Ich habe fast noch ein Jahr Zeit zur Tilgung derselben.“
„Und so lange willst Du natürlich in der Nähe von Werdenfels bleiben?“ fragte Gregor mit scharfer Betonung.
„Ja!“
Es war nur ein einziges Wort, aber es lag eine so stolze und entschiedene Abwehr darin, daß Vilmut sich auf die Lippen biß.
„Du machst es mir so deutlich klar, daß ich keinen Einfluß mehr auf Deine Entschlüsse habe,“ bemerkte er. „Auch jenen eigenthümlichen Besuch in der Försterei hast Du ohne mein Wissen unternommen, und ich werde vermuthlich nicht erfahren, was ihn veranlaßte.“
„Nein, Gregor, denn es ist eine Angelegenheit, die nur mich allein betrifft.“
„Und vielleicht auch den Herrn von Felseneck, der gerade an jenem Tage nach seinem Bergschlosse fuhr. Doch sei es darum, ich errathe, was Du mir verschweigst. Ueber eine andere Angelegenheit aber wirst Du die Güte haben, mir Auskunft zu geben. Ist es wahr, daß Baron Werdenfels, dem Du Deine Hand versagt hast, trotzdem in regelmäßiger Verbindung mit Rosenberg steht, daß fast keine Woche vergeht, wo er Dir nicht schreibt?“
„Also auch das hast Du erfahren?“ fragte Anna. „Freilich, was erfährst Du nicht! Ueber jene Correspondenz aber bist Du doch im Irrthum. Paul Werdenfels hat mir noch keine einzige Zeile geschrieben, seine sämmtlichen Briefe sind an Lily gerichtet.“
„An Lily?“ wiederholte Gregor mit einer Ueberraschung, als sei es undenkbar, daß Jemand sich die Mühe nehmen könnte, an das junge Mädchen zu schreiben. „Und Du weißt um diese Correspondenz, Du duldest sie?“
„Ich habe sie gestattet unter der Bedingung, daß ich die Briefe lese, und das geschieht auch regelmäßig. Ich,“ hier wurde die Stimme Anna’s wärmer und inniger, „ich möchte dem jungen Manne Ersatz geben für den Jugendtraum, den ich ihm zerstören mußte. Es hat ihm wehe gethan, ich weiß es, aber ich hoffe und wünsche, daß er diesen Ersatz in meiner Schwester finden wird.“
„Also Du hoffst das! Nun weiter – weiter!“
„Noch hat sich Baron Paul nicht erklärt, aber seine einstige Schwärmerei für mich ist überwunden, das sehe ich aus seinen Briefen. Er liebt Lily bereits, vielleicht noch ohne es zu wissen, und sie hängt an ihm mit ihrem ganzen kleinen Herzen. Sie werden und müssen sich finden, und ich kann und will diese aufkeimende Neigung nicht hindern.“
„Das sind ja überraschende Neuigkeiten!“ sagte Vilmut in herbem Tone. „Und Du hast eine derartige Verantwortung auf Dich genommen, ohne mich auch nur zu fragen? Hast Du vergessen, daß ich Lily’s Vormund bin und daß ich meine Einwilligung zu einer derartigen Verbindung verweigern werde?“
Die junge Frau erhob sich mit einer raschen Bewegung, und es legte sich wie ein Schatten auf ihre Züge.
„Und weshalb? Etwa weil Paul den Namen des Freiherrn trägt? Geht Dein Haß so weit?“
„Weil auch dieser Paul ein Werdenfels ist und weil ich nicht will, daß eine meiner Schutzbefohlenen dem Geschlechte angehört, das in seinem Hochmuthe nicht einmal den Priester ehrt und achtet. Der Vertreter der jüngeren Linie steht an Gottlosigkeit dem Chef des Hauses nicht nach, er ist der gelehrige Schüler seines Meisters. Du hast es ja mit angehört, als er mir seine Zukunftspläne hinsichtlich Buchdorfs entwickelte. Denkst Du, ich werde es jemals dulden, daß Lily einem solchen Manne die Hand reicht?“
„Willst Du auch sie Deiner starren Unduldsamkeit opfern, wie Du mich einst geopfert hast?“ rief Anna mit aufwallender Heftigkeit.
„Dich?“ fragte Gregor eisig. „Als ob Du Dich überhaupt je hättest opfern lassen! Als ob irgend etwas auf der Welt Dich von Werdenfels gerissen hätte, wenn es nicht seine Schuld gewesen wäre. Das allein band Deinen Willen und bindet ihn noch. Mir hättest Du Trotz geboten an seiner Seite.“
„Vielleicht! Aber die Fessel, die mich band, existirt nicht für Lily, und wenn Paul Werdenfels wirklich ihre Hand verlangt, so werde ich sie mit vollem Vertrauen in die seinige legen, trotzdem er Dein Gegner ist. Es liegt mehr Tüchtiges und Edles in seiner Natur, als Du ahnst, ich habe Proben davon. Auch Deine vormundschaftliche Gewalt hat ihre Grenzen, wenn ich mich offen und rückhaltslos auf die Seite des jungen Paares stelle, und das werde ich thun.“
In Vilmut’s Augen zuckte es wieder auf, es war jene unstäte Flamme, die in einem Momente zugleich aufflackerte und erlosch.
„Das heißt mit anderen Worten, Du willst mir gleichfalls den Krieg erklären? Ich habe es gewußt, daß wir schließlich dahin gelangen würden, von dem Augenblicke an, wo Werdenfels von seinem Felsenschlosse zurückkehrte. Seitdem bist Du nicht dieselbe mehr, Du hast Dich Schritt für Schritt wieder dem Zaubernetze genähert, mit dem er Dich schon einmal umstrickte. Denkst Du, ich habe sie nicht gesehen, die geheime Angst, die Dich Tag und Nacht verzehrt, seit Du hörtest, daß er in Gefahr schwebt? Denkst Du, ich weiß es nicht, was Dich nach der Försterei führte? Du hast warnen, bitten wollen, ihn der Gefahr entreißen. Es scheint vergebens gewesen zu sein; denn er ist noch in Werdenfels und hat auf einmal Lust bekommen, den strengen Herrn und Gebieter zu spielen.“
„Ja, es war vergebens.“ sagte die junge Frau mit stolzer, glühender Genugthuung. „Raimund ist muthiger als ich. Er bleibt und wird Euch Allen die Spitze bieten.“
Vilmut lachte, es war ein grelles, höhnisches Lachen, das den Ohren wehe that.
„Du bewunderst ihn wohl neuerdings noch als einen Helden? Es gab eine Zeit, wo man diesen Raimund in Deiner Gegenwart nicht einmal nennen durfte, wo schon sein bloßer Name Dich erbleichen und verstummen machte. Das hat sich geändert, der Name ist Dir sehr geläufig geworden, und wenn Du die Hand Deiner Schwester ergreifst und er die seines Neffen, um sie in einander zu legen, so könnten sich auch ein Paar andere Hände finden!“
Anna’s Auge sank zu Boden, sie dachte an jene Begegnung, an ihr schauderndes Zurückweichen und Raimund’s finsteres Abwenden, und schwer und langsam sagte sie:
„Nein, die finden sich nie!“
Gregor trat zu ihr, und jetzt war es seine Hand, die die ihrige ergriff und die zarten Finger mit so heftigem Druck preßte, als sollten sie zerbrechen. Sein Auge bohrte sich förmlich in das ihrige, und seine Stimme klang dumpf und heiser, als raube ihm irgend etwas den Athem.
„Das hoffe ich! Du darfst diesem Werdenfels nicht angehören! Das habe ich Dir damals zugerufen, als ich zuerst die Beziehungen zwischen Euch entdeckte, und das wiederhole ich Dir jetzt. Noch ist seine Schuld ungesühnt, und sie fällt auf Dich, wenn Du es wagst, dem Schuldigen zu folgen, Ihr werdet Beide daran zu Grunde gehen! Der Lehrer, der ehemalige Vormund hat die Macht über Dich verloren, nun denn, so gehorche dem Worte des Priesters, der Dir sagt: Du sollst jenem Manne nicht angehören!“
Es wehte etwas wie düstere, unheilvolle Prophezeiung aus diesen Worten, Anna zog langsam ihre Hand aus der seinigen und trat etwas zurück, aber es lag keine Furcht und keine Nachgiebigkeit in ihrer Haltung, vielmehr eine unbeugsame Entschlossenheit.
„Die Zeit meines blinden Gehorsams ist vorüber, Gregor! Wenn ich die Vergangenheit überwinden könnte, Du würdest mich nicht daran hindern, und auch Dein Priesterwort würde mich nicht schrecken. Ich kann es nicht, und Raimund weiß, daß ich es nicht kann, deshalb bleibt er mir fern. Aber wenn ich mein eigenes Glück nicht vertheidigen durfte, für das meiner Schwester werde ich kämpfen. Versuchst Du, es zu zerstören, so wirst Du mich an Lily's Seite finden. Sie soll nicht auch elend werden, wie ich und Raimund es geworden sind – durch Dich!“
Und ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, wandte sie sich ab und verließ das Gemach.
Gregor machte unwillkürlich eine Bewegung, als wolle er sie [335] zurückhalten, aber schon im nächsten Augenblicke besann er sich und blieb regungslos stehen, nur sein Auge folgte der hohen, ernsten Gestalt, folgte ihr wie gebannt, bis sie im Nebenzimmer verschwand. Dann sagte er halblaut, aber mit einem Ausdruck unendlicher Bitterkeit:
„Es ist noch Mancher elend, außer Euch Beiden – und vielleicht mehr als Ihr!“ –
Während Lily’s Zukunft Anlaß zu solcher scharfen Meinungsverschiedenheit zwischen ihrer Schwester und dem Pfarrer gab, befand sich die junge Dame in einer Situation, die mit den Gedanken an ihre baldige Vermählung nicht recht in Einklang zu bringen war.
Sie trug nämlich auf dem Kopfe einen Papierhut von riesigen Dimensionen, sehr künstlich aus alten Zeitungen gefertigt, dessen Spitze ein Büschel alter Pfauenfedern zierte, die sich irgendwo in einem Winkel gefunden hatten. In der Hand dagegen hielt sie einen großen Heurechen, der als Gewehr diente, und in dieser Ausrüstung commandirte, exercirte und manövrirte sie nach allen Regeln der Kriegskunst, während der kleine Toni vom Mattenhofe, der in ähnlicher Weise ausstaffirt war, als freiwilliger Recrut bei ihr das Exerciren lernte.
Der alte Gärtner, der in Werdenfels gewesen war, hatte den Kleinen von dort mitgebracht, wie dies öfter geschah, denn Toni war ein besonderer Schützling der Frau von Hertenstein. Sie nahm sich in jeder Hinsicht des verwaisten Knaben an, und heute sollte sich dieser in dem neuen Anzuge präsentiren, den die gnädige Frau ihm kürzlich geschenkt hatte. Der Großvater konnte ihn nicht begleiten, da die schwere Tagesarbeit, mit der er sich und das Kind ernährte, keine Unterbrechung erleiden durfte.
Der Gärtner war soeben mit seinem Schutzbefohlenen angelangt, als Fräulein Lily erschien und sich schleunigst des willkommenen Spielcameraden bemächtigte, denn sie trieb noch gar zu gern Kinderpossen und ließ sich selten eine Gelegenheit dazu entgehen.
Sie nahm den Kleinen mit sich in den Garten, und nach verschiedenen Streifzügen gelangten Beide in das Gartenhaus, das zwar im Winter nicht benutzt wurde, aber unverschlossen war. Da es draußen ziemlich kalt war, so wurde der Spielplatz in den kleinen Gartensaal verlegt, und das Soldatenspiel, zu dem die Requisiten aus allen Ecken und Winkeln hervorgesucht wurden, war bald in vollem Gange.
Toni zeigte sich dabei geradezu als ein militärisches Genie. Er begriff jedes Commando, hielt Tact bei dem Marschiren und gewann die volle Zufriedenheit des jugendlichen Commandanten.
Das Gartenhaus lag am äußersten Ende der Besitzung, auf einem keinen Rasenhügel, und unmittelbar daran vorüber führte ein Fahrweg, der eine Strecke weiter in die Landstraße mündete und auf dem soeben ein eleganter offener Jagdwagen heranrollte. Der Herr, neben dem ein alter Diener in dunker Livrée saß, lenkte die Pferde selbst, aber er mäßigte ihre schnelle Gangart immer mehr, je mehr er sich Rosenberg näherte.
Paul Werdenfels pflegte mit Vorliebe gerade diesen Weg zu benutzen, wenn er nach Buchdorf fuhr, obgleich derselbe sehr schlecht und uneben war, aber er führte dicht an dem Landgute vorüber, während die Chaussee einen weiten Bogen machte. Bisher war es dem jungen Manne aber noch nicht geglückt, im Vorbeifahren eine der Bewohnerinnen zu erblicken, er war freilich auch nur selten auf seinem Gute gewesen. Heute aber, wo er ebenfalls von dort kam, schien ihm der Zufall günstiger zu sein, denn aus der offenen Thür des Gartenhauses tönte übermüthiges Lachen und der laute Jubel einer Kinderstimme.
Paul kannte dies frische silberhelle Lachen, das damals am Schloßberge seine unfreiwillige Niederfahrt begleitet hatte, nur zu gut. Er schwankte kaum einen Augenblick, Frau von Hertenstein wußte ja jetzt um seine Correspondenz mit ihrer Schwester, da durfte er sich schon eine Ueberraschung erlauben.
„Nimm die Zügel, Arnold,“ sagte er rasch. „Ich will nur einen Augenblick die Damen begrüßen und komme sogleich wieder zurück. Du wartest inzwischen hier.“
Dann schwang er sich leicht vom Bock, öffnete die kleine Thür in der niedrigen Gartenhecke, die gleichfalls unverschlossen war, und trat ein.
Lily hatte sich soeben an die Spitze ihres Kriegsheeres gesetzt und führte einen wundervollen Parademarsch aus, wobei sie mit lauter stimme commandirte, plötzlich aber machte sie ohne jegliches Commando Halt, denn vor ihr stand der junge Baron Werdenfels und maß mit etwas verwundertem Blicke den Papierhut und den Heurechen.
Das junge Mädchen wurde dunkelroth; in den freudigen Schreck über dies unverhoffte Wiedersehen mischte sich eine peinliche Verlegenheit. Es war aber auch gar zu fatal, sich so überraschen zu lassen, nachdem sie so lange die Rolle eines tröstenden Schutzengels gespielt hatte und dem Tröstungsbedürftigen eine Art von Ideal geworden war. Zum Glück war Paul ebenso verlegen wie sie.
„Verzeihung, wenn ich störe,“ sagte er stockend. „Ich fuhr gerade vorüber und da – da wollte ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, mein Fräulein.“
„Ich danke,“ versetzte Lily, gänzlich aus der Fassung gebracht. „Ich befinde mich ganz wohl – ich spielte Soldat mit dem Toni!“
Sie nahm in ihrer Verwirrung den Heurechen von der rechten Hand in die linke, ohne ihn jedoch loszulassen. Toni machte es pflichtschuldigst ebenso mit seinem Stock, denn er folgte genau jeder Bewegung seines Exercirmeisters.
„Sie dürfen mir nicht zürnen wegen dieses Ueberfalles,“ nahm Paul wieder das Wort. „Es war wirklich nur ein Zufall, der mich vorüberführte, aber da hörte ich Ihre Stimme und da – konnte ich es nicht länger aushalten, ohne Sie wiederzusehen.“
Lily’s ganzes Gesicht war wie in Gluth getaucht, obgleich die Worte sie nicht eigentlich überraschten. Die Briefe des jungen Baron waren in der letzten Zeit so unzweideutig geworden, daß sie nicht mehr länger im Zweifel sein konnte, wem seine Huldigung jetzt galt. Damit war aber auch die Unbefangenheit geschwunden, mit der sie ihm sonst begegnete. Sie wußte freilich nicht, wie reizend sie ihm gerade in dieser Verwirrung und Verlegenheit erschien. Er fand, daß ihr der Papierhut zum Entzücken stand, und sogar das unförmliche Heu-Instrument störte nicht seine Bewunderung.
Jetzt aber machte sich der kleine Toni bemerkbar, der mit großem Mißvergnügen die Unterbrechung des Spiels empfand. Er machte dem fremden Herrn den Vorschlag, sich gleichfalls zu bewaffnen und an dem Exercitium theilzunehmen, Fräulein Lily werde commandiren.
Diese Zumuthung gab der jungen Dame die verlorene Haltung zurück, sie wußte ganz genau, wie sie fortgeschickt wurde, wenn ihre Gegenwart unbequem wurde, deshalb nahm sie die strenge Miene Gregor’s an und sagte würdevoll:
„Geh hinaus, Toni! Ich habe mit dem fremden Herrn zu reden – wichtige Dinge!“
Toni zog ein Gesicht, da er aber ein folgsames Kind war, so gehorchte er der Weisung und setzte draußen das Spiel auf eigene Hand fort, indem er Schildwacht stand und vor der Thür auf- und abmarschirte.
Lily schulterte wieder ihren Rechen, den sie so krampfhaft festhielt, als ob das Leben davon abhinge, jetzt aber nahm ihn Paul sanft aus ihrer Hand und lehnte ihn an die Wand.
„Legen Sie doch dies Ungethüm bei Seite,“ bat er. „Sie stehen so kriegerisch da, daß ich es gar nicht wage, Ihnen zu nahen, und ich habe Ihnen doch so viel, so unendlich viel zu sagen. Ich wäre längst nach Rosenberg gekommen, wenn ich es gewagt hätte. Ich wußte ja nicht, ob Frau von Hertenstein meinen Besuch überhaupt annehmen würde, und Sie, Lily – wäre ich Ihnen willkommen gewesen?“
Lily gab keine Antwort, aber ihr Blick sprach deutlicher als Worte und er wurde verstanden, denn Paul trat näher und beugte sich zu ihr herab, während er mit steigender Wärme fortfuhr:
„Ich habe in der letzten Zeit sehr oft geschrieben und wohl auch sehr offenherzig. Sie müssen es ja wissen, was ich Ihnen zu sagen, was ich von Ihnen zu erbitten habe – werde ich vergebens bitten?“
Da flog es wie ein Schatten über die Züge des jungen Mädchens und in ihren hellen braunen Augen glänzte eine Thräne, als sie leise, mit halb erstickter Stimme, erwiderte:
„Was kann ich Ihnen denn geben? Sie haben ja meine Schwester geliebt!“
„Ja, ich habe sie geliebt!“ sagte Paul ernst, „und ich will diese Liebe nicht herabsetzen und verkleinern, auch vor Ihnen [336] nicht, aber sie ist von jeher hoffnungslos gewesen, wie sehr, das weiß ich erst seit einigen Tagen. Ich fühle erst jetzt, wie hoch und fern Anna von Hertenstein von jeher über mir gestanden hat und wie nahe und lieb mir eine Andere war, vom ersten Augenblicke an, wo das Schicksal mich mit ihr zusammenführte. Können Sie es verzeihen, Lily, daß Sie nicht meine erste Neigung gewesen sind? Ich bringe Ihnen trotzdem jetzt ein ganzes, volles Herz entgegen. Werden Sie es mir glauben, wenn ich Ihnen sage: Lily, meine kleine Lily, ich habe Dich so unendlich lieb!“
Das war wirklich der volle Ton des Herzens, und davor verschwanden auch die Schatten und Zweifel in der Seele des jungen Mädchens, die Thräne in ihrem Auge schmolz in einem glückseligen Lächeln.
„Und ich habe Dich auch lieb, Paul!“ rief sie und flog in seine weitgeöffneten Arme. Er zog sie stürmisch an seine Brust, der Papierhut fiel rauschend zu Boden, und draußen vor der offenen Thür stand der kleine Toni und sah mit offenem Munde und großen Augen zu. Die Sache erschien ihm im höchsten Grade verwunderlich. –
Arnold hielt inzwischen draußen auf dem Fahrwege, aber in übelster Laune und mit tiefgekränkter Seele. Er wußte freilich, was dieser Besuch bedeutete, man brauchte es ihm nicht erst zu sagen, daß man es ihm aber nicht sagte, erregte dennoch sein höchstes Mißfallen.
Der junge Herr war verlobt mit Frau von Hertenstein, das stand fest, und die Verlobung wurde mit Rücksicht auf den Pfarrer Vilmut noch geheim gehalten, daß man aber auch ihm, dem langjährigen treuen Diener, ein Geheimniß daraus machte, das war unerhört, und er beschloß, das seinem Junker Paul nachdrücklichst zu Gemüthe zu führen.
Zu den vielen löblichen Eigenschaften Arnold’s gehörte auch eine hervorragende Neugierde. Er hätte gar zu gern ein wenig spionirt, aber er mußte bei dem Wagen bleiben und konnte die ungeduldigen Thiere sich nicht selbst überlassen; ein fester Wille überwindet jedoch manches Hinderniß, das zeigte sich auch hier. Arnold fuhr langsam noch einige zwanzig Schritt weit und hielt dann unmittelbar unter den Fenstern des Gartenhauses, natürlich ganz zufällig, dann stand er ebenso zufällig auf, um einen Baumzweig bei Seite zu schieben, der den Wagen streifte, und suchte dabei mit langgestrecktem Halse einen Einblick in das Innere zu gewinnen.
Er wußte freilich im Voraus, was er sehen werde, eine zärtliche Gruppe, die gnädige Frau auf dem Sopha und den jungen Herrn neben ihr, schwärmerisch und ehrfurchtsvoll ihre Hand an seine Lippen drückend, er war merkwürdig ehrfurchtsvoll in seiner Liebe. Das Bild, das sich in Wirklichkeit zeigte, sah aber ganz anders aus.
Frau von Hertenstein war überhaupt gar nicht vorhanden, aber der Junker Paul stand mitten im Zimmer und hielt eine junge Dame in den Armen, die einen ganz merkwürdigen Papierhut mit Pfauenfedern auf dem Kopfe trug, und die Beiden küßten sich ohne jede Ehrfurcht, aber mit einer Vertraulichkeit, als ob sich das von rechtswegen so gehöre. Und jetzt fiel der Hut zu Boden, und Arnold erkannte die braunen Flechten und das rosige Antlitz Lily Vilmut’s – das war dem alten Diener zu viel, die Zügel fielen ihm aus der Hand, und er sank förmlich auf den Sitz nieder.
Erst nach einer geraumen Zeit kehrte Paul zurück. Er hatte seine junge Braut sofort zu Anna führen wollen, aber Lily protestirte dagegen, weil Gregor sich bei ihrer Schwester befand. Es war dem jungen Manne nun allerdings nicht erwünscht, mit dem Pfarrer zusammenzutreffen, von dem er so feindselig geschieden war, das hieß gleich in der ersten Stunde der Verlobung einen Sturm auf dieselbe herabrufen. Man kam also überein, daß Lily zuerst allein mit ihrer Schwester reden und daß ihr Bräutigam morgen nach Rosenberg kommen solle, um seinen Antrag in aller Form zu wiederholen.
„Da bin ich wieder!“ sagte Paul, indem er sich auf den Wagen schwang und die Zügel ergriff. „Es hat etwas lange gedauert.“
„Ja, sehr lange!“ bestätigte Arnold in einem Tone, der förmlich unheilsvoll klang, aber der junge Mann achtete nicht darauf, er trieb die Pferde zum vollen Galopp an, und dabei strahlte sein ganzes Gesicht in glückseligem Uebermuth.
Arnold hüllte sich zunächst in düsteres Schweigen, er wollte erst die Stätte des Verrathes hinter sich lassen, und der unebene Weg, wo man bei der raschen Fahrt hin- und hergeworfen wurde, hätte auch den Effect seiner Predigt beeinträchtigen können, als der Wagen aber jetzt in die Chaussee einbog, richtete er sich feierlichst empor und sagte nachdrücklich:
„Herr Paul – ich schaudere vor Ihnen!“
„Was thust Du?“ fragte Paul, sich zu ihm wendend.
„Ich schaudere!“ wiederholte Arnold noch energischer. „Das hätte ich denn doch nicht von Ihnen erwartet, dergleichen haben Sie ja nicht einmal in Italien angestiftet, das – ja das hätte nicht einmal der Signor Bernardo gethan!“
Es war die höchste Potenz seiner Verachtung, wenn er seinen jungen Herrn noch unter den Signor Bernardo stellte, und das machte auch Eindruck, denn Paul fragte mit einer gewissen Besorgniß:
„Aber was hast Du denn eigentlich?“
„Sie fragen noch?“ rief Arnold. „Sie sind verlobt mit Frau von Hertenstein und haben heimliche Zusammenkünfte mit ihrer Schwester. Sie küssen das Kind ganz ungenirt, und die Kleine läßt sich küssen – es ist himmelschreiend!“
Paul lachte laut auf, aber er war nicht in der Stimmung, diese Spionage übel zu nehmen.
„Ah, Du hast spionirt?“ rief er. „Ist es mir doch gewesen, als ob ich am Fenster ein fremdes Gesicht gesehen hätte, aber ich habe nicht darauf geachtet, wir hatten Besseres zu thun.“
Das schien dem alten Diener der Gipfel aller Abscheulichkeit zu sein und er begann eine Predigt, die all seine bisherigen Redeleistungen in Schatten stellte, eine Predigt, in der Signor Bernardo wie ein lichter Engel und Paul Werdenfels wie der schwärzeste aller Verräther erschien. Paul, den die Sache höchlich amüsirte, hörte ganz andächtig zu, erst als sein alter Mentor Athem schöpfen mußte, sagte er:
„Arnold, von all den Dingen, die Du Dir da zusammengereimt hast, ist auch nicht eine Silbe wahr. Ich bin nie mit Frau von Hertenstein verlobt gewesen, und was ihre Schwester betrifft, so wirst Du Dich ihr morgen in Rosenberg vorstellen und ihr Deinen allertiefsten Respect zu Füßen legen, denn sie wird Deine künftige gnädige Frau werden.“
„Die Kleine – mit dem Papierhut?“ rief Arnold, der in seiner Ueberraschung fast vom Bock gefallen wäre.
„Fräulein Lily Vilmut, meine Braut!“ bestätigte Paul nachdrücklich. „So sieh’ doch nicht aus, als ob Du aus den Wolken gefallen wärst! Hast Du nicht einmal einen Glückwunsch für Deinen jungen Herrn?“
Arnold bedurfte einer ganzen Zeit, ehe er überhaupt wieder zu Athem kam, dann aber faltete er die Hände und sagte wehmüthig:
„Das wird ein Leben in Buchdorf werden! Jetzt muß ich auch noch die junge gnädige Frau erziehen – und ich habe doch schon genug mit Ihnen zu thun, Herr Paul!“
[349] Der Freiherr von Werdenfels hatte Wort gehalten. Seine Geduld war in der That zu Ende und das Dorf lernte zum ersten Male die Strenge des Gutsherrn kennen. Trotz aller Warnungen hatten sich die nächtlichen Zerstörungen im Parke wiederholt, diesmal aber hatte man auf Befehl Raimund’s die Thäter ergriffen und sich ihrer versichert; sie harrten der verdienten Strafe.
Man war es in Werdenfels längst gewohnt, jede Handlung des Schloßherrn, welcher Art sie auch sein mochte, mit Mißtrauen und Erbitterung aufzunehmen, aber man war es auch gewohnt, daß jeder Angriff gegen ihn straflos blieb. Die Energie, die er diesmal kundgab, erregte im ersten Augenblicke Bestürzung, dann aber flog ein Schrei der Entrüstung durch das ganze Dorf, und Alles war darüber einig, daß man sich dergleichen von dem Felsenecker nicht gefallen lassen könne und dürfe.
In der Kirche war die Messe beendigt, und die Andächtigen hatten sich entfernt, nur der Pfarrer saß noch im Beichtstuhle und hörte eine Beichte, die ihm im Flüstertone vertraut wurde. Sie mußte wohl Ernstes und Schweres enthalten, denn der Knieende hatte das graue Haupt tief auf die gefalteten Hände niedergesenkt, und die Stimme des Geistlichen klang jetzt in einer wahrhaft vernichtenden Strenge:
„Ihr habt das Zuchthaus verdient, Eckfried! Was der Freiherr Euch erlassen hat, das müßte ich Euch auferlegen und fordern, daß Ihr dieses Geständniß vor dem ganzen Dorfe wiederholt.“
Eckfried zuckte zusammen, und sein Athem stockte, als er fragte:
„Hochwürden, Sie wollten -?“
„Nein,“ unterbrach ihn Vilmut. „Ich will nicht, daß der Name einer alten ehrenwerthen Bauernfamilie beschimpft wird, und ich will vor allen Dingen nicht, daß die weltliche Gerechtigkeit straft und richtet, was mir im Beichtstuhle anvertraut wurde. Verdient hättet Ihr die Strafe.“
„Ich hab es ja nicht ausgeführt,“ sagte Eckfried abgebrochen. „Es hat keinen Schaden gethan – der junge Baron kam dazwischen – ich sagte es Ihnen ja.“
„Der Wille ist so schlimm wie die That selbst. Habt Ihr nicht dem Freiherrn an das Leben gewollt? Antwortet, ja oder nein?“
Dem Freiherrn gegenüber hatte sich Eckfried mit ungebrochenem Trotze zu seiner Absicht bekannt und sich ihrer sogar gerühmt, vor der strengen Frage des Priesters sank sein Trotz zusammen, und er verstummte.
„Ich habe gemeint, es wär’ keine Sünde – weil’s dem Werdenfels galt!“ murmelte er endlich. „Sie haben es uns ja oft genug gesagt, Hochwürden, daß er zeitlich und ewig verdammt ist, und Sie müssen es doch wissen.“
„Wollt Ihr etwa mich für Euer Verbrechen verantwortlich machen?“ fragte Vilmut mit schneidender Schärfe. „Maßt Ihr Euch an zu richten, wenn ich einen Schuldigen verdamme? Das ist mein Amt allein, aber das ganze Dorf scheint in dieser Hinsicht in einem verhängnißvollen Irrthume befangen zu sein. Ich habe schon mehr Bekenntnisse gehört und schon mehr Strafen verhängen müssen; doch jetzt habe ich mit Euch allein zu thun.“
Der Alte wagte keine fernere Vertheidigung, er senkte scheu und demüthig das Haupt zu Boden. Er war nicht überzeugt, sein Haß gegen den Freiherrn nicht gemindert, aber da der Pfarrer seine That verdammte, so mußte sie wohl verdammungswerth sein, und er beugte sich willenlos dem allmächtigen Worte des Priesters, der jetzt fortfuhr:
„Ihr werdet die Bußübungen, die ich Euch auferlegt habe, genau und pünktlich befolgen.“
„Ja, Hochwürden.“
„Und außerdem werdet Ihr noch heute Euren Enkel zu mir bringen.“
Eckfried sah auf, und in seinen Zügen malte sich eine unbestimmte Angst, als er fragte:
„Den Toni?“
„Ja. Die junge Seele des Kindes darf nicht länger solchen Einflüssen preisgegeben werden. Es gehört nicht in die Obhut eines Großvaters, der zum Mordbrenner werden wollte. Ihr werdet Euch von ihm trennen.“
„Von dem Toni? Von meinem kleinen Buben? Und was – was wollen Sie denn mit ihm machen?“
„Er soll in bessere und vor allen Dingen in strengere Zucht, als die Eure ist. Die Fischersleute drüben am Grundsee haben vor Kurzem ihren einzigen Knaben verloren, sie sollen einstweilen Euren Enkel zu sich nehmen, und Ihr werdet ihn nicht eher wiedersehen, als bis ich es Euch erlaube.“
„Hochwürden!“ fuhr der Alte in tödtlichem Schrecken empor, „thun Sie mir das nicht an! Alles, nur das nicht. Die Fischer am Grundsee sind harte Leute, sie werden schlimm mit dem armen Buben umgehen – er ist noch so klein und so an mich [350] gewöhnt – legen Sie mir jede Strafe auf, und wenn es noch so schwer ist, ich will’s aushalten – aber lassen Sie mir meinen Toni.“
„Nein,“ sagte Vilmut unbewegt. „Ihr habt das Recht verwirkt, ein Kind zu erziehen. Ich weiß, daß diese Strafe die härteste für Euch ist, härter, als selbst das Gefängniß, und gerade deshalb lege ich sie Euch auf. Am Grundsee kommt der Bube in rauhe, aber auch in fromme und tüchtige Zucht, dafür werde ich sorgen. Es bleibt dabei, Ihr bringt den Knaben noch heute zu mir.“
Da hob der alte Mann die gefalteten Hände empor, und seine Stimme brach fast in bitterem Schmerze.
„Hochwürden, ich hab’ nicht mehr lange zu leben, und was ich vom Leben gehabt habe, ist auch nur Jammer und Noth gewesen, Sie wissen es ja. Ich habe Alles verloren – Alles! Nur der kleine Bub’ ist mir noch geblieben, und so lang’ ich den behalte, so lang’ halte ich es noch aus im Leben. Ich habe schwer arbeiten müssen in der letzten Zeit für uns Beide, aber wenn ich halbtodt nach Hause kam und der Toni kam gesprungen und lachte mich an, dann war es vergessen. Den Toni dürfen Sie mir nicht nehmen und den geb’ ich auch nicht her – komm es wie es wolle!“
„Nicht?“ fragte Vilmut kalt. „Das wird sich zeigen. Ihr übergebt mir entweder den Knaben oder – ich verweigere Euch die Absolution. Ihr habt zu wählen.“
Eckfried schlug beide Hände vor das Gesicht und stöhnte laut auf.
„Nun?“ sagte der Pfarrer nach einer Pause. „Wollt Ihr die Schuld ungesühnt auf der Seele behalten, oder wollt Ihr gehorchen?“
Der Ton der Frage zeigte, daß er seiner Sache sicher war, und er täuschte sich auch nicht.
Die Hände des alten Mannes sanken matt nieder, und dumpf und tonlos erwiderte er:
„Ich will’s thun!“
Einige Minuten später verließ Vilmut die Kirche, während Eckfried ihm folgte. Draußen auf dem Kirchplatz tummelte sich eine Schaar von Kindern, sie jagten sich lustig umher, aber beim Erscheinen des Geistlichen wurde das Spiel sofort unterbrochen, und die sämmtlichen Kinder kamen herbei, um dem hochwürdigen Herrn die Hand zu küssen.
Der kleine Toni, der sich unter ihnen befand, war einer der Ersten, dann aber lief er eiligst zu seinem Großvater, an dem er mit großer Zärtlichkeit hing und welcher das Kind jetzt so krampfhaft an sich preßte, als wolle er es nicht wieder loslassen. Vilmut wandte sich zu ihm und sagte mit voller Gelassenheit:
„Ich werde Euren Enkel sogleich mit mir nehmen, er bleibt bis morgen im Pfarrhause.“
Der alte Mann sah in das rosige Gesichtchen, das noch heiß geröthet war vom raschen Laufe, in die hellen blauen Augen, die ihn so lachend und kinderfroh anschauten, und dann in das strenge, finstere Gesicht des Priesters, wo auch nicht ein Schimmer von Milde zu entdecken war.
„Ich kann nicht, Hochwürden!“ brach er aus. „Ich will nach dem Schlosse, ich will – den Werdenfels um Verzeihung bitten, und wenn ich daran sterben sollte – aber den Toni kann ich nicht hergeben!“
Statt aller Antwort nahm der Pfarrer das Kind aus den Armen des Großvaters und ergriff es bei der Hand.
„Ihr kennt die Bedingung, unter der ich Euch einzig und allein die Absolution gewährte! Ihr habt eine Schuld begangen und werdet ohne Murren die Strafe tragen, die ich über Euch verhänge. Wenn sie Euch schwer dünkt, so denkt daran, daß sie verdient ist. Komm, Toni!“
Toni begriff natürlich nicht, um was es sich handelte, aber er fürchtete sich vor dem strengen geistlichen Herrn und fühlte instinctmäßig, daß man ihn von seinem Großvater trennen wollte. Er begann deshalb laut und bitterlich zu weinen und versuchte, sich zu sträuben, aber Vilmut brachte diesen Widerstand bald zum Schweigen. Seine Hand legte sich mit hartem Griff auf den Arm des Kindes und zwang es ihm zu folgen.
Eckfried war zurückgeblieben, noch siegte die gewohnte blinde Unterwerfung unter den Willen des Priesters, er ließ es geschehen, daß man ihm sein Liebstes nahm, und wagte es nicht einmal, es zu vertheidigen, aber in seinem Antlitz zuckte es zum ersten Male wie Trotz und Ingrimm, und seine Hände ballten sich. Als der Kleine aber jetzt noch einmal das thränenüberströmte Gesicht zurückwandte und wie hülfeflehend nach dem Großvater blickte, da biß dieser die Zähne zusammen, und es kam wie ein dumpfes, drohendes Murren aus seiner Brust hervor:
„Mich straft er, und wer ist denn schuld daran? Er hat mich und das ganze Dorf gegen den Felsenecker gehetzt – er allein, und nun sollen wir es büßen!“ –
Vor der Schloßterrasse von Werdenfels stand der Wagen, der den jungen Baron nach Rosenberg führen sollte, dieser selbst aber befand sich noch bei seinem Onkel. Er hatte gestern nach seiner Rückkehr den Freiherrn nicht mehr gesprochen und ihm daher erst heute Vormittag seine Verlobung mitgetheilt.
Werdenfels nahm die Nachricht mit Ueberraschung, aber ohne Unwillen auf, er schien eher eine Genugthuung darüber zu empfinden, daß der junge Mann jene frühere Leidenschaft für die Schwester seiner Braut so vollständig überwunden hatte.
„Ich wünsche Dir Glück, Paul,“ sagte er, ihm herzlich die Hand reichend. „Und ich hoffe, Du wirst es finden in einem jungen Wesen, das sich Dir so ganz und voll zu eigen giebt. Ich habe Deine Braut freilich nur ein einziges Mal gesehen, damals am Schloßberg, als sie vor meiner Nähe bei Dir Schutz suchte. Vielleicht lehrst Du sie jetzt einsehen, daß ich nicht so sehr zu fürchten bin.“
„O, meine kleine Lily ist sehr gelehrig,“ versicherte Paul, der sich in der glücklichsten Bräutigamsstimmung befand. „Sie soll den gefürchteten Felsenecker bald besser kennen lernen. Allerdings gestand sie mir gestern im Vertrauen, sie habe im Anfange ernstlich gefürchtet, Du hättest mich nur nach Deinem Bergschlosse gerufen, um mir dort in aller Stille den Hals umzudrehen.“
Raimund lächelte, aber es war ein mattes, trübes Lächeln.
„Ich glaubte nicht, daß der Aberglaube der Bauern sich bis in solche Regionen versteigt. Also sogar bei seiner jungen Verwandten hat Vilmut dergleichen geduldet!“
„Vermuthlich! Aber in der Opposition gegen den Herrn Pfarrer sind Lily und ich einig. Sie hegt Gott sei Dank eine gründliche Antipathie gegen ihren geistlichen Vetter, und wir haben bereits vor der Verlobung ein Schutz- und Trutzbündniß gegen seine Hochwürden geschlossen.“
„Du solltest trotzdem diesen Gegner nicht unterschätzen, Du siehst es ja hier in Werdenfels, was seine Feindschaft bedeutet. Als Vormund Deiner Braut kann er Euch endlose Schwierigkeiten bereiten, und jedenfalls wird er alles daran setzen, diese Verbindung zu hindern.“
„Er soll es nur versuchen!“ rief Paul kampflustig. „Ich bin bereit, es mit ihm aufzunehmen, und Lily’s bin ich unter allen Umständen sicher.“
„So zähle auch auf mich, wenn ich Dir irgendwo mit meinem Einfluß zur Seite stehen kann,“ sagte der Freiherr. „Und nun geh’ und bringe Deiner Braut meinen Gruß und meinen Glückwunsch.“
„Und sonst – hast Du mir keinen Gruß aufzutragen?“ fragte Paul leise.
Raimund wandte sich ab und beugte sich über die Papiere seines Schreibtisches.
„Nein,“ entgegnete er nach einer Pause.
„Dann darf ich wohl auch nicht meine Braut zu Dir führen? Und ich hätte es doch so gern gethan. Du hast ja stets Vaterstelle an mir vertreten.“
„Wenn Lily erst an Deiner Seite in Buchdorf lebt, werde ich mich oft und gern an Eurem Glücke freuen – die Annäherung an Rosenberg mußt Du mir erlassen.“
Paul erneute seine Bitte nicht, denn er fühlte, daß dieser Punkt nicht weiter berührt werden dürfe. Er nahm Hut und Handschuhe und machte sich zum Gehen fertig.
„Ich werde wohl erst am Nachmittage zurückkommen,“ warf er hin. „Du begreifst, Raimund –“
„Daß Du Deinen ersten Besuch als Bräutigam etwas länger ausdehnst – ja, das begreife ich vollkommen. Vermuthlich willst Du auch Deinen Arnold mitnehmen, denn ich sah ihn vorhin in voller Gala am Fenster vorübergehen.“
[351] „Er würde es mir niemals verzeihen, wenn ich ihn bei solcher Gelegenheit zu Hause ließe!“ rief Paul lachend. „Er soll der künftigen Herrin seine Ehrfurcht bezeigen; es wird nur leider schwer sein, ihm den nöthigen Respect beizubringen, denn er findet, daß Lily viel zu klein ist, um die gnädige Frau von Buchdorf mit der nöthigen Würde zu repräsentiren, und sein einziger Trost besteht in der Hoffnung, daß sie mit der Zeit noch etwas wachsen wird.“
Er verabschiedete sich von dem Freiherrn und ging.
Werdenfels trat an das Fenster und sah ihn einsteigen, während Arnold in Galalivree und mit unendlich wichtiger Miene seinem jungen Herrn folgte. Paul, der seinen Onkel am Fenster bemerkte, beugte sich aus dem Schlage und warf noch einen Gruß zurück, strahlend heiter und glücklich, auch Raimund winkte mit der Hand dem fortrollenden Wagen nach, aber sein Antlitz verdüsterte sich, während er halblaut sagte:
„Wie schnell und leicht die Jugend überwindet! Auch nicht ein Schatten ist von jener Leidenschaft zurückgeblieben, nicht eine Wolke trübt ihm das neue Glück. Ich bin damals auch jung gewesen, aber ich habe es nicht überwunden, noch heute nicht – und werde es nie.“
Es war Nachmittag geworden und der Freiherr saß an seinem Schreibtische, als sein Kammerdiener eintrat, leise und ehrfurchtsvoll wie gewöhnlich, aber seine Miene verrieth doch, daß er etwas Ungewöhnliches zu melden habe.
„Herr Pfarrer Vilmut fragt, ob er den gnädigen Herrn sprechen kann.“
Werdenfels wandte sich mit einer raschen Bewegung um.
„Wer, sagten Sie?“
„Hochwürden, der Herr Pfarrer, er ist bereits im Vorzimmer.“
„So lassen Sie ihn eintreten.“
Der Diener entfernte sich, und gleich darauf erschien Gregor Vilmut; die Thür schloß sich wieder hinter ihm, und er war mit dem Freiherrn allein.
Werdenfels hatte sich erhoben, aber in seinem ganzen Wesen lag jener eisige Stolz, den der Pfarrer Hochmuth nannte. Er stand in völliger Unnahbarkeit da, der Feind dem Feinde gegenüber, und neigte kaum das Haupt gegen den Eintretenden.
Vilmut sah das mit einem einzigen Blicke, und seine Haltung wurde noch starrer und unverbindlicher, als sie ohnehin schon war, während er sich langsam näherte.
„Sie waren einst auf dem Wege zu mir, Herr von Werdenfels,“ begann er. „Unsere Begegnung verhinderte Sie, das Pfarrhaus zu betreten, ich nehme das jedoch als geschehen an und gebe es zurück, indem ich heute bei Ihnen erscheine.“
„Es liegen mehr als sechs Monate dazwischen,“ sagte Raimund, ohne sich von seinem Platze zu rühren. „Wie sie in Werdenfels verflossen sind, das wissen wir Beide ja hinreichend. – Was bringen Sie mir, Hochwürden?“
„Ich komme in Ihrem Interesse!“ betonte Vilmut, gereizt durch den Ton und die Haltung; in denen er den „Werdenfels’schen Hochmuth“ fühlte.
„In meinem Interesse? Ich bedaure, das ablehnen zu müssen. Ich weiß meine Interessen selbst wahrzunehmen, ohne Rath und Hülfe von Ihrer Seite.“
„So werden Sie wenigstens eine Warnung hören. Sie haben in den letzten Tagen eine ungewohnte Strenge gegen die Dorfbewohner gezeigt und wollen jetzt sogar einige derselben dem Gefängniß übergeben, wie ich höre.“
„Allerdings will ich das, denn meine Geduld hat endlich ihr Ende erreicht! Schon neulich wurde ein Attentat auf meine Gewächshäuser versucht, das nur die Wachsamkeit der Dienerschaft verhinderte. Heute Nacht ist der Versuch wiederholt worden, und meine ganze Orangerie ist ihm zum Opfer gefallen. Zwar wurden die Zerstörer diesmal auf der That ergriffen, aber die Stämme der sämmtlichen Orangenbäume waren bereits durchschnitten und eine zwanzigjährige Mühe und Pflege in einer halben Stunde vernichtet. Erwarten Sie vielleicht, daß ich auch das ungestraft hingehen lasse?“
„Nein. Ich bin durchaus Ihrer Meinung, daß die Thäter bestraft werden müssen, und bestreite Ihnen keineswegs das Recht dazu, aber die Ausübung desselben könnte diesmal verhängnißvoll werden. Sie haben bisher derartigen Vorkommnissen gegenüber die unbedingteste Gleichgültigkeit gezeigt, die Leute werden diesen plötzlichen Wechsel zur vollsten Strenge nicht begreifen.“
Raimund zuckte die Achseln.
„Auf Verständniß rechne ich bei den Bauern überhaupt nicht mehr. Ich habe bisher Nachsicht geübt, weil ich hoffte, das Aeußerste noch vermeiden zu können, aber eine Erfahrung, die ich kürzlich machte, hat mir gezeigt, daß es nicht zu vermeiden ist. So mag die Sache denn ihren Lauf nehmen.“
„Sie meinen das Verbrechen, das Eckfried gegen Sie plante und das noch rechtzeitig verhindert wurde?“ fragte Vilmut.
„Ja, aber wie erfuhren Sie davon? Der Alte wird doch nicht zum Selbstankläger geworden sein.“
„Er bekannte es mir in der Beichte.“
„Ja so! Ich vergaß, daß der Beichtstuhl Sie allwissend macht. Vermuthlich haben Sie noch mehr derartige Bekenntnisse gehört und – absolvirt. Ihre ganze Gemeinde weiß es ja, daß Sie Absolution gewähren für jedes Verbrechen, sobald es mich betrifft.“
„Wer sagt das?“ fuhr Gregor auf.
„Eckfried selbst.“
„So hat er gelogen!“
Werdenfels blickte einige Secunden lang fest in das Gesicht des Priesters, das volle, ungeheuchelte Empörung zeigte, dann sagte er langsam:
„Es mag sein, daß die Leute weiter gehen, als Ihnen lieb ist. Ein Stein, der einmal in das Rollen gebracht ist, rollt eben weiter, das hätten Sie bedenken sollen.“
„Es handelt sich hier nicht um mich,“ gab Vilmut scharf zurück. „Ich bin nicht der Bedrohte, aber ich wiederhole es Ihnen, Sie haben die Leute nicht an Strenge gewöhnt und diese plötzliche rücksichtslose Härte kann gefährlich werden. Leider ist unter den Uebelthätern auch der Sohn eines Großbauern. Der Rainer führt die erste Stimme im Dorfe, und der Gedanke, daß sein Bube in das Gefängniß wandern soll, bringt ihn außer sich. Er war heute Morgen bei mir und stieß die wildesten Drohungen gegen Sie aus. Hüten Sie sich! Der Mann ist zu Allem fähig und wird Alles mit sich fortreißen. Ich warne Sie!“
Um Raimund’s Lippen spielte ein verächtliches Lächeln, als er fragte:
„Glauben Sie, daß ich mich vor den Bauern fürchte, weil Sie die Zügel verloren haben?“
„Ich? Wer sagt Ihnen –?“
„Ihr Erscheinen in meinem Schlosse. Wenn man sich, wie sonst, noch Ihrem Willen beugte, wenn Ihr bloßes Wort noch genügte, um den Gehorsam zu erzwingen, so wären Sie nicht hier.“
Vilmut biß sich auf die Lippen, denn widerlegen konnte er die Worte nicht. Er fühlte es selbst, daß die Zügel seiner Hand entglitten, daß seine Verbote nicht mehr befolgt wurden. Auch seine Hand vermochte es nicht mehr, den Stein aufzuhalten, den er selbst in das Rollen gebracht, aber der stolze Priester hätte um keinen Preis der Welt dies Schwinden seiner Macht zugestanden, am wenigsten vor diesem Gegner.
„Ich bin hier, um einer Gefahr vorzubeugen,“ versetzte er, „und es giebt ein Mittel dazu. Ueberlassen Sie mir die Bestrafung der Schuldigen! Eckfried ist bereits bestraft, die Buße, die ich ihm auferlegte, trifft ihn härter als Verurtheilung und Gefängniß, und auch den Anderen gegenüber werde ich Mittel zu finden wissen. Was ihnen im Beichtstuhl auferlegt wird, werden sie tragen, und Sie, Herr von Werdenfels, entgehen dem allgemeinen Hasse, der sich in so bedrohlicher Weise gegen Sie richtet. Legen Sie die Sache in meine Hände, ich bürge Ihnen dafür, daß sie nicht ungeahndet bleibt.“
„Ich danke,“ entgegnete Raimund mit kühler Ablehnung. „Ich ziehe es vor, Beleidigungen, die mir persönlich galten, auch persönlich zu erledigen. Ueberdies habe ich in Gegenwart der gesammten Dienerschaft erklärt, daß ich diesmal die vollste Strenge walten lasse, und werde mich nicht der Schwäche schuldig machen, das zu widerrufen. Ich habe als Polizeiherr von Werdenfels die Thäter vorläufig in Gewahrsam genommen und übergebe sie morgen den Gerichten. Es bleibt dabei.“
„Wohl, ich kann Sie nicht hindern, Ihr Recht auszuüben, wenn es aber geschieht, so stehe ich nicht mehr für Ihre persönliche Sicherheit ein.“
[352] „Habe ich Sie schon darum ersucht?“ fragte Werdenfels, sich stolz aufrichtend. „Ich wußte bisher nicht, daß ich unter Ihrem Schutze stand, und weise ihn mit aller Entschiedenheit zurück. Der Herr von Werdenfels bin ich, und wenn ich etwas mit meinen Bauern auszufechten habe, so ist das meine Sache allein, ich werde auch allein mit ihnen fertig werden.“
Vilmut war einen Schritt zurückgetreten. Diese kurze, scharfe und energische Sprache überraschte ihn augenscheinlich auf das Höchste. Er hatte es freilich schon beim ersten Blicke gesehen, daß Raimund von Werdenfels ein Anderer geworden war, aber der volle Umfang dieser Veränderung wurde ihm doch erst jetzt klar. Der Mann, der so gebietend vor ihm stand, hatte nichts mehr gemein mit dem bleichen Träumer von Felseneck, man glaubte es ihm, daß er den Kampf, den er nun schon seit Monaten aufgenommen, auch durchfechten werde bis zum Ende.
„Sie scheinen gesonnen zu sein, das Regiment Ihres Vaters wieder einzuführen,“ sagte Vilmut endlich. „Der Sohn gleicht ihm mehr, als wir Alle glaubten, das zeigt sich jetzt. Gewiß, Sie sind der Herr von Werdenfels, und daß Sie es sind – hat das unglückliche Dorf einst schwer genug erfahren.“
Er senkte die Stimme bei den letzten Worten, aber sie drangen trotzdem schneidend und scharf wie ein Dolch in die Seele des Gegners und verfehlten auch nicht ihre Wirkung. Raimund erbleichte, doch nur einen Augenblick lang, dann schlug er die Augen empor, sie begegneten finster, aber fest dem drohenden Blicke des Priesters.
„Hören Sie doch endlich auf, mich mit dem alten Fluche zu verfolgen! Es gab eine Zeit, wo ich die bloße Erwähnung nicht ertragen konnte, jetzt habe ich es gelernt, ihm in das Auge zu sehen, und Ihr Recht, mich damit zu quälen, ist verwirkt, seit Sie und Sie allein meine Dammbauten gehindert haben, denn ich weiß, wie hoch der freie Wille der Gemeinde in diesem Falle anzuschlagen ist. Ich habe eine That der Verzweiflung gebüßt mit einem ganzen Leben voll Verzweiflung, Sie aber haben mit kalter, ruhiger Ueberlegung, mit vollster Absicht den Schutz vernichtet, den ich meinem Dorfe gewähren wollte, und damit eine furchtbare Gefahr heraufbeschworen. Hüten Sie sich, daß nicht zum zweiten Mal ein entfesseltes Element über Werdenfels hereinbricht, denn diesmal wird man die Rechenschaft von Ihnen fordern.“
Es lag etwas wie ahnungsvolle Drohung in diesen Worten, aber sie glitten ab an der starren Unfehlbarkeit des Priesters, er erwiderte unbewegt:
„Ich that, was ich für Recht erkannte, und werde es vertreten.“
„So vertreten Sie auch das Wohl und Wehe der Hunderte, das Sie mit jenem Eingriff auf sich nahmen. Es ist immer vermessen, wenn ein Mensch, ein Einzelner die Vorsehung spielen will, selbst wenn er das Priesterkleid trägt. Zum Mindesten müssen der Wille und die Beweggründe rein sein, und die Ihrigen hat der Haß gegen mich dictirt, dieser Haß, der mich verfolgte von dem Augenblicke an, wo ich Herr auf diesem Boden wurde, der jede Versöhnung, jede Verständigung unmöglich machte, der mir sogar meine Braut entriß.“
„Und dies Letzte ist es allein, was Sie mir nicht verzeihen können, ich weiß es, Herr von Werdenfels! Mich und meine Gegnerschaft hätten Sie verachtet, und selbst der Priester hätte Ihnen nichts gegolten, denn Sie haben das Blut Ihres Geschlechtes in sich, aber die Macht des Vormundes wenigstens mußten Sie anerkennen, wenn Sie es ihm auch nicht vergeben, daß er seine Pflicht that und seiner Schutzbefohlenen die Augen öffnete.“
Werdenfels streifte mir einem langen, forschenden Blicke das Gesicht seines Gegners, während er langsam sagte:
„Hochwürden, ich habe bisweilen meine eigenen Gedanken über diese ‚Pflicht‘, über jenen rastlosen, wüthenden Eifer, mit dem Sie Anna und mich zu trennen versuchten und jede Möglichkeit einer Wiederannäherung verhinderten. War es wirklich nur der Vormund, der Priester, der zwischen uns trat, oder –“
Er brach ab, aber sein Blick vollendete die Frage, und sie wurde ohne Worte verstanden; Vilmut fuhr auf, als habe er einen Schlag erhalten.
„Sie wagen es, zu glauben –“
„Ich wage nichts, ich frage nur. Es könnte sein, daß der Mann, der in dem Herzen Anderer liest, wie in einem aufgeschlagenen Buche, in einem verhängnißvollen Irrthum über sich selbst begriffen ist.“
Gregor war todtenbleich geworden, aber in seinem Auge zuckte wieder jene unstete Flamme auf. Diesmal erlosch sie nicht so schnell, wie sie aufflackerte, denn es glühte unverkennbarer Haß darin, und dieser Haß galt dem Manne, der es wagte, den Schleier von einer Empfindung zu heben, die nicht existiren sollte, die niedergezwungen wurde mit aller Macht des Willens und gegen die der Wille doch machtlos war.
„Ich kam nicht hierher, um Beleidigungen zu hören,“ sagte Vilmut endlich, aber seine Stimme hatte nicht die gewohnte Sicherheit. „Ich wollte Sie warnen vor einer Gefahr, die Ihre unzeitige Strenge heraufbeschwört. Wenn Sie die Warnung verschmähen, so lehne ich jede Verantwortung ab für das, was geschieht, und unsere Unterredung ist zu Ende. Leben Sie wohl!“
Der Abschiedsgruß klang feindlich genug, Raimund neigte nur das Haupt, ebenso stolz und eisig, wie vorhin beim Empfange, in der nächsten Minute war er allein.
[365] Eine halbe Stunde später trat Werdenfels aus dem Schlosse auf die Terrasse, wo Emir bereits gesattelt seiner harrte. Der Freiherr pflegte meist um diese Zeit auszureiten, heute aber schien es der Dienerschaft aufzufallen, sie steckte flüsternd die Köpfe zusammen, und selbst der Haushofmeister, der sich gleichfalls auf der Terrasse befand, hatte seine sonst so feierlich unbewegte Miene fahren lassen und hörte mit offenbarer Besorgniß den leisen Berichten seiner Untergebenen zu.
Beim Erscheinen des Freiherrn löste sich die Gruppe mit ehrerbietiger Verneigung auf, nur der Haushofmeister näherte sich seinem Herrn.
„Sie wollen ausreiten, gnädiger Herr?“ fragte er ehrfurchtsvoll, aber doch mit einer gewissen Betonung.
Werdenfels blieb stehen und sah ihn befremdet an.
„Gewiß, ich thue das ja stets am Nachmittage.“
„Aber gerade heute – es herrscht eine gewisse Aufregung in Werdenfels – und der junge Herr Baron, der Sie sonst immer begleitet, ist abwesend.“
„Um so besser,“ sagte Raimund ruhig. „Mein Neffe kann bei solchen Gelegenheiten sein junges heißes Blut nicht zügeln, und dort ist Ruhe das erste Erforderniß.“
Er gab dem Reitknechte einen Wink, das Pferd herbeizuführen. Der Haushofmeister zögerte, aber die Sorge um seinen Herrn überwog seine sonstige Zurückhaltung, und er fuhr in bittendem Tone fort:
„Ich maße mir nicht an, dem gnädigen Herrn einen Rath ertheilen zu wollen, aber die Stimmung im Dorfe ist wirklich im höchsten Grade bedrohlich. Man ist wüthend darüber, daß die Uebelthäter von heute Nacht ergriffen und in Gewahrsam gebracht worden sind, man will nicht dulden, daß sie bestraft werden. Zeigen Sie sich heute nicht, Herr Baron – nur heute nicht! Sie kennen ja die Werdenfelser!“
„Ja, ich kenne sie!“ entgegnete der Freiherr, während er den schlanken Hals Emirs streichelte, der ihn mit freudigem Wiehern begrüßte. „Aber es ist endlich Zeit, daß auch sie mich kennen lernen.“
Er schwang sich auf das Pferd und nahm die Zügel, der Haushofmeister machte noch einen letzten Versuch.
„Aber der Reitknecht darf doch wenigstens folgen?“ bat er. „Der junge Herr Baron ist auch der Meinung, daß –“
„Ich reite allein,“ unterbrach ihn Werdenfels in einem Tone, der keinen ferneren Widerspruch duldete, dann aber fügte er mit einem Blicke auf das angstvolle Gesicht des alten Mannes milder hinzu:
„Aengstigen Sie sich nicht, es ist kein Grund zur Sorge vorhanden, und ich werde bald zurück sein.“
Der Haushofmeister trat zurück, er kannte diesen Ton und fügte sich ihm unbedingt, aber er blickte mit schwerem Herzen dem Freiherrn nach.
Werdenfels ritt langsam die Allee hinunter, die vom Schloßberge in das Dorf führte. Er wußte, daß in der That Grund zur Sorge vorhanden war, das Erscheinen Vilmut’s im Schlosse hatte es ihm hinreichend gezeigt, aber er wußte auch seit jener Unterredung mit Eckfried, daß seine bisherige Nachsicht als Furcht und Feigheit ausgelegt wurde. Diese Menschen hatten ja kein Verständniß für einen Muth, der mit kalter, unerschütterlicher Ruhe ihren Beleidigungen und Angriffen gegenüberstand, ohne sie zu rächen, für sie lag der Begriff der Energie nur in jener rücksichtslosen Härte, die ihnen einst der verstorbene Freiherr gezeigt hatte. Dem wagte Niemand mit einer Beleidigung zu nahen, so verhaßt er auch war, denn man wußte, daß die schärfste Ahndung auf dem Fuße folgen werde. Gegen den Sohn aber erlaubte man sich Alles, und wenn es bisher noch nicht zu einem offenen Angriffe gegen ihn gekommen war, so dankte er das nur dem Aberglauben, der ihm übernatürliche Macht zuschrieb.
Diese Gedanken waren es, die durch Raimund’s Seele zogen und seine Stirn so finster machten. Er hatte jetzt die ersten Häuser des Dorfes erreicht und ritt an dem Garten des Pfarrhauses entlang, der noch in winterlicher Oede dalag, als er das schmerzliche Weinen einer Kinderstimme vernahm und einen etwa fünfjährigen Knaben gewahrte, der an der Hecke des niedrigen Gartenzauns kauerte und so laut und krampfhaft schluchzte, als ob ihm das kleine Herz brechen wollte. Werdenfels pflegte sonst nie die Dorfkinder anzureden, denn er wußte, daß sie ihn flohen und fürchteten, aber dies trostlose Weinen des einsamen und verlassenen Kleinen fand ein Echo in seiner Seele. Halb unwillkürlich hielt er sein Pferd an, beugte sich über die Hecke und fragte:
„Weshalb weinst Du, Kind?“
Der Kleine hob beim Klange der fremden Stimme erschrocken den blonden Krauskopf empor und zeigte ein verweintes Gesicht und große blaue Augen, in denen noch die hellen Thränen standen. Er kannte den fremden Herrn nicht und hielt ihn wohl für einen [366] der Verwalter oder Beamten des Schlosses, die oft durch das Dorf ritten. Als aber die Frage wiederholt wurde, brach er in erneutes Weinen aus.
„Ich soll fort vom Großvater – weit fort nach dem Grundsee – und ich darf nicht wieder kommen, der Herr Pfarrer hat es gesagt!“
„Wer ist denn Dein Großvater?“ fragte Raimund, indem er sein Pferd dicht an die Hecke lenkte.
„Eckfried heißt er,“ schluchzte der Kleine, „und ich bin der Toni vom Mattenhof. Ich mag nicht fort von dem Großvater, und er mag mich auch nicht fortlassen, aber der Herr Pfarrer leidet es nimmer, daß ich bei ihm bleibe.“
Der Freiherr stutzte und warf einen langen, seltsamen Blick auf das Kind. Er verstand jetzt die Worte Vilmut’s und sah, welche Strafe dem alten Manne auferlegt worden war, der mit abgöttischer Liebe an seinem Enkel hing, dem Einzigen, was er noch auf der Welt besaß.
„Jawohl, der Herr Pfarrer versteht es, Herzen zu treffen, darin ist er Meister,“ sagte er bitter. „Also Du willst nicht fort von Deinem Großvater?“
Toni blickte halb scheu, halb zutraulich zu dem Fremden empor, aber er hörte auf zu weinen, als er Mitleid und Theilnahme fand, und als der Freiherr weiter fragte, begann er nach Kindesart alles Mögliche herauszuplaudern. Dabei versiegten seine Thränen vollständig, und endlich vergaß er all sein Leid in der Bewunderung des schönen Tigerschimmels.
„Darf ich das Pferd streicheln?“ fragte er und hob bittend die Hände empor.
„Du kannst es ja nicht erreichen,“ sagte Raimund mit einem flüchtigen Lächeln.
„O doch, das kann ich!“ rief Toni, indem er ohne Weiteres den Gartenzaun erkletterte, in der nächsten Minute schon saß er droben und begann noch etwas zaghaft das glänzende Fell des Pferdes zu streicheln. Emir nahm anfangs die Liebkosung ungnädig auf und schnaubte ungeduldig, aber auf einen Zuruf seines Herrn beruhigte er sich sofort und duldete die schmeichelnde Kinderhand. Toni war ganz entzückt darüber, aber er wurde immer begehrlicher.
„Ich möchte so gern einmal reiten,“ sagte er mit einem sehnsüchtigen Blicke auf das Pferd.
Raimund lächelte wieder und, sich niederbeugend, nahm er das Kind und hob es vor sich auf den Sattel. Toni jauchzte auf vor Vergnügen, er schlug jubelnd in die Hände und versuchte mit lautem Zuruf das Pferd anzutreiben, der Freiherr mußte schützend die Arme um den keinen Wildfang legen, um ihn vor dem Herabfallen zu bewahren.
Es war das erste Mal seit Jahren, daß er wieder irgend ein Wesen in den Armen hielt, daß sich irgend Etwas vertraulich und freundlich an ihn schmiegte. Er hatte ja sonst nur seine Diener um sich, die in scheuer Ehrfurcht kamen und gingen; wenn er sein Schloß verließ, so war er nur von Feinden umgeben, die ihn haßten und verfolgten, und was er liebte, stieß ihn mit Schauder und Entsetzen von sich. Er hatte seine ganze grenzenlose Vereinsamung vielleicht noch nie so tief gefühlt, wie in dieser Minute, und mit einer beinahe leidenschaftlichen Innigkeit preßte er das fremde Kind an sich, dessen Zutraulichkeit ihm zum ersten Mal wieder das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Menschen gab. Es gab doch also noch ein Geschöpf, das sich nicht in Haß und Furcht von ihm wandte – er hob leise das blonde Krausköpfchen empor und sah tief in die blauen Augen, die ihn jetzt schelmisch anlachten.
„Toni, wo bist Du? Was soll das heißen?“ tönte plötzlich die scharfe Stimme Vilmut’s. Er war in den Garten getreten, um den Knaben zu suchen, und sah mit dem höchsten Befremden die Gruppe.
Toni, der trotz seines kurzen Aufenthaltes im Pfarrhause doch schon die Strenge des geistlichen Herrn kennen gelernt haben mochte, sah ängstlich zu diesem hinüber und machte Miene, von Neuem zu weinen, Raimnnd aber sagte kühl, ohne das Kind loszulassen:
„Sie sind es, Hochwürden? Ich höre eben von dem Kleinen, daß er auf Ihren Befehl von seinem Großvater getrennt werden soll, und errathe den Zusammenhang. Erlassen Sie dem Eckfried die Strafe; seine That war gegen mich allein gerichtet, ich verzichte auf die Genugthuung.“
Vilmut war inzwischen näher gekommen und stand jetzt gleichfalls dicht an der Gärtenhecke.
„Ich bedauere, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, Herr von Werdenfels,“ entgegnete er. „Eckfried hat eine Schuld auf sich geladen – gegen wen, kommt hier nicht in Betracht – und ich als sein Beichtvater habe ihm eine Buße dafür auferlegt, die er tragen wird. Komm herunter, Toni!“
Die letzten Worte klangen sehr befehlend. Toni konnte nicht allein seinen hohen Sitz verlassen, er sah zu dem Freiherrn empor, ob dieser ihn herunterholen werde, aber es lag eine stumme, angstvolle Bitte in diesem Blicke. Das Kind fühlte instinctmäßig, daß es einen Beschützer gefunden hatte, es schmiegte sich fest an ihn und umklammerte mit beiden Händen seinen Arm.
„Ich bringe den Knaben zu seinem Großvater,“ sagte Raimund kurz und bestimmt. „Sie werden entschuldigen, Hochwürden, wenn ich ein derartiges Strafgericht nicht gelten lasse.“
Er faßte den Zügel und machte Anstalt, weiter zu reiten. Vilmut widersprach nicht, aber es spielte ein leises hohnvolles Lächeln um seine Lippen, als er langsam und jedes Wort betonend sagte:
„Toni, willst Du bei dem Fremden bleiben? Es ist der Felsenecker Herr!“
Toni fuhr zusammen, mit weitgeöffneten Augen, mit dem Ausdruck des vollsten Entsetzens starrte er den Freiherrn an, als habe sich dieser plötzlich in ein Schreckensbild verwandelt, dann aber machte er blitzschnell einen Versuch vom Pferde zu springen und wäre gestürzt, wenn Raimund ihn nicht rasch erfaßt und gehalten hätte. Jetzt aber sträubte sich das Kind mit krampfhafter Heftigkeit gegen die Arme, in denen es eben noch Schutz gesucht hatte, sein ganzer kleiner Körper bebte und zitterte, während es ein lautes Angstgeschrei ausstieß. Es hätte sich gegen einen Mörder nicht verzweifelter wehren können, das eine Wort: der Felsenecker! genügte, um all seine Zutraulichkeit in blindes Entsetzen zu verwandeln.
Raimund sprach kein Wort, er erfaßte den Knaben und ließ ihn vom Pferde niedergleiten. Toni gewann die Hecke, aber er sprang in athemloser Hast zu Boden und rannte auf den Priester zu, hinter dem er sich zu verstecken suchte. So sehr er diesen auch fürchtete, es war doch immer der Herr Pfarrer, und der Mann dort auf dem Pferde war der leibhaftige Böse!
Gregor stand hochaufgerichtet da, und der Hohn spielte noch um seine Lippen. Er war wieder einmal Sieger geblieben in dem Kampfe, seine Hand führte fest und sicher den tödtlichen Stoß auf den Gegner, und diesmal hatte er getroffen, das sah man. Raimnnd warf noch einen Blick zurück, nur einen einzigen, dann setzte er seinem Roß die Sporen in die Seite, daß es sich hoch aufbäumte, und sprengte davon.
Im Dorfe herrschte in der That eine ungewöhnliche Aufregung, selbst die Frauen standen vor den Thüren und sprachen laut und erregt mit einander. In der Mitte der Dorfstraße aber, wo das Haus des Gemeindevorstehers lag, hatte sich fast die ganze Bevölkerung versammelt, es schien dort irgend eine Berathung stattzufinden, aller Augen waren auf die Thür gerichtet, und der Pfarrer mußte wohl schon die Nachricht gebracht haben, daß der Schloßherr auf seinem Willen beharre, denn in der Menge, die aus einigen hundert Personen bestehen mochte, wurden überall Drohungen und Verwünschungen gegen den „Felsenecker“ laut.
Raimund sah und hörte das in dem Augenblick, wo er in die Dorfstraße einbog, er wußte sehr gut, daß ihm dort Gefahr drohte, aber seine Stimmung war nicht danach, der Gefahr auszuweichen. Die eben erlebte Scene hatte ihm gezeigt, wie weit der Bann ging, den Gregor Vilmut über ihn ausgesprochen. Er hatte es gewagt, ein Kind in die Arme zu schließen, das noch gar kein Verständniß für Haß und Feindseligkeit besaß, und selbst von diesem Kinde mußte er Haß und Feindseligkeit erfahren. Der Mann hatte so Vieles erfahren in den letzten Monaten, dies entsetzte Abwenden des Knaben, der sich eben noch vertrauend an ihn geschmiegt hatte, ertrug er nicht, es war der Tropfen, der das längst gefüllte Maß der Bitterkeit zum Ueberlaufen brachte.
Die lärmende Menge war anfangs viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den nahenden Reiter zu bemerken, endlich wurde er doch von einem der Bauern entdeckt, der laut ausrief:
„Da ist er! Da kommt der Felsenecker!“
[367] Eine jähe, blitzähnliche Bewegung ging durch die ganze Versammlung, Alle wandten sich um, alle Blicke hafteten auf dem Freiherrn, der sich noch in einiger Entfernung befand. Der Lärm verstummte, wie auf Commando, aber das dumpfe unheimliche Schweigen, das urplötzlich eintrat, war noch bedrohlicher für den Schloßherrn.
Da öffnete sich die Thür des Hauses und der Gemeindevorsteher selbst, Rainer und noch einige der angesehensten Bauern traten heraus. Auch sie stutzten, als sie den Freiherrn erblickten, der sich noch in einiger Entfernung befand, und in dem Gesichte des Vorstehers zeigte sich ein Ausdruck von Besorgniß, als er die aufgeregte Menge überblickte, Rainer dagegen sagte ganz laut:
„Der Werdenfels? Um so besser! Dann können wir es gleich hier auf der Stelle mit ihm ausmachen.“
Raimund hatte längst den Galopp seines Pferdes gemäßigt und kam jetzt im Schritt näher. Die Haltung der Bauern ließ keinen Zweifel darüber, daß und wie sie ihn erwarteten, aber er nahm keine Notiz davon, sondern sagte kurz:
„Was sperrt Ihr hier die Dorfstraße? Gebt Raum, daß ich hindurch kann.“
Der herrische, befehlende Ton war ebenso ungewohnt wie unvorsichtig in diesem Augenblicke, aber es lag darin jener herbe Trotz, der die Gefahr herausfordert, statt sie zu vermeiden. Die Menge schien diese Herausforderung auch zu begreifen, denn es wurde ein dumpfes Murren laut, und Rainer trat mit einer trotzigen Bewegung vor, als der Gemeindevorsteher, der einen Ausbruch zu fürchten schien, ihn zurückdrängte und an seiner Stelle das Wort nahm:
„Wir wollten eben zu Ihnen, Herr Baron, auf’s Schloß, um mit Ihnen zu reden.“
„Worüber?“ fragte Werdenfels, indem sein Blick kalt und verächtlich über die Menge hinglitt, die jetzt näher herandrängte. Die Dorfstraße war in der That in ihrer ganzen Breite gesperrt, und anstatt Platz zu machen, umgab man den Freiherrn und sein Pferd von allen Seiten, sodaß er weder vorwärts noch rückwärts konnte.
„Nun, über das, was heute Nacht passirt ist,“ antwortete der Vorsteher. „Ist es wahr, daß Sie bei den Gerichten Anzeige machen wollen, wie der Herr Pfarrer sagt?“
„Ja, denn ich bin nicht gesonnen, noch länger die Zerstörungen meines Eigenthums zu dulden. Uebrigens ist das meine Sache allein.“
„Nun, uns geht sie doch auch an, sollt’ ich meinen!“ brach Rainer los, der sich jetzt nicht länger zurückhalten ließ. „Daß Sie es nur wissen, Herr Baron, ich habe auch einen Buben dabei, und den laß ich nicht in’s Gefängniß. Ich leid’ es nicht, daß ihm etwas geschieht.“
„Das habt Ihr mit den Gerichten auszumachen,“ sagte der Freiherr ebenso kalt wie vorher. „Und jetzt noch einmal – macht mir Platz, ich will hindurch!“
Der Befehl wurde mit einer solchen Energie herausgeschleudert, daß die Bauern, überrascht und bestürzt, wirklich Miene machten, zu gehorchen. Eine rücksichtslose und furchtlose Energie wirkt immer auf die Menge, zumal hier, wo man sie gar nicht vorausgesetzt hatte, aber der Eindruck war nicht von Dauer.
„Oho, wollen Sie etwa mit uns umgehen, wie Ihr Vater?“ rief Rainer höhnisch. „Das geht heutzutage nicht mehr, die Zeiten sind vorbei, und mit Ihnen haben wir so noch eine alte Rechnung abzumachen!“
Die Worte schienen die Menge zu entfesseln, die bisher immer noch eine gewisse Zurückhaltung beobachtet hatte. Von allen Seiten erhob sich lärmende Zustimmung, das Murren wurde zum Geschrei, und Vorwürfe und Verwünschungen, wie sie nur der wildeste Haß, der krasseste Aberglaube erfinden kann, brachen gegen den Freiherrn los. Noch waren es bloße Worte, aber schon in der nächsten Minute konnten es Thätlichkeiten werden.
Der Gemeindevorsteher, der einzige Gemäßigte und Besonnene, versuchte es vergeblich sich Gehör zu verschaffen, er wurde überschrieen, und als er Rainer beschwichtigen wollte, stieß ihn dieser ohne Weiteres zurück.
Raimund hielt inmitten der tobenden Menge, ohne auch nur den Versuch einer Beruhigung oder Verständigung zu machen. Er blickte so fremd und theilnahmlos auf all dies Lärmen und Drohen, als sei er gar nicht der Gegenstand desselben, in seinem Antlitz lag wieder jene todte eisige Ruhe, die mit der Welt und den Menschen abgeschlossen hatte; er war ja gescheitert mit dem Versuche, ihnen wieder nahe zu treten! Nur in seinem verdunkelten Blicke zuckte etwas auf wie herbe Verachtung, als er auf diese Menschen niedersah, denen er hundertmal die helfende Hand gereicht hatte, deren Sicherheit er mit einem Opfer von vielen Tausenden hatte erkaufen wollen – und die ihm nun so lohnten.
„Geben Sie mir meinen Buben heraus und die Anderen dazu!“ schrie Rainer in zügelloser Wildheit. „Wir dulden es nicht, daß sie im Schlosse eingesperrt bleiben. Geben Sie sie heraus!“
„Ja, sie müssen heraus! Wir wollen sie heraus haben!“ tobte und schrie es von allen Seiten, und Roß und Reiter wurden so dicht umdrängt, daß sie sich nicht regen konnten.
Werdenfels hielt mit vollster Kraft den schnaubenden, bäumenden Emir im Zügel, der mit jeder Minute scheuer und wilder wurde: wäre er nicht so vollständig des Thieres Herr gewesen, es hätte sich mit seinen Hufen gewaltsam Bahn geschafft durch seine Bedränger.
Noch wagte sich Niemand an den Freiherrn, aber jetzt gab ein halberwachsener Bursche das Zeichen zum Angriff, indem er die Zügel des Pferdes packte.
„Laß das Pferd los!“ sagte Raimund mit dumpfer, halb erstickter Stimme. „Laß los oder –“
Der Bursche gehorchte nicht – er wandte sich im Gegentheil jetzt gegen den Freiherrn selbst und versuchte ihn herabzureißen.
Raimund zuckte zusammen, als die rohe Faust des Burschen ihn berührte, sein eben noch so bleiches Gesicht wurde von einer flammenden Röthe übergossen; er hob sich hoch im Sattel, die Reitpeitsche pfiff durch die Luft, und ein furchtbarer Hieb sauste nieder auf den Angreifer, sodaß dieser, laut aufschreiend und mit einer blutigen Strieme, zurücktaumelte.
Ein allgemeiner Aufschrei der Wuth und Rache folgte der raschen That, man war im Begriff, sich auf den Freiherrn zu stürzen, aber dieser hatte die Reitpeitsche von sich geworfen und eine Pistole hervorgezogen, welche auch er jetzt immer bei sich trug.
„Zurück!“ rief er, mit einer Stimme so voll und mächtig, daß sie den ganzen Tumult beherrschte. „Zurück, sage ich! Wer es wagt, mich anzurühren, ist des Todes!“
Die Bauern wichen zurück, sogar Rainer ließ die erhobene Hand sinken. Sie waren Hundert gegen Einen, der bei einem allgemeinen Ansturm leicht überwältigt und niedergerissen wurde, aber es war eine alte Erinnerung, die ihre Arme lähmte.
Sie hatten es bisher nicht gewußt, daß auch der jetzige Herr von Werdenfels die Züge seines Geschlechtes trug, weil der Ausdruck bei dem ernsten, düsteren Manne ein so ganz anderer war, in diesem Augenblicke aber trat die Aehnlichkeit mit seinem Vater so unverkennbar, so überwältigend hervor, als sei jenes Bild im Schlosse aus seinem Rahmen gestiegen.
Die Meisten kannten noch jenen Ton und jene Stimme, die sie so oft aus dem Munde des verstorbenen Freiherrn gehört hatten, und das waren auch seine wildflammenden Augen, sein ganzes Antlitz, als sei er aus dem Grabe erstanden und mit ihm die alte Zeit, wo er noch ungestraft Tyrann sein durfte und niedertrat, was sich ihm in den Weg stellte. Dies plötzliche energische Aufflammen des Sohnes, der sich vor ihren Augen zu verwandeln schien, erfüllte die Bauern mit abergläubischem Staunen und die Todesdrohung, die er ihnen entgegenschleuderte, jagte sie vollends in Schrecken.
Man wußte es ja, daß der Felsenecker „fest“ war, daß Niemand ihm etwas anhaben konnte. Er streckte vielleicht mit einer einzigen Kugel die sämmtlichen Angreifer zu Boden und schwang sich dann durch die Luft davon, nach seinem unzugänglichen Bergschlosse, gegen Hexenkünste half ja keine Uebermacht – der Aberglaube, der dem Freiherrn so oft verhängnißvoll geworden war, schien jetzt seine Rettung zu werden.
Der Lärm verstummte, die dichtgekeilte Menge öffnete sich und machte Anstalt, den Weg freizugeben. Rainer, der mit finsterer Stirn und zusammengebissenen Zähnen dastand, sah das, [368] langsam zog er sein Messer hervor und öffnete es und in dem Augenblick, wo Werdenfels wirklich davonritt, sprang er vor.
„Nun, wenn er fest ist, so wird es doch das Pferd nicht sein!“ rief er höhnisch und dabei führte er blitzschnell, aber mit voller Gewalt, einen Stoß gegen den Leib des Thieres, das Messer vergrub sich bis in das Heft darin.
Ein furchtbares, wildes Aufbäumen des auf den Tod verwundeten Pferdes scheuchte Alles aus seiner Nähe, die Menschen stoben rechts und links zur Seite, während Raimund, der noch gar nicht wußte, was geschehen war, vergeblich versuchte, des Zügels Herr zu bleiben. Emir setzte nochmals zu einem letzten verzweifelten Sprunge an, aber die Kraft versagte ihm, er schlug wild mit den Vorderfüßen in die Luft, überschlug sich dann und, den Reiter aus dem Sattel schleudernd, stürzte er im Todeskampfe zusammen.
Das Alles war das Werk weniger Minuten. Das Pferd lag verblutend am Boden und wenige Schritte entfernt der Reiter. Auch von seiner Stirn rieselte das Blut nieder und er lag regungslos ausgestreckt, ohne Lebenszeichen. In der eben noch so haßerfüllten Menge herrschte eine Todtenstille, scheu blickten Alle auf den Gestürzten und auf das sterbende Roß, sie sahen es jetzt freilich, daß der Felsenecker nicht fest war, aber es schien, als hätte er den Beweis mit seinem Leben bezahlt.
Da kam ein Wagen im schnellsten Trabe durch das Dorf, der Kutscher trug die Werdenfels’sche Livrée, und ein junger Mann beugte sich aus dem Schlage. Es war Paul, der von Rosenberg zurückkehrte; als er die ungewöhnliche Versammlung in der Dorfstraße gewahrte, ließ er den Wagen halten und sprang heraus.
„Was giebt es? Was ist geschehen?“ fragte er rasch und unruhig.
Niemand antwortete, aber die Nächststehenden drängten sich unwillkürlich dichter zusammen, um dem jungen Baron den Anblick zu entziehen, endlich nahm der Gemeindevorsteher das Wort.
„Es ist ein Unglück passirt,“ sagte er stockend. „Der Freiherr – ist gestürzt.“
„Gestürzt? Hier in der Dorfstraße?“ rief Paul, indem er sich Bahn machte und den Kreis durchbrach. Ein einziger Blick zeigte ihm, was geschehen war, in der nächsten Minute war er an der Seite seines Onkels und versuchte, ihn aufzurichten.
Da öffneten sich nochmals die Reihen und diesmal ohne jedes Zögern vor dem Pfarrer, den der steigende Tumult denn doch aus seiner Wohnung getrieben hatte.
„Was ist vorgefallen?“ fragte auch er. „Ein Unglück?“
„Nein, ein Verbrechen!“ sagte Paul mit Bitterkeit, indem er auf das erstochene Pferd wies. „Sie sind ja sonst immer am Platze, Hochwürden, wenn in Werdenfels etwas vorfällt – hier kamen Sie wohlweislich zu spät!“
[394] Am andern Morgen, zu noch sehr früher Stunde, öffnete Vilmut das Gitterthor von Rosenberg. Während er rasch dem Hause zuschritt, bemerkte er den alten Ignaz, der beschäftigt war, die Pferde aus dem Stalle zu ziehen, und dabei mit ungewohnter Eile zu Werke ging; der Pfarrer blieb stehen.
„Will Frau von Hertenstein ausfahren?“ fragte er.
„Ja, Hochwürden,“ versetzte der Alte, indem er seine Beschäftigung unterbrach und die Mütze zog. „Die gnädige Frau will sogleich fort.“
„So früh schon? Und wohin?“
„Das weiß ich nicht, aber ich soll mich beeilen, so viel ich nur kann.“
Vilmut erwiderte nichts, doch er beschleunigte seinen Schritt noch mehr und trat gleich darauf in das Balconzimmer.
Anna befand sich allein dort, sie ging in heftigster Unruhe und Aufregung auf und nieder, einen offenen Brief in der Hand. Das Antlitz der jungen Frau war fieberhaft geröthet, und ihre Augen leuchteten in unnatürlichem Glanze, ihr ganzes Wesen verrieth eine verzehrende Angst, während sie wieder und immer wieder das Billet las, welches nur wenige Zeilen zu enthalten schien.
Beim Eintritte Gregor’s blieb sie stehen, aber kein Wort begrüßte den so unvermuthet Eintretenden, stumm, in beinahe feindlicher Haltung stand sie da und erwartete seine Anrede. Gregor bemerkte das sofort, er sah den Brief in ihren Händen und errieth den Zusammenhang.
„Ich komme so früh, um zu verhindern, daß die Gerüchte aus Werdenfels entstellt und übertrieben zu Dir gelangen,“ begann er. „Du scheinst aber bereits davon unterrichtet zu sein.“
„Ich habe soeben die Nachricht erhalten. Paul Werdenfels sandte einige Zeilen an seine Braut, und Lily gab den Brief in meine Hände.“
An seine Braut! Also hatte die Verlobung bereits stattgefunden, trotz der Einsprache des Vormundes. Unter anderen Umständen würde Gregor diese Mißachtung seiner Autorität streng gerügt und ein energisches Veto eingelegt haben, jetzt achtete er kaum darauf. Was galt ihm in diesem Augenblicke Lily, was selbst die Anfechtungen gegen seinen Willen, seine Augen hingen in finsterer Unruhe an der jungen Frau, als wollten sie die Wirkung jener Nachricht erforschen.
„So weißt Du vermutlich, daß die Wunde des Freiherrn keine tödtliche ist,“ sagte er. „Der Arzt erklärt sie für bedenklich, giebt aber Hoffnung. Ich sprach ihn selbst, als er vom Schlosse kam; ich wollte Gewißheit über die Folgen des Sturzes haben.“
„Des Ueberfalles, meinst Du! Man stach ja das Pferd nieder und zwang den Reiter, zu stürzen.“
„Wer hieß ihn die Gefahr herausfordern? Ich hatte ihn ausdrücklich gewarnt, es war eine Tollkühnheit, allein mitten durch das Dorf zu reiten und der aufgeregten Menge jedes Zugeständniß zu verweigern. Sein Neffe, der ihn sonst stets begleitet, war vermuthlich in Rosenberg, denn er erschien erst nach der Katastrophe.“
„Und wo warst Du, Gregor?“ fragte Anna, indem sie wie drohend vor ihn hintrat.
„Ich? Bin ich etwa der Hüter des Freiherrn von Werdenfels?“
„Du hast ja von jeher Deinen Stolz darein gesetzt, der Hüter Deines Dorfes zu sein. Bei jedem noch so unbedeutenden Streite bist Du schlichtend und entscheidend dazwischen getreten, hier bliebst Du ruhig im Pfarrhause, hier, wo es sich um Leben und Tod handelte. Aber freilich, es galt ja Raimund, für den allein war Deine Hülfe nicht da. Vielleicht komme ich schon zu spät, wenn ich zu ihm eile.“
„Wohin willst Du?“ fuhr Gregor auf.
„Nach Werdenfels – zu Raimund!“
„Also doch! Ich ahnte etwas Derartiges. Er hat wohl schleunigst den Unfall dazu benutzt, um Dich an seine Seite zu rufen?“
Die junge Frau senkte wie schuldbewußt das Haupt.
„Nein! Raimund könnte seinen Tod vor Augen sehen, er würde mich nicht rufen, nachdem ich ihn so zurückgestoßen habe, aber es bedarf dessen nicht, ich komme freiwillig.“
Sie trat an das Fenster, um zu sehen, ob der Wagen bereit sei, aber Ignaz ging trotz der ihm anbefohlenen Eile mit großer Umständlichkeit zu Werke, er war noch immer nicht fertig. Die junge Frau preßte in krampfhafter Ungeduld die Hände zusammen, sie achtete kaum mehr auf Vilmut, der ihr gefolgt war und jetzt dicht neben ihr stand.
„Ich habe diesen Entschluß gefürchtet und bin eigens gekommen, ihn zu hindern,“ sagte er mit der alten Härte und Entschiedenheit. „Du bist vollständig unzurechnungsfähig, sobald es sich um eine Gefahr dieses Mannes handelt. Man muß Dich zur Besinnung rufen. Ich werde nicht zugeben –“
„Spare Deine Worte!“ unterbrach ihn Anna. „Denkst Du, ich werde mich zurückhalten lassen, wenn ich Raimund leidend, vielleicht sterbend weiß? Seine Todesgefahr hat mir gezeigt, wo mein Platz ist, wo er längst hätte sein sollen. Ich achte jetzt nichts mehr.“
„Auch nicht Deinen Ruf? Vor den Augen der Welt ist der Freiherr Dir ein Fremder. Mit welchem Rechte willst Du bei ihm weilen?“
„Mit dem Rechte der Braut, der künftigen Gattin! Ich war Raimund’s Verlobte und bin es noch.“
„Thorheit! Du selbst hast die Verlobung aufgehoben, Du wurdest das Weib eines Andern und Werdenfels lebte jahrelang fern von Dir.“
„Glaubst Du, daß er mich in all den Jahren vergessen hat oder ich ihn?“ fragte die junge Frau mit bebender Stimme. „Ja, ich löste die Verbindung, von Dir gedrängt, gezwungen. Ich war ja damals kaum achtzehn Jahre, und ich war in Deiner Schule herangereift, in Deiner Lehre erzogen, die keine Gnade kennt für ein Vergehen, nur Verdammniß und Strafe. Ich hätte Raimund damals hören müssen, als er Gehör forderte, ihn allein, denn er hat Recht, so lange Du zwischen uns standest mit Deinem Eisesblick, war jede Verständigung unmöglich. Ich durfte ihm die Vertheidigung nicht verweigern.“
„Hat er sich verteidigt, als Du ihn fragtest?“ sagte Gregor langsam. „Hat er mich der Lüge geziehen, als ich ihn anklagte? Und doch wußte er, daß an seinem Worte Dein Besitz hing. Du hättest ein Schuldbekenntniß empfangen, nichts weiter.“
„Nun denn, so mußte ich verzeihen, anstatt zu verdammen, und mit ihm tragen, was das Schicksal über uns verhängte. Was Du damals als Pflicht von mir fordertest, was Du mir als Charakterstärke ausmaltest, das war Schwäche und Feigheit dem Manne gegenüber, den ich liebte. Ich zitterte für mein Glück, für mein Heil an seiner Seite, und ich hätte doch nur nach dem seinigen fragen dürfen. Wir haben Beide den Irrthum gebüßt mit Jahren der Trennung und Verzweiflung, aber jetzt endlich ist es klar in meiner Seele geworden. Ich frage nicht mehr darnach, was Raimund gethan hat, und ich schaudere nicht mehr davor zurück. Mag die ganze Welt ihn ausstoßen und verdammen, mag der Schatten, der sein Leben verdunkelt, auch das meinige in Nacht hüllen – ich theile seine Schuld und sein Verderben!“
Es lag ein stürmischer, leidenschaftlicher Triumph in ihren Worten, der Triumph des Befreiten, der endlich die lang getragenen [395] Fesseln abwirft und sich durch keine Bande mehr halten läßt. Vilmut fühlte das, wußte das, und trotz alledem machte er noch einen letzten ohnmächtigen Versuch.
„Du wirst Dein unsinniges Vorhaben nicht ausführen,“ sagte er mit einer Stimme, die in ihrer furchtbaren Erregung fast erstickt klang. „Ich dulde es nicht. Hörst Du, Anna? Ich verbiete es Dir, und sollte ich Dich mit Gewalt zurückhalten, Du gehst nicht!“
Er machte eine Bewegung, als wolle er wirklich ihren Arm ergreifen, um seine Drohung auszuführen. Anna lächelte nur, halb mitleidig, halb verächtlich, und der Strahl ihres Auges traf ihn mit vollster Macht.
„Hüte Dich, Gregor, Dein Haß verräth zu viel. Ich habe in der letzten Zeit tiefer gesehen, als Dir vielleicht lieb ist. Leugne es wie Du willst, aber ich sage Dir, Du hast Raimund von jeher gehaßt und wirst ihn hassen bis zum Grabe – weil ich ihn liebe!“
Vilmut’s Antlitz zeigte wieder jene fahle Blässe, wie bei jener Unterredung mit dem Freiherrn, aber diesmal fuhr er nicht auf und wies die Anklage nicht mit stolzer Entrüstung zurück. Starr und wortlos blickte er auf die junge Frau; doch er wagte es nicht mehr, sie zu hindern, als sie den Mantel umwarf und sich zum Gehen wandte.
„Ich gehe zu Raimund. Leb’ wohl, Gregor, wir Beide sind zu Ende mit einander!“
Sie verließ das Zimmer und wenige Minuten später hörte Vilmut draußen den Wagen fortrollen, der sie nach Werdenfels führte. Da brach die lähmende Starrheit, die ihn gefesselt hielt, und mit ihr die eiserne Kraft des Mannes; mit einem Stöhnen, das fast einem Aufschrei glich. schlug er beide Hände vor das Antlitz, der wilde verzweifelte Ausbruch zeigte, wie es um ihn stand.
Erst jetzt kam die volle Wahrheit dessen über ihn, was er bisher nicht hatte wissen wollen, was er sich abgeleugnet, wogegen er gerungen hatte mit all der Energie seines Charakters, er unterlag ihm schließlich doch. Es war eine Stunde furchtbarer, erbarmungsloser Selbsterkenntniß für den Priester, sie raubte ihm den Grund, auf dem er bisher so felsenfest gestanden, den Glauben an sich selbst, an die Reinheit seines Wollens und Handelns. Er hatte geglaubt, ein strenger aber gerechter Richter zu sein, der hoch dasteht über jeder Schuld und Versuchung, und jetzt erkannte er, daß all sein Thun nur Haß gewesen war, der wilde, glühende Haß des Mannes gegen den Mann, wenn beide ein Weib lieben.
Er wähnte, die Versuchung sei überwunden, der Sieg errungen, als er Anna zu der Vermählung mit einem Manne drängte, in dessen Arme sie nur die Verzweiflung trieb, als er es über sich gewann, selbst ihre Ehe am Altar einzusegnen, und tief im Grunde seines Herzens hatte sich doch der Triumph darüber geborgen, daß sie nun dem Einen entrissen wurde, den er haßte, weil sie ihn liebte, daß sie diesem Einen auf immer verloren war.
Aber als der Tod jenes Band löste, als die junge Frau zurückkehrte und die alte unbesiegliche Liebe wieder ihre unsichtbaren Bande zwischen ihr und Raimund wob und sie mit geheimer, unwiderstehlicher Gewalt zu einander zog, da wachte mit der Eifersucht auch die alte Leidenschaft wieder in dem Herzen Gregor’s auf. Sie war nicht todt, nicht begraben, wie er wähnte, sie loderte aus der Asche zur hellen Flamme empor.
Doch ein Glück, das ihm auf ewig verloren war, das sollte und durfte auch kein Anderer genießen! Er gebrauchte schonungslos die Waffe, die das Schicksal mit jenem unseligen Geheimniß in seine Hand gelegt hatte, er schürte den Haß gegen den Freiherrn bis zum Fanatismus. Und jetzt, wo Raimund ein Opfer dieses Hasses geworden war, jetzt hätte sein Verfolger Alles hingegeben, wäre er an der Stelle des Gebannten, Verfehmten gewesen, hätte er wie dieser blutend und vielleicht sterbend dagelegen – um solchen Preis! –
Eine Stunde später trat Paul Werdenfels, der soeben eine Meldung des Haushofmeisters erhalten hatte, rasch auf die Schloßterrasse hinaus und eilte zu einem Wagen, der am Fuße derselben hielt. Er hob zuerst seine Braut heraus und reichte dann ihrer Schwester die Hand.
„Ich wußte, daß Sie kommen würden,“ sagte er. „Beruhigen Sie sich, der Arzt giebt uns Hoffnung.“
Anna, deren Augen mit angstvoller Frage an seinen Lippen hingen, athmete tief auf.
„Gott sei Dank! Ich fürchtete das Schlimmste. Weiß Raimund –?“
„Nein, er ahnt nicht, daß ich Ihnen geschrieben habe. Kommen Sie, ich werde es bei dem Arzte vertreten.“
Er führte die beiden Damen in das Schloß und ging dann zu seinem Onkel. Schon nach wenigen Minuten kehrte er zurück und geleitete die junge Frau nach dem Schlafzimmer des Freiherrn, wo er sie eintreten ließ, während er selbst zurückblieb.
Anna glitt leise durch das verdunkelte Zimmer, bis zu dem Lager, wo Raimund bleich, erschöpft von dem Blutverlust, aber mit vollem Bewußtsein ihr entgegenblickte.
„Paul hat Dir wohl schlimme Nachrichten gesendet?“ sagte er ruhig, ohne Vorwurf. „Der Arzt spricht von Hoffnungen, aber Du wärst schwerlich gekommen, wenn Du mich nicht sterbend wüßtest.“
Da neigte sich das schöne, von heißen Thränen überströmte Antlitz über ihn, und er hörte wieder jene weichen, süßen Laute, wie er sie in der ersten Zeit der Liebe und des Glückes vernommen hatte:
„Vergieb, Raimund, daß ich so lange zögerte. Jetzt habe ich alles überwunden, alles – nur nicht die Liebe zu Dir! Ob Deine Braut mit Dir sterben, ob Dein Weib mit Dir leben wird, in Leben oder Tod, ich bleibe Dein!“
Der Frühling nahte. Drunten in der Ebene begann er sich
schon leise zu regen, all das schlafende Leben begann zu erwachen
und emporzukeimen und überall sproßte und blühte es hervor.
Nur im Hochgebirge allein behauptete der Winter noch seine Herrschaft. Hier hatte er sich wie in einer unzugänglichen Burg verschanzt und setzte dem andringenden Frühling einen letzten, verzweifelten Widerstand entgegen. Noch standen die Höhen ringsum im weißen Schneegewand, und ein eisiger Wind wehte in die Thäler nieder. Die Eisjungfrau herrschte noch unumschränkt, so weit das Gebiet der Geisterspitze reichte.
Felseneck lag nicht mehr so einsam und verlassen da, wie während des Winters, denn der Schloßherr befand sich jetzt wieder dort, und mit ihm waren auch seine künftige Gemahlin und deren Schwester gekommen. Anna hatte Wort gehalten, sie war nicht von Raimund’s Seite gewichen, und die öffentliche Erklärung ihrer Beziehungen zu ihm rechtfertigte auch in den Augen der Welt diesen Entschluß.
Werdenfels und die gesammte Umgegend erfuhren mit höchster Ueberraschung, daß der Freiherr sich noch vor jenem gefährlichen Sturze mit dem Pferde mit Frau von Hertenstein verlobt habe, und daß die Veröffentlichung eben stattfinden sollte, als der Unfall erfolgte. Die Braut erfüllte nur ihre Pflicht, wenn sie zu ihrem Verlobten eilte und seine Pflege übernahm, man fand das durchaus in der Ordnung.
Die Genesung des Freiherrn hatte einen so schnellen und günstigen Verlauf genommen, daß schon nach wenigen Wochen die Uebersiedelung nach Felseneck erfolgen konnte. Der Arzt, dem die Verhältnisse in Werdenfels nicht unbekannt waren, drang darauf, daß der Genesende allen peinlichen Erinnerungen und Einflüssen entzogen werde. In der Ruhe und Einsamkeit seines Bergschlosses sollte er die volle Heilung finden.
Die Nachricht selbst aber machte unglaubliches Aufsehen in den Kreisen der Nachbarschaft. Die junge, schöne und, wie man glaubte, auch reiche Wittwe war überall der Gegenstand des lebhaftesten Interesses gewesen, und man erwartete mit Ungeduld den Zeitpunkt, wo sie wieder in der Gesellschaft erscheinen werde. Statt dessen verlobte sie sich mit dem Felsenecker, dem düsteren, unheimlichen Sonderling! Die Neuigkeit war so seltsam, daß sie eine zweite, die ihr unmittelbar folgte, die Verlobung des Baron Paul mit der Schwester der Frau von Hertenstein, ganz in den Hintergrund drängte.
Das Begriffsvermögen der Werdenfelser aber hörte diesen beiden Thatsachen gegenüber vollständig auf, und sie waren sehr geneigt, an eine neue Hexerei des Felseneckers zu glauben.
In seinem Arbeitszimmer stand Raimund am Fenster. Es war noch unverändert das Thurmgemach mit den tiefdunklen Vorhängen und Farben, mit seiner ganzen düsteren Pracht, die jeden Lichtstrahl abzuwehren schien. Auch heute hüllte es sich [396] schon in Schatten und Dämmerung, während draußen der Sonnenuntergang seine leuchtende Gluth über die ganze Bergwelt ausgoß.
Auch auf dem Gesichte des Freiherrn lag ein Wiederschein jener Gluth. Es war nicht mehr der düstere, einsame Träumer von ehemals, der dort stand; in seinen Zügen leuchtete es wieder wie ein Schimmer von Jugend und Glück, und seine ganze Haltung und Erscheinung verriethen neu erwachtes Leben und wiedergewonnene Kraft. Nur die breite, dunkelrothe Narbe auf der Stirn erinnerte noch an das überstandene Leiden.
Und dennoch war eins zurückgeblieben, das unauslöschlich zu sein schien. In den Augen Raimund’s lag noch tief und schwer der alte Schatten, und es war wieder der alte dunkle Blick, mit dem er zu der Geisterspitze emporsah. Dies Eine war selbst der Liebe und dem Glücke nicht gewichen! Die frische Wunde auf der Stirn hatte sich geschlossen, aber jenes alte Weh im Innern blutete fort und wollte nicht vernarben. Der Bann war nicht gelöst, und die Vergangenheit warf ihren Schatten selbst in das neue Leben.
[406] Da wurde leise die Thür geöffnet, und ein Frauenkleid rauschte auf dem Teppich des Fußbodens. Werdenfels wandte sich um, und jetzt schwanden Düsterheit und Schatten aus seinen Blicken, sie strahlten auf in leidenschaftlichem Glücke, als er seine Braut eintreten sah.
Anna hatte die Trauer abgelegt, die sie so lange getragen, und es war, als sei damit auch jener strenge Ernst, jene stolze Kälte gewichen, die sie mit einer solchen Unnahbarkeit umgaben vor fremden Augen. Die hohe schlanke Gestalt in dem hellen Gewande glitt wie eilt Sonnenstrahl in das danke Gemach, und in dem sonnigen Lächeln, mit dem sie Raimund begrüßte, ging selbst jener Zug energischer Willenskraft unter, der sonst ihrem Antlitz das Gepräge lieh. Es war das glückselige Lächeln des Weibes, das wochenlang um den Geliebten gebangt und gezittert hat und ihn nun endlich genesen, gerettet sieht.
„Ich habe soeben Nachricht von meinem verwaisten Rosenberg erhalten,“ sagte sie. „Man kann sich dort gar nicht in meine lange Abwesenheit finden, und auch meine kleine Lily fängt an, sich wieder nach Hause zu sehnen. Wir werden an die Rückkehr denken müssen.“
Sie sprach die letzten Worte mit einem gewissen Zögern, und in der That fuhr Raimund mit dem vollen Ausdruck des Schreckens empor.
„Du willst fort? Du willst mich verlassen?“
„Bin ich nicht lange genug bei Dir gewesen? Der Arzt hat Dich bei seinem heutigen Besuche für genesen erklärt. Du bedarfst meiner Pflege nicht mehr.“
„So bedarf ich Deiner Nähe! Ich kann sie nicht entbehren, selbst auf Stunden nicht!“
Die junge Frau schüttelte lächelnd den Kopf bei dieser leidenschaftlichen Versicherung, aber sie widersprach nicht, sondern trat an die offene Glasthür, welche nach dem Altan hinausführte.
„Es weht heute eine wahre Frühlingsluft draußen,“ sagte sie. „Sieh nur, wie das Abendroth dort oben verglüht.“
Raimund trat gleichfalls an die Thür, es war in der That nicht kühl, trotz der späten Stunde, und die Ranken des Epheu, der den Altan und das Mauerwerk umflocht, regten sich nur leise im Abendwinde.
Es war das alte Bild voll düsterer, wilder Großartigkeit, ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde. Die Eisjungfrau hielt noch überall ihre weißen Schleier gebreitet, noch stand ihr krystallenes Reich in unverminderter Pracht, aber es fehlte der eisige Hauch, der dies Reich geschaffen und ihm die Dauer gegeben hatte, es fehlte die starre Todesruhe darin und das Todesschweigen.
Das Abendroth wob seine rosigen Schleier um die weißen Schneegipfel und der höchste von allen, die Geisterspitze, die allein noch den Abschiedsgruß der scheidenden Sonne empfing, stand in dunkler Purpurgluth, einsam und mächtig, wie der Riesengeist des Gebirges, vor dem sich all die anderen Häupter neigen. Dort oben war noch alles Glanz und Licht, während das Thal sich schon in blauen Nebelduft zu hüllen begann.
Der Frühling hatte seinen ersten Boten in das Hochgebirge entsendet – der Südwind war gekommen! Er wehte durch die Thäler, er schwang sich auf die Höhen und über die Schneegefilde, und unter seinem weichen warmen Hauche lösten sich die eisigen Fesseln des Winters.
Voller und mächtiger als sonst kam das Brausen des Bergstromes aus der Tiefe, aber jetzt war er nicht mehr das einzige Leben in einer erstorbenen Welt, jetzt verhallte sein Ruf nicht mehr einsam in schweigender Oede, von allen Seiten ringsum kam raunend und flüsternd die Antwort zurück. Aus allen Felsen und Klüften tönte es geheimnißvoll wie von tausend erwachenden Stimmen, die sich erst leise, wie noch im Traume regten. Es tropfte, rieselte, rauschte überall – der Schnee begann zu schmelzen.
Anna brach zuerst das minutenlange Schweigen das eingetreten war.
„Die Geisterspitze grüßt uns heute in seltener Pracht,“ sagte sie hinaufdeutend. „Es ist, als ob verborgene Flammen in ihrem Innern loderten, der ganze Berg erscheint wie in Gluth und Licht getaucht."
Raimund’s Blick war der Richtung des ihrigen gefolgt und hing jetzt gleichfalls an dem dunkelglühenden Gipfel.
„Und es ist doch nur Eis und Schnee da oben auf dem unzugänglichen Throne der Eisjungfrau. Sie duldet es nicht, daß man ihr in das Antlitz schaut, das habe ich erfahren, als ich mich einst in den Klüften der Geisterspitze – verirrte.“
„Wußtest Du denn nicht, daß sie unwegsam sind? Was suchtest Du dort oben?“
„Den Tod!“ sagte Werdenfels schwer und dumpf.
„Raimund!“
„Ja, Anna, ich habe ihn damals gesucht und ersehnt, weil ich es nicht für möglich hielt, ein ganzes langes Leben hindurch die Last zu tragen, die das Unheil einer einzigen Stunde auf mich gewälzt hatte. Mit zwanzig Jahren hält man es für so leicht, ein Ende zu machen mit all der Qual und dem Elend, aber das Leben weiß uns festhalten. Ich wurde aufgefunden, erstarrt und besinnungslos, aber ich erwachte doch und mußte weiter leben.“
„Und was – was trieb Dich hinauf in jene Eisklüfte?“
Die Frage kam leise, bebend von den Lippen der jungen Frau, und ebenso klang die Antwort Raimund’s.
„Fragst Du endlich darnach? Ich habe seit Wochen darauf gewartet, aber Du schwiegst immer, Du wußtest immer abzulenken. Ich sah es deutlich, Du wolltest nichts hören.“
„Ich durfte ja nicht! Der Arzt hatte es mir zur strengsten Pflicht gemacht, Dir jede Aufregung fern zu halten, er forderte die vollste Ruhe als erste Bedingung Deiner Genesung, und ich wußte nur zu gut, daß jede Berührung der Vergangenheit einen Sturm in Deinem Innern entfesseln würde. Jetzt aber bist Du genesen –“ sie drückte die Hand gegen die Brust, und ein tiefer Athemzug rang sich daraus empor, „laß mich die Wahrheit hören!“
Raimund schwieg, aber er legte den Arm um seine Braut und zog sie an sich, während sein Auge mit banger unruhiger Frage das ihrige suchte, als fürchte er ein erneutes Zurückweichen, doch Anna legte mit voller inniger Hingebung das Haupt an seine Schulter.
„Fürchte nichts, Raimund! Was ich hören werde, ich schaudere nicht mehr davor zurück. Das war zu Ende in dem Moment, wo ich Dich von Gefahr und Tod bedroht wußte. Da fühlte ich, daß es nur eins giebt, was ich nicht ertragen kann – Dich zu verlieren! Und wenn es Schuld und Fluch ist, was Du mir zu bekennen hast, trennen wird es uns nicht mehr. Ich theile Deine Zukunft, ich will auch die Vergangenheit mit Dir theilen.“
Raimund preßte sie an sich, doch nur einen Moment lang, dann ließ er sie aus den Armen. Die krampfhafte Heftigkeit dieser Bewegung zeigte, wie nothwendig die Schonung bisher noch gewesen war.
„Du hast mehrere Jahre im Pfarrhause von Werdenfels gelebt,“ sagte er endlich. „Hörtest Du nie eine Anklage gegen mich?“
Anna schüttelte verneinend den Kopf.
„Deinen Vater klagte man an, aber Haß und Furcht hatten ja so manches Märchen über ihn erfunden, das unglaublich klang, ich glaubte auch dies nicht, und Gregor sprach niemals darüber. Von Dir war kaum jemals die Rede. Du lebtest ja immer auf Reisen, und wenn Du wirklich einmal nach dem Schlosse kamst, so vermiedest Du es, Dich im Dorfe zu zeigen. Ich hatte Dich niemals gesehen, und der Freiherr von Werdenfels, dem wir in Venedig begegneten, war mir ein Fremder, bis auf den Namen.“
„Ich begreife es,“ sagte Raimund düster. „Damals schürte Vilmut den Haß noch nicht, er wußte, daß bei dem Charakter meines Vaters alsdann die blutigen Conflicte nicht ausbleiben konnten, und daß der Schaden auf Seiten seiner Pfarrkinder [407] bleiben würde. Der damalige Gutsherr fragte nichts nach der allgemeinen Feindschaft, er verlachte sie und trat sie zu Boden. Ich war anders geartet!“
Er schwieg einige Secunden lang, und sein Blick verlor sich wieder in die Weite. Das Abendroth dort über den Schneegipfeln zerfloß allmählich und auch die Gluth der Geisterspitze wurde matter und matter, die Abendschatten stiegen aus dem Thale bis hinauf zu den Höhen.
„Du hast meinen Vater oft genug schildern hören,“ begann Werdenfels von Neuem. „Er war eine harte, gewaltsame Natur, ein rücksichtsloser Vertreter der Privilegien seines Standes, und selbst als die neue Zeit sich drohend zu regen begann, wollte er nichts von Nachgiebigkeit und Einlenken hören. Er verachtete die revolutionäre Bewegung, die sich bald auch unter den Bauern kundgab, und vermaß sich, er werde ihr auf seinen Gütern die Spitze bieten.
Ich war damals kaum zwanzig Jahr und hatte noch viel von der Unselbstständigkeit des Knaben, denn ich war in vollster Abhängigkeit, in einem beinahe sclavischen Gehorsam erzogen. Der Vater liebte mich nicht, weil ich ihm so unähnlich war, und ich fürchtete ihn nur. Ich ersehnte die Zeit, wo ich Werdenfels verlassen sollte, um die Universität zu beziehen, wie der Gefangene die Freiheit ersehnt, aber wenige Monate vorher trat die Katastrophe ein.
Bei der Unbeugsamkeit des Gutsherrn kam es bald genug zum offenen Kriege mit unseren Bauern. Es gab damals kaum irgend eine Autorität mehr, die Leute konnten und durften sich Alles erlauben und trotzten darauf. Sie forderten alle möglichen Zugeständnisse, und als diese ihnen verweigert wurden, drohten sie mit Gewalt. Mein Vater wurde von allen Seiten gewarnt, aber vergebens; anstatt einzulenken, schleuderte er der wild erregten Menge eine höhnische Herausforderung entgegen, die sie vollends zur Wuth reizte. Man machte Anstalt, sich des Schlosses zu bemächtigen, aber mein Vater spottete über die Versuche, den Eingang zu erzwingen. Er bewaffnete die gesammte Dienerschaft und erklärte, er werde die ‚rebellische Bande‘ züchtigen.
Aber nur zu bald wurde ihm und uns Allen der ganze furchtbare Ernst unserer Lage klar. Die Diener zeigten sich feig und unzuverlässig, die in der Eile getroffenen Vertheidigungsmaßregeln hielten dem wiederholten Anstürmen nicht Stand, und wenn es wirklich zum Kampfe kam, mußten wir der Uebermacht erliegen. Was uns dann bevorstand, war nicht schwer zu errathen bei dem bis zum Wahnsinn gereizten Haß der Angreifer. Sie hätten uns erbarmungslos niedergemacht, für uns handelte es sich um Leben und Tod.
Mein Vater, so wenig er den Tod fürchtete, so fest er entschlossen war, sich bis zum letzten Athemzuge zu vertheidigen, hätte doch ein derartiges Unterliegen nicht ertragen. Ihm war es schon Entehrung, von solchen Händen zu fallen. Ich sah, wie seine Stirn sich immer drohender umwölkte, wie er die Zähne zusammenbiß und über irgend einem finsteren Entschlusse brütete. Ich wagte es sonst niemals, ihm mit einem Rathe zu nahen, und er hätte mich auch nicht gehört, jetzt versuchte ich es.
‚Wir können das Schloß auf die Dauer nicht halten, Du siehst es,‘ sagte ich, ‚und auf die Diener ist kein Verlaß, sie lassen uns im Stich, wenn es ernstlich zum Kampfe kommt. Laß uns den Rückzug antreten, so lange es noch möglich ist. Die kleine Mauerpforte führt unmittelbar nach dem Schloßberg, die Gebüsche sind dort dicht genug, daß wir unbemerkt hinab gelangen können. In wenigen Minuten sind wir in der Meierei, wo wir Pferde finden, und können von dort nach Buchdorf. Was uns von den Dienern folgen will, nehmen wir mit, die Anderen haben nichts zu fürchten, denn man sucht nur uns allein.‘
‚Rückzug? Flucht?‘ fuhr mein Vater auf. ‚Du wagst es, mir eine so schmähliche Feigheit zuzumuthen?‘
‚Wo Einer gegen Zehn steht, ist der Rückzug keine Feigheit. Du hast oft genug Deine Soldaten in der Schlacht geführt, würdest Du sie nicht zurückgezogen haben vor einer solchen Uebermacht?‘
‚Das war ein ehrlicher Krieg und ehrliche Feinde, hier handelt es sich um eine aufrührerische Rotte. Man soll nicht sagen, daß der Freiherr von Werdenfels solchem Gesindel gewichen, daß er vor seinen Bauern und Tagelöhnern geflohen ist.‘
‚Sollen die letzten Freiherren von Werdenfels fallen von den Händen dieser Tagelöhner? Täusche Dich nicht, Vater, Du hast keine Gnade geübt, Du wirst auch keine finden, und was auch mit uns geschehen mag, das Schloß fällt jedenfalls in ihre Hände.‘
‚Schweig!‘ rief mein Vater, indem er wüthend mit dem Fuße stampfte. ‚Das Schloß fällt nicht, sage ich Dir, und ich weiche nicht vom Platze. Ich werde dieser rebellischen Bande die verdiente Antwort geben, sie sollen an den Werdenfels denken! Du nimmst einstweilen meine Stelle ein, ich komme sogleich zurück!‘
Er wandte sich von mir und rief seinen Jäger, dem er befahl, ihm zu folgen. Ich wußte mir seine Worte nicht zu deuten, aber ich fürchtete irgend eine Verzweiflungsthat. Der Jäger hatte einst im Regimente unter meinem Vater gedient und war ihm später auf seine Güter gefolgt. Er war der Vertraute seines Herrn und diesem blindlings ergeben, aber er galt für einen rücksichtslosen und gewissenlosen Menschen, der zu jeder That fähig war. Ich hatte in jener Minute nicht Zeit, darüber nachzudenken, denn ich mußte meinen Posten bei der Vertheidigung einnehmen.
Da trat in dem Lärmen und Toben draußen eine Pause ein. Die Angreifer schienen sich zu berathen und planmäßiger vorgehen zu wollen als bisher, gleich darauf meldete mir einer der Diener, man suche Reisig zusammen, offenbar in der Absicht, die Eingangsthore, die bisher den Stößen und Hieben Widerstand geleistet hatten, durch Feuer zu zwingen. Das war eine neue, furchtbare Gefahr, und ich eilte, meinen Vater davon zu unterrichten.
Er hatte sich mit dem Jäger in sein Arbeitszimmer eingeschlossen, aber gerade als ich nahte, wurde die Thür geöffnet, und ich hörte noch seine letzten Worte:
‚Die Verantwortung trage ich allein! Jetzt sieh zu, daß Du unbemerkt durch die Mauerpforte und den Schloßberg hinunter gelangst, und hüte Dich, daß Du unten im Dorfe nicht gesehen wirst. Vor allen Dingen aber beeile Dich, denn wir halten das Schloß keine Stunde mehr!‘
‚Verlassen Sie sich auf mich, gnädiger Herr!‘ klang die Stimme des Jägers in gedämpftem Tone. ‚Also die Scheune hinter dem Hofe des Eckfried!‘
Er öffnete die Thür vollends und trat heraus, aber er fuhr zurück, als er mich erblickte. Ich war der Sohn seines Herrn und konnte doch hören, was dieser mit ihm verhandelte, aber er warf mir einen seltsam scheuen Blick zu, sah dann umher, ob Niemand sollst in der Nähe war, und eilte hastig an mir vorüber. Jetzt trat auch mein Vater heraus.
‚Was thust Du hier?‘ herrschte er mich an. ‚Warum bist Du nicht auf Deinem Posten geblieben?‘
Ich berichtete kurz, was draußen geschah, und sprach meine Befürchtung aus, daß man das Schloß anzünden wolle; er lachte auf mit schneidendem Hohne.
‚Recht so, laß sie es nur versuchen! Eine Weile halten die Eichenthüren noch Stand und bis dahin werde ich uns Luft schaffen. Sei ohne Sorge, Raimund, in einer halben Stunde ist die ganze Rotte zersprengt und zerstoben, es bleibt kein Einziger mehr am Platze, darauf gebe ich Dir mein Wort.‘
Mir stieg eine unbestimmte Ahnung von etwas Schrecklichem auf, obgleich ich den Zusammenhang nicht errathen konnte, und mit stockendem Athem fragte ich:
‚Was hast Du dem Jäger befohlen?‘
‚Was Du später erfahren wirst. Jetzt komm, wir sind draußen nöthig.‘
‚Was hast Du dem Andreas befohlen, Vater?‘ rief ich in steigender Angst.
Er trat dicht an mich heran und dämpfte die Stimme, aber sein Ton wie sein Antlitz verriethen kalte, erbarmungslose Entschlossenheit:
‚Still, nicht so laut! Ein Anderer darf das nicht hören. Es giebt nur ein Mittel, uns und das Schloß zu retten, und auf den Andreas kann ich mich verlassen. Wenn da unten im Dorfe Feuerlärm entsteht, stürzt Alles hinunter, um zu löschen, und wir gewinnen Zeit und halten das Schloß, bis die Hülfe aus der Stadt kommt, die mir schon zugesagt ist. So starre mich doch nicht so an, als ob ich von Sinnen wäre! Es sind ja nur ein paar Scheunen, die in Flammen aufgehen sollen.‘
[421] „Als ich hörte, daß das Dorf in Brand gesteckt werden sollte,“ fuhr Raimund fort, „stand ich wie vom Donner gerührt, aber in der nächsten Minute raffte ich mich zusammen und wollte davonstürzen, der Vater vertrat mir den Weg.
‚Halt! Wo willst Du hin?‘
‚Dem Andreas nach, ich will ihn zurückholen! Das soll nicht geschehen, darf nicht geschehen, Du mußt den Befehl widerrufen, oder ich thue es an Deiner Stelle.‘
‚Du?‘ fragte er verächtlich. ‚Denkst Du, der Andreas wird Dir gehorchen, wenn Du meinen Befehl widerrufst?‘
‚So hindere ich ihn mit Gewalt, und wenn er nicht gehorchen will, so rufe ich es laut durch das Dorf, daß man sich vor dem Brandstifter hüten soll.‘
Mein Vater erbleichte, er faßte mit eisernem Griffe meinen Arm und hielt mich gewaltsam fest.
‚Bube!‘ knirschte er. ‚Willst Du Deinen eigenen Vater preisgeben? Soll das Schloß Deiner Ahnen niedergebrannt werden? Willst Du selbst umkommen unter den Knitteln und Aexten der Bauern? Ein recht ehrenvoller Tod für den Letzten unseres Hauses – und das Alles um einer elenden Scheune willen!‘
‚Aber so bedenke doch die furchtbare Gefahr für das Dorf,‘ flehte ich. ‚Der Wind weht stürmisch von der Geisterspitze; wenn das Feuer nun weitergetragen wird, wenn –‘
‚Bah, die Bauern haben Glück,‘ unterbrach er mich, ‚denen geschieht nichts. Was thue ich denn anders, als was sie thun wollen? Du siehst es ja, daß sie Feuer an meine Thore legen. Wir wollen doch sehen, wer es länger aushält – das Schloß oder das Dorf. Du bleibst, Raimund, und gehst mir nicht von der Seite!‘
Das war der tyrannische Befehl, mit dem er mich stets seinem Willen beugte, dem ich sonst widerstandslos gehorchte, jetzt aber flammte die Energie der Verzweiflung in mir auf.
‚Ich bleibe nicht!‘ rief ich. ‚Wenn Du die Verantwortung trägst, ich kann es nicht. Ich folge dem Andreas und halte ihn zurück.‘
Der Vater ließ meinen Arm los und trat zurück.
[422] ‚So geh denn, Feigling,‘ sagte er, mit einem Tone, der mein Blut sieden machte. ‚Du bist wohl froh, einen Vorwand zur Flucht zu finden, Du brachtest ja schon vorhin die Mauerpforte in Vorschlag. Du willst Dich vor allen Dingen in Sicherheit bringen, das sieht Dir ähnlich. Du bist kein Werdenfels, bist es nie gewesen. Geh, gieb Dein Stammschloß preis, verlaß Deinen Vater in der Todesgefahr und rette Dich nach dem sicheren Buchdorf, aber merke es Dir, einen Sohn, welcher in solcher Stunde mir und der Gefahr feige den Rücken kehrt, kenne ich nicht mehr!‘
Das war mehr, als ich ertragen kannte, ich sah es an seinem Gesicht, daß er mir wirklich die Feigheit, die Erbärmlichkeit zutraute, von der er sprach. Und wenn ich trotz alledem die That hinderte, so war mir vermuthlich die Rückkehr unmöglich, und es gab dann keine Rettung mehr für die Eingeschlossenen. Mein Vater fiel in die Hände der Wüthenden und das Schloß mit ihm.
Das alles stürmte auf mich ein. Frage mich nicht, wie ich gekämpft habe, es war die dunkelste Stunde meines Lebens. Wenn ich hinuntereilte, wenn ich der Menge draußen ein einziges Wort zuschleuderte, so war das Dorf gerettet, aber ich blieb und schwieg – und Werdenfels verfiel seinem Schicksal!“
Raimund hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war, erst nach einer Pause fragte er:
„Begreifst Du es nun, daß ich nicht Nein sagen konnte, als Du mich fragtest, ob ich mitschuldig sei an jenem Unglück?“
„Ja,“ sagte Anna leise.
Sie hob das Auge zu ihm empor, noch scheu und zögernd, aber nur einen Moment lang, dann warf sie sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an seine Brust. Er verstand die Antwort auf sein Bekenntniß und wortlos, aber mit tiefem Aufathmen schloß er seine Braut in die Arme.
„Du weißt, wie entsetzlich jener Brand gewüthet hat, und um welchen Preis das Schloß gerettet wurde,“ fuhr Werdenfels endlich fort. „Selbst mein Vater stand entsetzt vor diesem schrecklichen, nicht gewollten Ausgang. Ich ertrug nicht den Anblick der rauchenden Trümmer, ich warf mich auf das Pferd und jagte davon, hinein in die Berge, bis das Thier erschöpft unter mir zusammenbrach. Ich fühlte keine Erschöpfung, die Flammen da unten im Thale jagten mich weiter, immer höher hinaus durch unwegsame Klüfte, bis in die Schneefelder der Geisterspitze. Erst als mich ringsum Eis und Nacht umgab, kam die ersehnte Ruhe. Die Eisjungfrau legte ihre kalte Hand auf meine Brust, und ich verlor die Besinnung.“
„Du hast eine schwere Krankheit davon getragen? Ich hörte es!“
„Ja, und als ich kaum genesen war, verließen wir Werdenfels, wo die bedrohlichsten Gerüchte umgingen. Die verzweifelnden Menschen, die Alles verloren hatten, ahnten den Zusammenhang, obgleich jeder Beweis fehlte.
Sie kannten meinen Vater, und mein Verschwinden unmittelbar nach dem Brande, meine schwere Erkrankung lenkten den Argwohn auf mich. Es hieß, der Vater habe die That befohlen und der Sohn sie ausgeführt. Ich hatte die Empfindung, als hätte ich das wirklich gethan!
Das Verhältniß zu meinem Vater war auch für mich unhaltbar geworden. Er sah es, daß ich das Geschehene nicht überwinden konnte, ich war ihm eine peinigende Erinnnerung daran, und so willigte er denn in die Trennung. Ich ging auf die Universität, ich ging auf Reisen und streifte freudlos und friedlos durch die Welt, bis ich Dich fand – um Dich wieder zu verlieren!“
„Warum schwiegst Du gegen mich?“ sagte die junge Frau vorwurfsvoll. „Warum mußte ich von Gregor hören, was nur Deine Lippen mir sagen durften? Dein langes Schweigen war es, was Dich am schwersten anklagte in meinen Augen.“
„Weißt Du, was es heißt, ein ganzes Leben voll Einsamkeit und Weh zu tragen und dann einmal, zum ersten Male glücklich zu sein? Ich fürchtete mein Glück und Deine Liebe zu verlieren mit jenem Bekenntniß, deshalb schob ich es immer wieder hinaus. Aber ich gebe Dir mein Wort darauf, Anna, noch ehe unser Bund unlöslich geschlossen wurde, hättest Du die volle, die ganze Wahrheit erfahren. Nun weißt Du Alles – nun richte mich.“
Sein Blick verschleierte sich wieder in der alten Weise, aber die großen strahlenden Augen, die auch ihm einst wie glückverheißende Sterne aufgegangen waren, sahen so hoffnungsfroh zu ihm auf, und die Stimme seiner Braut klang in voller, hingebender Zärtlichkeit:
„Nicht diesen düsteren Schatten mehr, Raimund! Laß ihn verschwinden. Du bist dem Leben zurückgegeben, und Dein Weib wird dieses Leben mit Dir theilen – ob es Fluch oder Segen bringt!“
Draußen war der letzte Rosenschimmer verglüht, und die Berggipfel ragten wieder starr und weiß empor, aber an dem noch lichten Abendhimmel, gerade über der Geisterspitze, stand groß und leuchtend ein Stern, er funkelte wie ein Diamant über dem schneegekrönten Haupte der Eisjungfrau. –
Die Nacht senkte sich auf das Gebirg nieder, aber sie kam nicht wie sonst schweigend und lautlos. Der warme weiche Hauch aus dem Süden wehte fort, und die Stimmen, die er aus dem Schlafe erweckt hatte, raunten und flüsterten jetzt nicht mehr, sie klangen laut durch die Nacht und das Dunkel.
Da krachte das Eis in den Bächen, und die so lange gefangene Welle blinkte wieder auf, die erstarrten, funkelnden Massen der Wasserfälle tropften und rannen von den Felswänden. In den Wäldern sank die Schneelast von den Zweigen, und die grünen Tannen regten die befreiten Wipfel und grüßten mit ihrem Wehen und Rauschen den Frühling.
Dort oben aber auf den Höhen lösten sich leise, wie von Geisterhand berührt, die weißen Schleier der Eisjungfrau. Sie begannen zu zerrinnen, zu zerfließen, tausend Quellen rieselten von den Gipfeln, mit jedem Schritte wachsend und anschwellend, tausend Bäche stürzten sich hinunter in das Thal, in den Bergstrom, der sie brausend und schäumend empfing. Aus jeder Felsschlucht, von jeder Klippe rauschte es nieder und stimmte ein in den vollen mächtigen Chor jauchzender Frühlingsstimmen.
Der Bann des Winters war gebrochen, die erlöste Natur rüstete zur Auferstehung – aber wenn die Eisjungfrau in das Thal niedersteigt, dann bringt sie Verderben!
Das alte unheilvolle Sprüchwort hatte Recht behalten! Jenes Frühlingserwachen war verhängnißvoll geworden und die Eis- und Schneemassen, die so plötzlich zerschmelzend von den Bergen niederrannen, brachten dem Thale Verderben.
Der Südwind hatte die Bahn gebrochen, jetzt kam der Frühling selbst, und jetzt begann der Kampf in der letzten Hochburg des Winters, im Hochgebirge, ein Kampf auf Leben und Tod.
Nicht umsonst hatten die Wasser ihre Banden gebrochen, nicht umsonst eilten sie in stürmendem Laufe dem Bergstrome zu. Er schwoll immer höher an, tobte immer wilder dahin, und die Fluth stieg drohender mit jeder Stunde.
Von allen Seiten zog dunkles Gewölk heran, schwerer, dichter Nebel senkte sich herab, und jetzt begannen die Schleusen des Himmels sich zu öffnen, und der Regen strömte Tag und Nacht, als sollte eine neue Sündfluth losbrechen. Was dem Thauwinde noch widerstanden hatte, das erlag diesen endlosen Regengüssen.
In den Thälern dampfte und gährte es von kämpfenden Wolken, die Lawinen donnerten nieder von den Höhen, die Wälder bebten und brachen unter den stürzenden Schnee- und Wassermassen, und jetzt machte sich auch der Sturmwind auf und sang sein brausendes Lied hinein in dies Toben der Elemente. Ueber dem Allem aber ragte die Geisterspitze auf, von flatternden Wolkenschleiern umwoben, und sandte immer wieder aufs Neue die tosenden Gletscherbäche in die Tiefe hinab und mit ihnen das Verderben!
Das Gebirg war fast unwegsam, und selbst die vorzüglich angelegte Bergstraße, die nach Felseneck führte, wurde von den Wildwassern theilweise überfluthet und zerrissen. Der Wagen des Freiherrn von Werdenfels hatte noch mit genauer Noth den Weg passirt, als er mit Frau von Hertenstein und deren Schwester von seinem Schlosse kam.
Anna hatte in der That auf der Rückkehr bestanden. Was ihr bisher das Recht gegeben hatte, in Felseneck zu weilen, hörte auf, nun Raimund völlig hergestellt war. Sie wollte die kurze Zeit bis zu der Vermählung, die in sechs Wochen stattfinden sollte, in Rosenberg zubringen. Der Freiherr hatte sich in Folge dessen gleichfalls zu der Rückkehr nach Werdenfels entschlossen, da es ihm nur von dort aus möglich war, seine Braut täglich zu sehen.
[423] Er wollte die beiden Damen nach Rosenberg geleiten, aber als man im Thale anlangte, zeigte es sich, daß die Brücke, die dort über den Strom führte, nicht mehr sicher war. Sie wankte bereits unter den anstürmenden Fluthen und man durfte es nicht wagen, sie zu passiren. Es blieb nichts übrig, als einstweilen nach Werdenfels zu fahren, das auf dem diesseitigen Ufer lag, die Verbindung mit der anderen Seite war vorläufig abgeschnitten.
Es war am Tage nach der Ankunft. Raimund befand sich mit seinen Gästen und mit Paul, der soeben von Buchdorf gekommen war, in dem Salon, wo das Bild des verstorbenen Freiherrn hing. Draußen wühlte der Sturm in den Baumwipfeln des Parkes, und der Regen schlug in schweren Tropfen gegen die Fenster. Aber das Sausen des Windes und das Plätschern des Regens wurden übertönt von einem Brausen und Toben, das aus furchtbarer Nähe herüberdrang. Es war der Strom, den man sonst nur dumpf in der Ferne hörte.
„Es sieht entsetzlich aus da unten in Werdenfels,“ berichtete Paul, der bei seiner Ankunft durch das Dorf gekommen war. „Das Wasser steigt mit jeder Minute und damit auch die Todesangst der bedrohten Menschen. Sie kämpfen mit der Energie der Verzweiflung gegen die andringende Fluth, aber ich fürchte, sie kämpfen vergebens.“
„Sie scheinen die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt zu haben,“ sagte Anna. „Noch gestern, als wir von Felseneck kamen, hieß es, das Dorf wäre nicht gefährdet, es sei das gewöhnliche Frühlingswasser, das nie ernstlichen Schaden anrichtet. Erst die Nacht muß das Unheil gebracht haben! Was meinst Du, Raimund?“
Raimund, der am Fenster stand, wendete sich langsam um.
„Ich meine, daß wir auf Alles gefaßt sein müssen,“ erwiderte er. „Ich habe ja stets den Frühling über in den Bergen verlebt, aber noch niemals habe ich ein so plötzliches Thauen der Schneemassen und ein so wildes Losbrechen der Bergwasser gesehen, und dazu dieser endlose Regen seit drei Tagen und Nächten! Bricht der Strom wirklich seine Ufer, dann ist das Dorf rettungslos verloren.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte drangen jetzt dumpfe, eherne Klänge vom Dorfe herüber – Glockenklänge. Die Kirche von Werdenfels läutete Sturm, sie gab das Nothzeichen nach allen Richtungen hin.
„Wie schauerlich das klingt!“ flüsterte Lily ängstlich.
Auch Paul lauschte den unheimlichen Klängen, auf einmal aber stand er auf und trat zu dem Freiherrn.
„Raimund, die Werdenfelser haben es nicht um Dich verdient, daß wir uns noch um ihr Wohl und Wehe kümmern, und daß Du Dich nicht mehr im Dorfe zeigst, nach dem was geschehen ist, das ist selbstverständlich. Aber ich kann trotz alledem nicht ruhig hier im Schlosse bleiben, während die Gefahr da unten immer höher steigt. Laß mich hinunter! Ich will wenigstens sehen, wie es steht, und schicke Dir Nachricht herauf.“
„So geh!“ sagte Raimund kurz und ernst.
„Um Gotteswillen, Paul, willst Du Dich auch in Gefahr begeben?“ rief Lily erschrocken.
„Für mich ist gar keine Gefahr vorhanden,“ beruhigte sie Paul. „Der Einzelne kann ja hier überhaupt nicht eingreifen. Gott sei Dank, daß wenigstens mein Buchdorf sicher ist, da ist kein Wildwasser in der Nähe!“
Das junge Mädchen widersprach nicht länger, sondern hing sich an seinen Arm und begleitete ihn hinaus bis zum Schloßthor, während die beiden Anderen zurück blieben.
Anna hatte ihren Platz nicht verlassen, aber ihr Blick suchte Raimund, der wieder an das Fenster getreten war. Freilich, es war selbstverständlich, daß er im Schlosse blieb, seine Stirn trug ja noch das blutrothe Zeichen des Empfanges, den seine Werdenfelser ihm bereitet hatten, als er es einmal wagte, sich in ihrer Mitte zu zeigen. Wenn er das von Neuem versuchte, so hieß es vielleicht, der Felsenecker habe das Unglück auf das Dorf herabbeschworen, um sich zu rächen. Es war nur gerecht, wenn er die Verblendeten jetzt ihrem Schicksal überließ, und doch lag etwas wie Vorwurf in dem Blicke der jungen Frau.
„Gott gebe, daß die Gefahr vorübergeht!“ sagte sie gepreßt. „Wenn das Verderben wirklich hereinbricht, was wird dann aus dem unglücklichen Dorfe und – aus Gregor?“
„Der Pfarrer?“ fragte Raimund mit Bitterkeit. „Nun, der hüllt sich in sein unfehlbares Priesterthum und fordert seine Gemeinde auf, sich dem Willen des Herrn zu beugen. Werdenfels wäre geschützt und in Sicherheit ohne sein Eingreifen, das weiß er, so gut wie wir Alle, aber er hilft sich mit einem Gebete darüber fort.“
„Nein, nein, Du kennst Gregor nicht. Was er auch gethan, wie schwer er geirrt haben mag, er hat immer das unerschütterliche Bewußtsein seines Rechtes gehabt. Fällt das Dorf wirklich zum Opfer durch seine Schuld, so ist das für ihn mehr als Vernichtung.“
„Ich glaube, Du traust ihm mehr Herz zu, als er besitzt. Doch gleichviel, er hat mich so erbarmungslos gerichtet, nun mag er sich selbst richten.“
[429] „Wußte Gregor um die That Deines Vaters?“ fragte Anna leise.
„Nein,“ erwiderte Raimund, „wenigstens hat er nie volle Gewißheit darüber erhalten, aber er mit seiner Menschenkenntniß verstand es besser als jeder Andere, in der Vergangenheit zu lesen. Erinnerst Du Dich jenes Tages, wo er mit seiner Anklage zwischen uns trat? Ich schwieg damals, selbst auf Deine angstvolle Frage, denn ich konnte mich nicht für unschuldig erklären und wollte mich nicht schuldig bekennen vor diesem Richter, und meine Bitte um ein Alleinsein mit Dir wurde ja versagt. Noch an demselben Abende erschien Vilmut bei mir im Schlosse und erklärte mir, er habe als Vormund gehandelt, der die Zukunft seines Mündels schützen müsse, jetzt komme er als Priester und fordere mich auf, mein Gewissen durch eine Beichte zu entlasten, die nur der Priester hören werde.“
„Und Du verweigertest ihm die Beichte?“
„Ja. Vor dem Manne, der mir soeben mein ganzes Glück entrissen und vernichtet hatte, konnte ich mein Haupt nicht demuthsvoll in den Staub beugen, um mich seinem Richterspruch zu unterwerfen, vor ihm konnte ich meinen todten Vater nicht anklagen, denn Alles in mir gährte auf in Haß und Feindschaft gegen ihn. Ich erwiderte ihm, daß ich mich auf Gnade und Ungnade nur dem höchsten Richter da oben übergebe. Da sah er mich an mit jenem Eisesblick, den Du ja kennst, und sagte:
‚So hat der Priester nichts mehr bei Ihnen zu schaffen, Herr von Werdenfels – bis Sie sich anders besinnen. Bedenken Sie, daß ich Ihnen den Weg zur Versöhnung geöffnet habe und daß Sie ihn sich selbst verschließen, denn Ihr Schweigen giebt mir die Gewißheit dessen, was ich bisher nur ahnte. Ich werde warten, bis Sie freiwillig kommen, um das zu gewähren, was Sie mir heute weigern!‘
Er hat vergebens gewartet, und ich verfiel seinem Bann!“
Anna widersprach nicht, sie wußte am besten, wie Gregor damals auf sie eingestürmt war, als er entdeckte, daß seine Schutzbefohlene die Braut des nunmehrigen Herrn von Werdenfels war, und daß die Verlobung nur mit Rücksicht auf den plötzlichen Tod des Vaters noch geheim gehalten wurde.
Das Sturmgeläut tönte fort. Die Glocken, die so oft zum Segen gerufen, sie riefen jetzt in höchster Noth nach einer Hülfe, die nicht erschien. Die dumpfen, schweren Klänge drangen wie flehend und mahnend zu dem Schloßberge empor, zu dem Schloßherrn, der finster in den strömenden Regen hinausblickte, er wollte den Ruf nicht verstehen.
Da vernahm man plötzlich ein donnerähnliches Krachen, so laut und furchtbar, daß es selbst das Brüllen des Stromes übertönte. Es klang, als sei das halbe Dorf eingestürzt.
„Gott im Himmel, das war die Brücke!“ rief Anna auffahrend. „Sie wankte schon gestern, sie ist gewiß den Fluthen erlegen!“
Raimund drückte heftig auf die Klingel.
„Schicken Sie nach dem Schloßberge hinaus,“ befahl er dem eintretenden Diener. „Man soll sehen, ob die Brücke noch steht! Ich will sofort Nachricht haben.“
„Laß uns nach dem Erker hinaufgehen,“ bat die junge Frau, während der Diener sich eiligst entfernte. Von dort übersieht man das Dorf und den Lauf des Flusses.“
Raimund machte eine abwehrende Bewegung.
„Nein, nein! Ich mag nichts sehen von der Zerstörung, der ich doch nicht Einhalt thun kann.“
„Oder vielmehr Du willst nichts davon sehen, weil der Anblick Dich gewaltsam zur Hülfe anrufen würde.“
„Zur Hülfe für diese Menschen? Nein, Anna! Du weißt nicht, was sie mir alles angethan haben. Sogar ihren Kindern haben sie Haß und Feindschaft gegen mich gelehrt, sogar die Kleinen wurden gezwungen, sich von mir zu wenden. Als ich das letzte Mal inmitten der Werdenfelser war und der feige, heimtückische Stoß meinen armen Emir traf, da habe ich es mir gelobt, daß es zu Ende sein soll zwischen mir und ihnen. Sie tragen jetzt nur die Schuld ihrer eigenen Verblendung. Warum stießen sie die Hülfe zurück, die ich ihnen bot? Mögen sie jetzt ihrem Schicksal verfallen!“
Die Härte war dem Manne wohl zu verzeihen, den man auf das Aeußerste gebracht hatte, und doch klangen die Worte nicht hart, es lag etwas darin wie unruhige Abwehr, wie geheimer Kampf mit sich selber – und dieselbe Unruhe verrieth sich auch in der Hast, mit welcher der Freiherr jetzt auf- und abzuschreiten begann, als wolle er seinen eigenen Gedanken entfliehen.
Da trat der Haushofmeister ein, der draußen dem Diener begegnet war, er brachte bereits die verlangte Nachricht und näherte sich mit schreckensbleichem Gesicht seinem Herrn.
Die Brücke ist soeben eingestürzt, gnädiger Herr. Wir sahen es vom Erker aus, und vor einer halben Stunde ist auch die Bachmühle zusammengebrochen.“
„Und die Bewohner?“ fragte Anna angstvoll.
[430] „Der Müller und die Seinigen sind noch rechtzeitig in das Dorf geflüchtet, aber dort wird ja auch jeden Augenblick das Schlimmste erwartet. Man giebt die Hoffnung auf, da all die Rettungsarbeiten umsonst sind.“
Der Freiherr erwiderte nichts, er begann nur heftiger auf- und niederzuschreiten.
Der Haushofmeister schickte einen bittenden Blick zu Frau von Hertenstein hinüber, dann begann er von Neuem zögernd:
„Ich wollte nach den Befehlen des gnädigen Herrn fragen, wenn – wenn das Aeußerste eintritt. Es flüchtet bereits Alles, und die Menschen schleppen mit sich, was sie von ihrem Hab’ und Gut nur tragen können. Der Schloßberg ist ihre einzige Zuflucht, aber die Weiber und die kleinen Kinder in dem strömenden Regen –“
„Oeffnen Sie die Meierei und die unteren Räume des Schlosses,“ befahl Raimund mit sichtlicher Ueberwindung. „Was die Menschlichkeit verlangt, werde ich nicht versagen.“
Der Haushofmeister ging und im Zimmer trat jetzt Schweigen ein. Raimund vermied es, dem Blicke Anna’s zu begegnen, er wußte, was dieser Blick von ihm forderte, obgleich sie kein Wort sprach.
Das Sturmgeläut war verstummt, und auch in dem Regen trat eine augenblickliche Pause ein, man vernahm nichts als das Toben des Flusses, das immer lauter anschwoll. Vielleicht hatten die Dorfbewohner wirklich die Rettungsarbeiten aufgegeben und dachten nur noch an Flucht.
Schon nach wenigen Minuten wurde die Thür wieder geöffnet und der Diener brachte ein zusammengelegtes Blatt, das er dem Freiherrn übergab.
„Von dem jungen Herrn Baron! Er hat soeben einen Boten heraufgesendet.“
Es war ein Blatt, welches Paul aus seinem Notizbuche gerissen hatte. Es enthielt nur wenige mit Bleistift geschriebene Zeilen:
„Die Brücke ist fortgerissen und die Flut steigt noch fortwährend, in einer Stunde muß sie das Dorf erreicht haben. Ich habe die Flüchtenden angewiesen, sich auf den Schloßberg zu retten, ich weiß, Du wirst den Unglücklichen diese Zuflucht nicht versagen. Sie retten nur das Leben – denn Werdenfels ist verloren!“
Raimund hatte gelesen und übergab das Blatt jetzt stumm der jungen Frau, die es gleichfalls überflog.
„Werdenfels ist verloren!“ wiederholte Anna. „Nun, Raimund –?“
Er sah sie an, die Augen Beider begegneten sich einen Moment lang, dann strich der Freiherr mit der Hand über die Stirn, als wolle er dort etwas auslöschen, und richtete sich wie mit einem plötzlichen Entschlusse auf.
„Meinen Mantel!“ rief er dem Diener zu. „Schnell! Ich will in das Dorf hinunter!“
„Gott sei Dank! Ich wußte es ja!“ brach Anna aus, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte.
Er zog die Hände an seine Lippen, aber seine Stimme hatte einen düsteren Klang, als er antwortete:
„Was hoffst Du denn? Kann ich, ein Einzelner, die Gefahr abwenden?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte die junge Frau mit einem tiefen Athemzuge, „aber mir ist, als müßtest Du es können. Jedenfalls begleite ich Dich.“
„Bei diesem Unwetter? Bleibe zurück, Anna, ich bitte Dich.“
„Nein. Du hast es erkannt, wo Dein Platz jetzt ist, und der meinige ist an Deiner Seite. Ich gehe mit Dir!“
„So komm!“ sagte Raimund entschlossen, indem er den Arm um sie legte. „Wir wollen sie in der Noth nicht allein lassen!“ –
Werdenfels lag bekanntlich in der Oeffnung des Thales, aus dem der Bergstrom hervorbrach, es war die erste Ortschaft, die er auf seinem Wege fand, und also am meisten gefährdet. Droben im Gebirge konnte sich die entfesselte Fluth nur gegen Felsen und Wälder werfen, und die riesigen Steine, die entwurzelten Bäume, welche sie mit sich führte, zeigten, wie unheilvoll sie dort gewüthet hatte, hier begann ihre Zerstörung an den Menschenwerken.
Die große massive Brücke oberhalb Werdenfels, die bisher noch jedem Hochwasser Widerstand geleistet hatte, war das erste Opfer geworden. Von den mächtigen gemauerten Pfeilern standen nur noch zwei, die, geborsten und wankend, jeden Augenblick dem Anpralle der Wogen zu erliegen drohten, und auf ihnen lag, wie Splitter zusammengebrochen, ein Theil des Balkenwerkes, alles Andere hatte das Wasser mit sich genommen.
Die Bergstraße, welche hier in das Thal mündete, war vollständig zerrissen, eine kleine Waldung der Gemeinde, die anfangs noch einigen Schutz gewährte, niedergeworfen und überfluthet. Wie dürre Reiser waren die grünen Tannen geknickt und fortgeschleudert, und über ein Chaos von Baumstämmen, Schlamm und Steinen stürzte das Wasser hinweg.
Die Bachmühle war verschwunden, über die Trümmerstätte schäumte der Bach, sonst ein schmales murmelndes Wässerchen, das sich wie ein blinkendes Silberband an den Schloßberg schmiegte, jetzt ein tosender Fluß, welcher sich weiter unten in den Strom stürzte.
Den furchtbarsten Anblick aber bot der Strom selbst, der seine bläulich grünen Wellen sonst so lustig zu Thal führte. Jetzt wälzte er sich dahin wie eine riesige braungelbe Schlange, brüllend und schäumend, und auf seinem Wege lag das Verderben!
Hoch auf spritzten die dunklen Wogen, die in wilder Flucht dahinjagten. Felsblöcke, Bäume, Balkentrümmer tauchten bald empor aus dem rasenden Wirbel, bald verschwanden sie wieder darin, oder sie warfen sich mit wüthender Gewalt gegen die Ufer, und das nachstürzende Erdreich erweiterte immer mehr den unheilvollen Lauf, während die Steine auf dem Grunde rollten und krachten, als würden Hunderte von Schüssen abgefeuert. Dieser Fluth konnte nichts widerstehen; was sie überhaupt erreichte, das war auch dem Untergange geweiht.
Im Dorfe herrschte eine furchtbare Aufregung. Man hatte im Vertrauen darauf, daß bisher noch jedes Hochwasser glücklich vorübergegangen war, dem Wachsen des Stromes mit ziemlicher Ruhe zugesehen. Erst die letzte Nacht hatte den Sorglosen die Nähe und Größe der Gefahr gezeigt, und jetzt freilich stürzte Alles zur Hülfe herbei. Wer nur die Arme regen konnte, der setzte auch seine vollste Kraft ein, vom reichsten Bauer an, dessen Hof auf dem Spiele stand, bis herab zum ärmsten Tagelöhner, der seine elende Habe vertheidigte, sogar die Frauen halfen, so viel sie konnten, sie waren ja Alle gleich gefährdet.
Seit Tagesanbruch rangen die Menschen verzweiflungsvoll mit dem entfesselten Elemente, und bis gegen Mittag schien es auch, als werde es möglich sein, das Dorf zu halten, aber mit jeder Stunde, wo der Tag sich abwärts neigte, schwand die Hoffnung mehr. Und all die Hunderte, die da in Angst und Hast arbeiteten, daß ihnen der Schweiß von der Stirn rann, hatten nur einen Gedanken, der sich bald in lautem Jammer, bald in dumpfem Grolle Luft machte:
„Hätten wir jetzt die Dämme!“
Diese Schutzdämme, die man mit Haß und Hohn zurückgewiesen hatte, weil es der Felsenecker war, der sie aufführen wollte, sie wären die Rettung des Dorfes gewesen, jetzt schützten sie nur das Gebiet des Schloßherrn allein. Das Schloß freilich stand sicher auf seiner Höhe, aber der Park, die weiten Gärten und die ganzen Werdenfels’schen Besitzungen dort in der Thalsenkung wären verloren gewesen ohne diesen Schutz.
Sie lagen oberhalb des Dorfes und waren dem ersten Anprall der Wogen preisgegeben, dort mußte der Strom zuerst einbrechen. Aber der alte Freiherr hatte nicht umsonst die ganze Ausdehnung des Parkes mit den Mauern umzogen, die mit ihrem Rasen und ihren Gesträuchen so malerisch erschienen, als seien sie nur ein Schmuck der Gärten, jetzt trotzten sie wie eine Festung dem andringenden Feinde. Zischend und schäumend, aber ohnmächtig schlug die Fluth an diese Steinwände; was hinter ihnen lag, das war sicher geborgen.
Hätte das Dorf wenigstens die hohen Erdwälle gehabt, mit denen der Gutsherr es einstweilen vor einer nahen Gefahr schützen wollte! Es wäre nicht allzu schwer gewesen, die schon vorhandenen Dämme zu sichern und zu halten; sie in wenigen Stunden zu schaffen erwies sich als ein Ding der Unmöglichkeit, und dennoch wurde es versucht.
Was nur von Bäumen in der Nähe war, fiel unter der Axt, Steine wurden herbeigerollt, Erde herangeschleppt und aus [431] dem allen ein Schutzwall improvisirt, um wenigstens die am meisten bedrohten Uferstellen zu sichern, aber vergebens. Wie ein nimmersattes Raubthier verschlang die Fluth alles, was ihr wehren sollte, und brüllte nur um so lauter nach ihrem Raub.
Mehr als zwölf Stunden hatten die Dorfbewohner muthig ausgeharrt bei den Rettungsarbeiten, jetzt aber sanken ihnen mit der Hoffnung auch Muth und Kraft und mit der höher steigenden Flut rückte das Verderben immer näher. Nur Einer konnte und wollte noch immer nicht an das Unabwendbare glauben – der Pfarrer.
Er war der Erste am Platze gewesen, als die Gefahr hereinbrach, und wich und wankte nicht von den bedrohten Punkten. Wenn die Kräftigsten erschöpft zusammenbrachen und einander ablösen mußten, schien er allein keine Ermüdung zu kennen, keiner Erholung zu bedürfen. Er setzte seine ganze Autorität ein, um die Leute, die anfangs in kopfloser Angst durcheinander rannten, zur Ordnung und zur planmäßigen Arbeit zu zwingen. Er befahl, ordnete, feuerte an, wo es noth that, und man gehorchte ihm auch, aber es war nicht mehr der alte Gehorsam, nicht mehr die einstige ehrfurchtsvolle Unterordnung unter seinen Willen.
Die Leute waren irre geworden an ihrem Priester. Er hatte es ihnen feierlich zugesagt, das Unglück werde nicht kommen, wenn sie nur vertrauten, und sie glaubten seinen Worten wie dem Evangelium selbst – und nun kam das Unglück doch! Der Felsenecker hatte Recht gehabt, als er sie davor schützen wollte, und der Pfarrer, der das nicht duldete, war schuld an ihrem Verderben.
Vilmut fühlte dies Urtheil, wenn auch kein Wort des Vorwurfs gegen ihn laut wurde. Er las es in den finsteren Blicken, in dem grollenden Schweigen der Männer, er hörte es in den lauten Jammerrufen, mit denen man die schützenden Dämme herbeiwünschte und die eigene Verblendung beklagte, und er wußte doch am besten, daß die ganze Gemeinde nur ein willenloses Werkzeug in seiner Hand gewesen war.
„Wo Menschenarme den Elementen wehren können, da heißt es Gott herausfordern, wenn man diese Arme zurückhält, und das hast Du gethan!“
Diese Worte, die Anna ihm einst zugerufen, hallten jetzt fort und fort in Gregor’s Seele wider. Er stand fest und aufrecht wie sonst und zeigte die gewohnte Selbstbeherrschung, aber die Todtenblässe seiner Züge, die erloschene klanglose Stimme verriethen, wie es in seinem Inneren aussah.
Er hatte Wind gesäet, er erntete jetzt Sturm, und die Hunderte, deren Wohl und Wehe er vermessen auf sich genommen, aus Haß gegen einen Einzigen, sie forderten jetzt ihre Rettung von ihm.
Der Priester wagte es nicht mehr, sie auf den Schutz des Himmels zu verweisen, wie es sein Amt gebot, denn er wagte selbst nicht mehr, diesem Schutze zu vertrauen – er fühlte das nahende Strafgericht.
In der allgemeinen Aufregung war das Erscheinen des jungen Baron Werdenfels kaum bemerkt worden, und er fand auch keine Gelegenheit mehr zum Eingreifen. Er nahm nur eine kurze Rücksprache mit dem Gemeindevorsteher, der zaghaft fragte, ob im schlimmsten Falle die obdachlos Gewordenen eine Zuflucht im Schlosse finden würden. Paul sagte das im Namen seines Onkels zu und sandte sofort einen Boten hinauf zu Raimund, er selbst aber blieb und sah mit beklommenem Herzen den letzten ohnmächtigen Anstrengungen zu, mit denen Werdenfels um seine Existenz rang.
„Es geht nicht länger!“ sagte Rainer, indem er die Arme sinken ließ. „Wir zwingen es nicht. Laßt uns wenigstens das Vieh retten und was wir sonst fortbringen können, so lange die Häuser noch stehen. Kommt!“
Er warf die Schaufel hin, mit der er bisher gearbeitet hatte, und wandte sich zum Gehen, aber Vilmut vertrat ihm den Weg.
„Bleibt!“ rief er halb befehlend, halb bittend und mit fliegendem Athem. „Wir dürfen nicht weichen, dürfen das Dorf nicht preisgeben! Verliert den Muth nicht, dann wird und muß die Rettung noch möglich sein.“
Rainer lachte bitter auf.
„Da müßt’ ein Wunder geschehen. Und wenn wir darauf warten wollen, gehen wir vollends zu Grund. – Da geht der Wall hin, an dem wir so lange gebaut haben, nichts hält mehr!“
Er hatte Recht, soeben wich das Erdreich an der bedrohten Uferstelle und riß die Schutzwehr, die man mühsam geschaffen, mit sich in die Tiefe. Polternd stürzten die Baumstämme zusammen, und die Fluth trieb ihr Spiel mit den schweren Feldsteinen, als seien es leichte Kiesel.
Vilmut ergriff die Schaufel, die der Bauer von sich geworfen hatte, und gab selbst das Beispiel zur Fortsetzung der Arbeit.
„Schließt den Bruch!“ rief er wie außer sich. „Haltet aus, um Gotteswillen! Wenn das Wasser hier hereinbricht, ist das Dorf verloren!“
„Nun Hochwürden, Sie verlieren ja nichts dabei!“ sagte Rainer mit herbem Vorwurf. „Ihr Pfarrhaus wird wieder aufgebaut von der Regierung oder von dem Felsenecker, denn einen Pfarrer muß er ja doch in Werdenfels haben. Aber unsere Häuser, die wird er nicht wieder aufrichten, wir müssen uns selbst helfen. Hätten wir es nur damals gethan, als er uns die Dämme bauen wollte, aber da trauten wir Ihnen – und jetzt müssen wir es büßen!“
Es war der erste Vorwurf, der sich gegen den Pfarrer erhob, aber es bedurfte nur dieses ersten Wortes, um all den Groll zu entfesseln, der schon seit Stunden in den verzweifelten Menschen wüthete. Klagen, Vorwürfe, selbst vereinzelte Drohungen wurden laut: das Unglück löste die Bande des Gehorsams, der langgewohnten Ehrfurcht, im Angesichte der Gefahr lernten die Leute urtheilen, sie forderten zum ersten Male Rechenschaft von ihrem Priester, dem sie bisher blindlings vertraut hatten.
Vilmut machte noch einen letzten Versuch, die Männer zum Bleiben und Ausharren zu bewegen. Seine ganze Energie flammte wieder empor, als er sich den Weichenden in den Weg warf und abwechselnd befahl und beschwor, aber vergebens. Seine Stimme und seine Worte, die sonst das Orakel des Dorfes waren, verhallten jetzt ungehört. Die Leute folgten sämmtlich dem Beispiele Rainer’s, sie warfen die Werkzeuge hin und stürzten fort, um wenigstens einen Theil ihrer Habe noch zu retten.
Gregor blieb allein zurück. Er sah das hereinbrechende Verderben, er hörte die Rufe der fliehenden Menge, die ihn als ihren Verderber anklagte. Zu seinen Füßen zischte die Fluth, sie züngelte immer weiter hinein in das geborstene Ufer und riß Scholle auf Scholle von dem wankenden Boden, es wehrte ihr ja Niemand mehr. Und dabei stürmten fort und fort die Glocken und alle Dörfer in der Runde gaben das Nothzeichen schauerlich zurück.
Da endlich versagte die eiserne Kraft des Mannes, die ihn bisher aufrecht erhalten hatte. Er sank auf die Kniee nieder und streckte die krampfhaft gefalteten Hände zum Himmel empor und wie ein Aufschrei der Todesangst brach es aus seiner Brust hervor:
„Gott im Himmel, laß es die Unglücklichen nicht büßen, was ich verschuldete! Nimm mein Leben, wirf mich der Fluth zum Opfer hin, aber rette das Dorf, rette die Menschen, ich ertrage es nicht, sie vor meinen Augen verderben zu sehen. Thue ein Wunder und sende uns einen Retter, einen Helfer in unserer Noth!“
Aber nur der Regen strömte nieder von dem schwer bewölkten Himmel, nur das Toben des Stromes gab die Antwort auf das Gebet der Verzweiflung, und dazwischen tönten die Angstrufe und der Jammer der Flüchtenden, die schon auf dem Wege zum Dorfe waren.
Da auf einmal verstummten jene Rufe, die Flucht stockte plötzlich, die wildbewegte Menge stand wie festgebannt, sie erkannte den Freiherrn von Werdenfels, der ihr am Eingange des Dorfes entgegentrat, und an seiner Seite Frau von Hertenstein.
Raimund’s Erscheinung wirkte selbst in diesem Augenblicke, wo alle Bande der Ordnung sich lösten, ja vielleicht wirkte sie gerade deshalb am meisten. Da stand der Felsenecker, der das Dorf hatte retten wollen, und dem man dafür mit dem Sturze gelohnt hatte, dessen Mal er noch auf der Stirn trug. Kam er, um sich zu weiden an dem Unglück? War es vielleicht seine Rache, die es heraufbeschworen hatte, oder – kam er, um zu retten? Einen Moment lang verharrte Alles in athemlosem Schweigen.
„Zurück!“ rief der Freiherr mit jener vollen, mächtigen Stimme, die man nur zu gut von der letzten Begegnung her kannte. [432] „Was wollt Ihr hier im Dorfe? Dort am Ufer ist die Gefahr, dort ist unser Platz!“
„Das Ufer bricht!“ tönte es von allen Seiten. „Das Wasser kommt! Es steigt immer höher!“
„So muß ihm ein Ausweg geschafft werden! Haltet an mit der unsinnigen Flucht und folgt mir! Noch giebt es ein Mittel zur Rettung, ich werde es Euch zeigen!“
Rettung! Das Wort fuhr wie ein elektrischer Schlag durch die Menge. Hatte dieser Werdenfels denn wirklich übernatürliche Macht, daß er Rettung verhieß, wo Alles schon verloren war? Gleichviel, er war da und wollte helfen, also mußte er es auch wohl können.
Keinem Anderen wäre es gelungen, die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen zum Stehen und zur Besonnenheit zu bringen, aber der Aberglaube, der sich oft drohend gegen den Freiherrn gerichtet hatte, wurde jetzt sein mächtigster Bundesgenosse, ihm glaubte man, und folglich gehorchte man auch.
Es blieb kein Einziger zurück, als er jetzt mit Anna nach dem Ufer schritt.
Paul hatte sich sofort seinem Onkel angeschlossen, ebenso der Verwalter Feldberg, der sich gleichfalls hier befand. Sie gelangten zu der Stelle, wo noch vor wenigen Minuten so fieberhaft und so vergeblich gearbeitet worden war, und plötzlich standen sich Werdenfels und Gregor Vilmut gegenüber.
Einige Secunden lang blickten sich die Beiden schweigend an. Der harte Vorwurf auf Raimund’s Lippen erstarb, als er seinem Gegner in das Auge sah, denn er las die Todesqual darin. Dieser Tag hatte ihn gerächt an seinem unerbittlichen Richter, und ohne ein Wort der Anklage wandte er sich ab und trat an das Ufer.
Auch Anna hatte ihren Vetter nicht wieder gesehen seit jener Stunde, wo sie nach Werdenfels eilte. Sie stand jetzt an seiner Seite, und sich zu ihm neigend, sagte sie leise:
„Fasse Muth, Gregor! Raimund wird helfen!“
Vilmut sah sie nicht an, sein starrer Blick war einzig auf die wachsende Fluth gerichtet, während er dumpf, mit halb gebrochener Stimme erwiderte:
„Kann er ein Wunder thun?“
„Es giebt Wunder, die auch Menschen vollbringen können, wenn ihnen eine Erleuchtung von oben kommt!“ sagte die junge Frau ernst. „Sieh die Männer dort – sie glauben alle an ihn!“
Vilmut ließ einen langen düsteren Blick über die Menge hingleiten, die den Freiherrn umdrängte. Aller Augen hingen an seinem Antlitz, an seinen Lippen, Alle harrten in angstvoller Erwartung, was er beginnen werde. Der Gebannte, Geächtete, er war jetzt der einzige Hort, auf den man noch vertraute, und der einst so allmächtige Priester stand allein, verlassen, gemieden. Das Loos, das er so lange seinem Feinde bereitet hatte, fiel jetzt auf ihn.
Raimund hatte jahrelang in der Einsamkeit des Hochgebirges gelebt, er kannte dies Steigen der Wildwasser im Frühlinge und wußte ihren Lauf zu deuten. Seine Stirn ward immer finsterer, als er die Gefahr abschätzte und die Möglichkeiten erwog, denn seine Erfahrung sagte ihm, daß der Strom, der schon weit über seine Ufer fluthete, in höchstens einer halben Stunde das Dorf erreichen mußte. Noch einen Blick warf er hinüber nach den hochragenden Baumwipfeln seiner Gärten, dann richtete er sich entschlossen auf und deutete nach dem Parke hinüber.
„Reißt die Mauern dort ein!“
Niemand antwortete und Niemand regte sich, um zu gehorchen. Die Leute verstanden im ersten Augenblicke gar nicht den Befehl, nur Vilmut allein begriff, und in seinen Zügen stritten Unglaube und aufflammende Hoffnung, als er rief:
„Herr von Werdenfels, was wollen Sie thun?“
„Dem Wasser einen Weg schaffen, damit es vom Dorfe abgelenkt wird. Es giebt kein anderes Mittel.“
„Raimund, um Gotteswillen, bedenke die Folgen!“ rief Paul, der neben ihm stand. „Es handelt sich nicht um die Gärten allein. Deine sämmtlichen Besitzungen, die dort in der Thalniederung liegen –“
„Sind verloren – ich weiß es! Reißt die Mauern ein!“
Der Befehl wurde mit voller Energie wiederholt, und jetzt endlich fingen auch die Bauern an zu begreifen, welches Opfer ihnen gebracht wurde, jetzt sahen auch sie den Weg zur Rettung. In einem Nu waren die noch am Boden liegenden Werkzeuge aufgerafft und Alle wollten sich gegen die Mauern stürzen, als die Stimme des Freiherrn sie zurückhielt:
„Halt! Erst ordnet Euch, damit Ihr einander nicht hindert. Rainer, Ihr führt die Hälfte der Leute nach dem Park und greift von innen den Wall an, gerade in der Mitte, dort, wo die hohe Tanne aufragt; Ihr Anderen beginnt hier draußen die Arbeit, ich werde sie selbst leiten! Feldberg, benachrichtigen Sie den Gärtner! Er soll mit seiner Familie sofort nach dem Schlosse flüchten, sein Haus ist das einzige Gebäude dort, das nicht auf der Höhe liegt. Paul, Du eilst nach dem Schlosse und läßt aus unseren Jagdvorräthen Pulver herbeischaffen! Ich fürchte, die Werkzeuge werden nicht genügen, wir werden sprengen müssen. – Und nun an die Arbeit, denn es thut Eile Noth!“
Es bedurfte der Ermuthigung nicht; die kurze, klare Art des Befehlens, die nichts übersah und nichts vergaß, imponirte den Leuten ungemein, sie gehorchten augenblicklich. Selbst der wilde Rainer fügte sich unbedingt der Autorität des Mannes, den er beinahe gemordet hatte. Er verschwand schleunigst mit seiner Schaar hinter den Parkthoren, und während Paul und Feldberg nach dem Schlosse eilten, ordnete Werdenfels die Zurückgebliebenen.
Es war nicht möglich, den Mauern von außen beizukommen, denn das Wasser warf sich bereits dagegen, man mußte sie von den beiden Endpunkten her ersteigen, und nun begann eine wahre Ameisenarbeit an den hohen und breiten Wällen. Mit Hacken, Spaten, Schaufeln, mit allen Werkzeugen, die nur zur Hand waren, wurden sie angegriffen, Schlag auf Schlag dröhnte gegen die Steinwand und hunderte von kräftigen Armen arbeiteten an ihrer Zerstörung.
Aber die Mauern, die geschaffen waren, dem entfesselten Bergstrom Widerstand zu leisten, ergaben sich nicht so leicht den Menschenarmen. Die mächtigen Quadern, die seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Erdreich und den Baumwurzeln verwachsen waren, schienen eisenfest zusammengekittet, sie waren nicht zum Weichen zu bringen. Jeder Stein mußte einzeln losgerissen werden, aber das ging so langsam, so unendlich langsam, und das Wasser stieg reißend schnell.
[449] Gregor Vilmut stand noch am Ufer, wo er vorhin gestanden, obgleich die Fluth immer näher herandrängte. Es war das Furchtbarste, was dem energischen Manne auferlegt werden konnte, hier thatenlos zu verharren, während dort seine ganze Gemeinde um ihre Rettung kämpfte. Seiner Hülfe bedurfte man nicht, es waren Arme genug vorhanden, und das Commando hatte jetzt Raimund von Werdenfels, der dort oben auf der Mauer stand, dicht über dem tobenden Strome, und seine Befehle nach allen Richtungen hin gab. Seine Stimme hallte laut durch all das Brausen und Donnern, sein Auge war überall, und die Leute folgten mit einem leidenschaftlichen Eifer, als ob von diesem Blicke und dieser Stimme ihr ganzes Heil abhinge.
Vilmut war Zeuge davon, und er sah auch das Antlitz der jungen Frau, die nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Anna war auf die ausdrückliche Bitte des Freiherrn hier zurückgeblieben, aber ihr Auge hing doch nur an ihm allein. Mitten in dem herandrohenden Verderben sah sie nur ihren Raimund, der in dem Schiffbruche so energisch das Steuer ergriffen hatte und es wie ein Held und Retter führte, und ihr Antlitz leuchtete wie verklärt von Stolz und Glück. Es war ja ihre Stimme gewesen, die den Träumer wach gerufen hatte, er zeigte es jetzt im Sturm, daß er ein Mann zu sein verstand, und wie ein Mann sühnte er seine Schuld – mit Thaten!
Endlich kam Paul mit Feldberg zurück vom Schlosse; sie brachten den Pulvervorrath, und man bedurfte dieses letzten Mittels. Noch war nicht ein Drittel der Arbeit gethan, und die Gefahr war bereits auf das Höchste gestiegen. Werdenfels ließ schnell die nöthigen Vorbereitungen treffen, und dann zog sich auf seinen Befehl Alles zurück nach der Dorfseite. Als der Letzte außer dem Bereich der Gefahr war, gab er das Zeichen.
Krachend flog die Mine in die Luft, der Boden ringsum bebte und zitterte und Erde, Steine und Rasen wurden nach allen Richtungen hin geschleudert. Die Quadern barsten mitten von einander, ein Theil der Mauer stürzte ein, und ein breiter Spalt klaffte in dem nun endlich bezwungenen Wall.
Die Bauern umgaben in angstvoller Erwartung den Freiherrn. Er stand neben Anna, die an seine Seite geeilt war, als er den Wall verließ, und Beide blickten hinüber nach der nun preisgegebenen Niederung, die dort im Regenschleier lag.
„Jetzt ist der Weg offen!“ sagte Raimund leise. „Es war die höchste Zeit – das Wasser kommt!“
Das Wasser kam in der That, es säumte nicht, den ihm hingeworfenen Raub zu verschlingen. Schon brandeten die Wogen um das aufgewühlte Erdreich, schon züngelten sie gierig nach dem offenen Spalt hin. Jetzt hatten sie den Weg gefunden, und mit donnerähnlichem Getöse stürzte der ganze Schwall hinab in den tiefgelegenen Park. Was von den wankenden Mauern noch stand, das erlag diesem Ansturm, sie wurden zerrissen, niedergeworfen, fortgetragen, die Lücke gähnte in entsetzlicher Weite und durch das geöffnete Thor nahm die Zerstörung ihren Lauf.
Die hohen Baumwipfel begannen wie im Sturmwinde zu schwanken, schon sanken einige von ihnen, die anderen im Sturze mit sich reißend, man hörte das Krachen und Brechen der Stämme. In wenigen Minuten waren die prachtvollen Gärten, die drei Generationen mit einem Aufwande von Hunderttausenden geschaffen und gepflegt hatten, in einen wogenden See verwandelt, in dessen Fluthen all die herrlichen Anlagen, Fontainen und Statuen begraben lagen, nichts entging der Vernichtung!
An dem Schloßberge vorbei stürzte das Wasser in die Niederung, wo das Hauptgebiet von Werdenfels lag, die reichsten Besitzungen des Freiherrn. Dort wehrte keine Mauer, da von dieser Seite keine Gefahr drohte. Immer neue Wassermassen stürzten nach und immer weiter dehnte sich der wilde See aus, bis er drüben an dem Höhenzuge, hinter dem Buchdorf lag, eine Grenze fand. Die Felder und Wiesen versanken rettungslos in der dunklen Fluth, die all ihren Segen in Schlamm und Steinen begrub und sie auf Jahre hinaus unfruchtbar machte – das Opfer mußte in seiner ganzen Größe gebracht werden.
Aber es wurde nicht umsonst gebracht. All die Fluthen, die das Gebirg niedersandte, wälzten sich jetzt durch den Park der Niederung zu, im unteren Laufe des Stromes aber begann das Wasser zu sinken. Die Macht der anstürmenden Wogen war zertheilt, gebrochen, sie wichen langsam zurück von dem schwer bedrohten Dorfe – Werdenfels war gerettet!
In fieberhafter Aufregung, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, hatte die Menge der Entscheidung geharrt, jetzt aber, wo die Rettung ihrer Heimath entschieden war, wandten sich alle Blicke auf den Freiherrn. Auch er war bleich vor innerer Aufregung, aber er stand fest und ruhig da und sah zu, wie die Zerstörung, die er selbst entfesselt hatte, sich über seine Besitzungen ergoß. Und als erst einzelne Stimmen, dann immer mehrere jubelnd verkündeten, daß das Wasser dort unten sinke, daß die Gefahr vorüber sei, da leuchtete es sonnenhell auf in Raimund’s dunklen Augen, und mit dem tiefen Athemzuge, der sich aus seiner Brust hervorrang, sank auch die schwere Last von ihm, die er jahrelang getragen. –
[450] Es schien in der That, als ob das Unheil durch dies Opfer versöhnt worden sei. Schon während des Arbeitens an der Mauer hatte der Regen nachgelassen, und jetzt plötzlich sprang der Wind um, der seit drei Tagen und Nächten unaufhörlich die schweren Regenwolken herantrieb. Dort hinter den Bergen erschien der erste Lichtblick an dem düsteren Himmel.
Unter den Bauern begann jetzt ein Winken und Flüstern. Sie wollten offenbar ihrem Gutsherrn danken und schämten sich, dem Manne gegenüber, den sie so lange als ihren ärgsten Feind behandelt hatten. Der Gemeindevorsteher, welcher noch am besten mit dem Worte Bescheid wußte, wurde von allen Seiten vorwärts geschoben und mit freundschaftlichen Stößen zum Reden ermuntert.
Ehe es aber noch dazu kam, schritt Gregor Vilmut vom Ufer her langsam auf den Freiherrn zu, es schien, als wolle er sprechen.
Da kam vom Dorfe her ein alter Mann, keuchend und athemlos. Die grauen vom Regen durchnäßten Haare hingen ihm wirr über das Gesicht, das den Ausdruck der vollsten Verzweiflung trug. Es war Eckfried, der in den letzten Tagen krank gelegen hatte. Als die Nachbarn ihm zuriefen, er solle fliehen, das Wasser dringe in das Dorf, hatte er sich mühsam aufgerafft und in das Freie geschleppt, wo die Frauen und Kinder bereits nach dem Schloßberg flüchteten.
Da auf einmal hieß es, der Felsenecker sei dort an der bedrohten Stelle und habe versprochen, das Dorf zu retten. Wie und auf welche Weise, das wußte Niemand, aber man sah und hörte es, wie an der Mauer gearbeitet wurde, und wie sie schließlich in die Luft flog.
Gleich darauf erschien Feldberg und rief den Flüchtenden zu, sie sollten umkehren, der Freiherr habe das Wasser in seine Gärten abgelenkt, es stürze mit voller Gewalt der Niederung zu und das Dorf sei gesichert.
Da hatte der alte Mann einen markerschütternden Schrei ausgestoßen, und ohne Jemand Rede zu stehen, ohne sich halten zu lassen, war er davon gekeucht. Bei jedem Schritte schien er zusammensinken zu wollen, aber die Todesangst trieb ihn vorwärts, bis er die vor dem Dorfe versammelte Menge erreichte. Erst hier verließ ihn die Kraft, und gerade vor dem Pfarrer brach er zusammen.
„Mein Toni!“ schrie er. „Die Fischer am Grundsee! Sie werden ertrinken – und der Toni mit!“
Vilmut zuckte zusammen, und auch Werdenfels und die Andern standen wie vom Blitze getroffen.
In der Aufregung hatte Niemand daran gedacht, daß dort an dem einsamen Grundsee das kleine Fischerhaus lag, das einzige in der ganzen Niederung; es mußte auf’s Aeußerste von der Fluth bedroht sein.
„Mein Bub’, mein armer Bub’!“ wiederholte Eckfried, dessen Gedanken sich nur um diesen einen Punkt drehten. „Sie haben ihn mir genommen, Hochwürden, Sie haben ihn hingebracht, und jetzt muß er umkommen, elendiglich verderben in dem Wildwasser! Geben Sie mir meinen Toni wieder!“
Auf dem Gesichte Vilmut’s lag eine geisterhafte Blässe, und er preßte die Hand gegen die Stirn, auf welcher kalte Schweißtropfen standen. Stumm, keines Wortes mächtig, blickte er auf den alten Mann nieder, der das Leben seines Enkels von ihm forderte – die furchtbaren Lehren dieses Tages wollten nicht enden.
„Nicht so verzweifelt, Eckfried!“ sagte der Freiherr, welcher sich zuerst wieder faßte. „Es wird ja Hülfe möglich sein, wenn sie überhaupt nothwendig ist. Der Fischer hat ja im schlimmsten Falle sein Boot und wird sich mit den Seinen darin gerettet haben.“
„Wenn es noch Zeit gewesen ist,“ warf Paul ein. „Das Wasser ging wie ein Sturmwind hinab in die Tiefe und die Leute ahnten nichts von der Gefahr.“
Jetzt richtete sich auch Gregor auf, die Betäubung des Schreckens wich, und seine alte Energie kehrte zurück. Seine Stimme war völlig klanglos, aber fest, als er sich an den Freiherrn wandte:
„Wir müssen uns Gewißheit verschaffen! Vom Schloßberg aus übersieht man die ganze Niederung, und das Boot steuert jedenfalls hierher oder nach der Buchdorfer Höhe.“
„Ganz recht!“ stimmte Raimund bei. „Es blieb ja keine Wahl, wenn das Dorf gerettet werden sollte, die Mauer mußte fallen, aber das Opfer von drei Menschenleben wäre doch ein furchtbarer Preis! Bleibt zurück, Eckfried, und erholt Euch. Es wird alles nur Mögliche geschehen!“
Er eilte fort mit Vilmut und Paul, der sich ihnen anschloß, auch der größte Theil der Dorfbewohner folgte.
Anna war bei Eckfried zurückgeblieben und versuchte ihn zu beruhigen, aber vergebens. Der Alte ließ sich nicht zurückhalten, er wollte selbst sehen und hören, was geschah, man mußte ihm den Willen thun. Von mitleidigen Händen geführt und gestützt, gelangte auch er endlich auf den Schloßberg.
Der Anblick, der sich von dort aus bot, war nun freilich trostlos. Die ganze Niederung stand bereits unter Wasser, das mit jeder Minute stieg, denn durch den Park stürzte noch immer die Fluth, wenn auch nicht mehr mit der alten Wildheit, und sie nahm ihren Weg gerade nach dem kleinen Grundsee.
Man unterschied trotz der Entfernung und des Nebels das Fischerhaus am Strande, aber es war bereits ringsum von Wasser umgeben, das längst durch die Thür und die niedrigen Fenster eingedrungen sein mußte. Ueber das Schicksal der Bewohner ließ sich augenblicklich noch nichts feststellen, man bemerkte nirgends ein Boot auf der öden Fläche.
Nur etwa ein Drittel der Dorfbewohner war zurückgeblieben, um bei einer etwaigen Rückkehr der Gefahr bereit zu sein, der größte Theil befand sich hier oben, ebenso wie die gesammte Dienerschaft des Freiherrn, und Alles sprach und lief in vollster Aufregung durch einander. Paul stand neben den beiden Damen, denn auch Lily war jetzt herbeigeeilt und bemühte sich, ihnen die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit klar zu machen, daß die Fischer sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätten. Lily glaubte ihm auch unbedingt, Anna dagegen erwiderte keine Silbe auf seine Trostgründe. Ihr Auge hing nur an Raimund, der mit Vilmut auf dem äußersten Vorsprunge stand.
„Die Fluth muß sie überrascht haben,“ sagte Werdenfels, indem er angestrengt durch das Fernglas blickte, das man aus dem Schlosse herbeigeschafft hatte. „Sie haben offenbar nicht mehr Zeit gehabt, das Boot loszumachen, und scheinen auf das Dach des Hauses geflüchtet zu sein. Ich sehe dort etwas, aber deutlich läßt es sich jetzt nicht erkennen bei der trüben, nebeligen Luft.“
Er reichte das Glas dem Pfarrer, der es gleichfalls nach dem See richtete. Die beiden Männer, welche bis zu dieser Stunde Feinde gewesen waren, sie standen jetzt neben einander und tauschten ihre Beobachtungen aus, als ob das selbstverständlich wäre.
„Die Leute sind auf dem Dache,“ sagte Vilmut nach einer Pause mit Bestimmtheit. „Sie geben Nothzeichen – und da treibt auch das Boot hin – es wird aber nicht zu erreichen sein.“
Er wies auf einen dunklen Gegenstand in der Ferne, der, mit bloßem Auge gesehen, einem treibenden Baumstamme glich. Es war in der That das kleine Fischerboot, das die Wellen gleich in den ersten Minuten losgerissen hatten, aber die Strömung hatte es bereits weit weg geführt, nach der entgegengesetzten Richtung, und doch war es das einzige Werkzeug zur Rettung. Wo sollte man sonst ein Fahrzeug hernehmen in dem Gebirgsdorfe, dessen wilder Felsenstrom auch nicht den leichtesten Nachen trug!
„Da[WS 1] bleibt nur Eins!“ sagte Rainer. „Wir zimmern ein Floß; wenn Alle Hand anlegen, kann es bald fertig sein, und mit Tagesanbruch steuern wir hinüber. So lange müssen sie aushalten.“
„So lange halten sie nicht aus,“ erklärte Vilmut. „Ich kenne das Haus, in wenigen Stunden hat die Fluth die morschen Wände eingedrückt, und noch vor Einbruch der Nacht stürzt es zusammen. Jetzt, auf der Stelle muß die Hülfe gebracht werden, wenn sie nicht zu spät kommen soll. Wir müssen hinüber, gleichviel auf welche Weise!“
„Halt!“ rief Werdenfels, von einem rettenden Gedanken durchblitzt. „Auf dem Schloßteiche liegt ja stets ein kleines Boot, das im Winter losgemacht und vor der Witterung geborgen wird. Feldberg, wo ist das Boot?“
„Ich weiß nicht – vermuthlich irgendwo in der Meierei,“ sagte der Verwalter ungewiß.
[451] „So sehen Sie nach und lassen Sie es augenblicklich hierher bringen. Eilen Sie!“
Feldberg eilte davon, nach der Meierei, die, gleichfalls auf der Höhe gelegen, von der Fluth unberührt geblieben war, aber Rainer meinte bedenklich:
„Das wird nichts nützen, solange das Wasser noch so wild ist. Schauen Sie nur, wie das reißt und strudelt! Ich möchte Den sehen, welcher sich da hinauswagt, er kommt nicht lebendig zurück.“
Werdenfels erwiderte nichts, aber sein Blick begegnete wie unwillkürlich dem des Pfarrers. Es war eine stumme Frage und eine ebenso stumme Antwort, aber die beiden Männer verstanden sich. Der Freiherr wandte sich ab und sagte ruhig:
„Das wird sich finden, wenn nur erst das Boot da ist.“
Aber auch Anna hatte jenen Blick gesehen und verstanden. Als Raimund gleich darauf zu ihr trat, ergriff sie mit krampfhafter Heftigkeit seinen Arm und zog ihn bei Seite.
„Was willst Du thun?“ fragte sie athemlos und gepreßt.
„Anna, höre mich!“ begann er, aber diesen angstvoll flehenden Augen gegenüber hielt sein Entschluß nicht Stand, er verstummte mitten in der Rede.
„Was willst Du thun?“ wiederholte die junge Frau dringender. „Dich in die Todesgefahr werfen und mich der Todesangst preisgeben? Hast Du nicht schon genug Opfer gebracht? Da stehen mehr als hundert, die Du gerettet hast, laß sie die Hülfe bringen.“
„Von Denen wagt es kein Einziger, außer vielleicht –“
„Gregor! Ich weiß es, ich sah es an seinem Auge. So laß ihn allein die Rettung versuchen; er hat zu sühnen, und er wird es thun.“
„Habe ich nicht zu sühnen?“ fragte Raimund so leise, daß nur sie allein ihn verstehen konnte. „Denke an jene Stunde in Felseneck, wo ich Dir die Vergangenheit enthüllte. Eckfried’s Hof wurde das erste Opfer der Flammen und sein einziger Sohn wurde todt aus den Trümmern hervorgezogen. Jetzt ist sein Enkel dort drüben, das Einzige, was der alte Mann noch besitzt, das Einzige, woran er hängt, und ich bin ihm ein Leben schuldig. Laß mich auch den letzten Schatten bannen, der noch aus der Vergangenheit herüberdroht! Du weißt es, ich bin damals in Venedig oft genug allein vom Lido hinausgefahren in die hochgehende See und bin vertraut mit dem Steuer und mit den Wellen.“
„Die See war nicht so gefährlich wie diese reißende Strömung und die Trümmer, die sie mit sich führt. Soll ich Dich darin begraben sehen? Bleibe zurück, Raimund! Du wirst nicht gehen, wenn ich Dich bitte, wenn ich Dich anflehe, zu bleiben.“
„Wenn Du es verlangst, bleibe ich, aber meine Anna wird das nicht von mir fordern.“
„Doch, ich fordere es!“ sagte die junge Frau mit verzweiflungsvoller Energie. „Ich habe auch ein Recht auf Dein Leben, es gehört jetzt mir, und ich will es nicht verlieren.“
Die Rückkehr Feldberg’s unterbrach das Gespräch, er meldete, daß das Boot in einem Schuppen der Meierei gefunden sei, und gleich darauf wurde es auch zur Stelle gebracht. Es war ein kleines, zierliches Fahrzeug, nur dazu bestimmt, auf dem stillen, sicheren Schloßteiche umherzurudern, und wenig geeignet für eine gefahrvolle und ernste Fahrt.
„Das geht nun und nimmermehr!“ sagte Paul. „Das gebrechliche Ding hält ja den Wellen nicht Stand, der erste Baumstamm, der dagegen anprallt, bohrt es in den Grund. Gieb den Gedanken auf, Raimund! Es wäre eine Tollkühnheit, sich mit diesem Fahrzeug hinauszuwagen, und es ist eine Unmöglichkeit, damit zurückzukehren.“
Die Bauern, die sich um das Boot drängten, waren einstimmig der Meinung des jungen Baron. Es blieb nichts anderes übrig, man mußte auf das Floß zurückkommen und bis zum nächsten Morgen warten. Vielleicht stand dann das Fischerhaus noch, einstweilen mochte der Himmel den Bewohnern gnädig sein.
Da machte sich Eckfried mit wankenden Schritten Bahn durch die Menge.
„Wenn es Keiner wagt, ich thu es!“ brachte er mühsam hervor. „Laßt mich hinüber, ich will’s versuchen!“
„Bist Du denn toll, Alter?“ rief Rainer in seiner derben Weise, indem er ihn zurückzog. „Kannst Dich kaum auf den Füßen halten, kannst kein Ruder heben und willst ein Boot führen! Dazu gehören andere Kräfte.“
Eckfried hielt sich in der That kaum aufrecht. Er fühlte selbst seine Ohnmacht, und die Kraft, die ihm die Verzweiflung gegeben, erlosch so schnell, als sie aufflackerte. Mit gerungenen Händen blickte er hülfesuchend im Kreise umher, aber Niemand gab ihm Trost.
Vilmut war zuerst an das Boot getreten und hatte es schweigend, aber sorgfältig untersucht, jetzt war er damit zu Ende und sich aufrichtend, sagte er in dem alten befehlenden Tone:
„Weiß Einer von Euch das Steuer zu führen? Die Ruder nehme ich auf mich.“
„Sie, Hochwürden?“ rief Rainer zurückprallend. „Sie wollten selbst – nein, das geht nimmer!“
„Es muß gehen!“ war die kalte, entschlossene Antwort. „Ich habe als Knabe bisweilen das Ruder geführt und etwas wird wohl davon noch übrig geblieben sein. Aber um das Steuer handelt es sich. Ist Niemand unter Euch, der das auf sich nehmen kann und will?“
Allgemeines Schweigen folgte der wiederholten Frage. Die Gebirgsbewohner wußten mit dem Stutzen umzugehen, ein Boot zu lenken hatten sie nicht gelernt. Sie blickten mit einem förmlichen Entsetzen auf ihren Pfarrer, der sich auf das tückische Element wagen wollte, das ihnen eben noch Verderben gedroht hatte, aber kein Einziger machte Miene, seinem Beispiel zu folgen.
„Du siehst, Anna, es findet sich Niemand!“ sagte der Freiherr halblaut. „Hältst Du mich noch zurück?“
„Um Gotteswillen, was hast Du vor?“ fiel Paul ein, der die Worte gehört hatte. „Du willst Dich doch nicht etwa selbst hinauswagen? Dulden Sie das nicht, gnädige Frau, halten Sie ihn zurück. Er ist ja kaum genesen!“
Anna gab keine Antwort. Sie hatte Raimund vorhin selbst zur Rettung angetrieben, aber jetzt hielt sie mit beiden Händen seinen Arm umfaßt und wollte ihn nicht von sich lassen. Sie hatte ja nicht geglaubt, daß es sich hier für ihn um Leben und Tod handeln werde.
„Ich gebe es nicht zu,“ fuhr Paul fort. „Eher steige ich selbst in das Boot und versuche –“
Weiter kam er nicht, denn Lily schrie laut auf vor Entsetzen und ihn umklammernd, versicherte sie hoch und theuer, sie werde vor Angst sterben, wenn er sie jetzt verlasse.
„Du bleibst, Paul,“ sagte Werdenfels mit ruhiger Bestimmtheit. „Sieh auf Deine Braut, Du hast vor Allem an sie zu denken!“
„Und Du?“ fragte der junge Mann vorwurfsvoll. „Bist Du nicht in dem gleichen Falle?“
„Ich?“ In Raimund’s Augen erschien wieder jenes sonnige, blitzähnliche Leuchten. „Ich will mir meine Braut und mein Glück mit dieser Fahrt verdienen! Anna – forderst Du wirklich, daß ich bleibe?“
Der Blick der jungen Frau irrte über die schäumende Wasserfläche und schweifte dann hinüber nach jener Stelle, wo drei Menschen in Todesangst auf Rettung harrten; langsam, wie einer höheren Gewalt weichend, gab sie Raimund’s Arm frei und mit bebenden Lippen flüsterte sie:
„Geh – Gott wird ja barmherzig sein!“
„Dank!“ sagte Werdenfels leise und innig und trat dann rasch in den Kreis der Bauern.
„Schafft das Boot hinunter in das Wasser!“ befahl er. „Ich werde das Steuer führen.“
Einen Augenblick lang standen die Leute in sprachloser Ueberraschung, dann erfolgte allgemeiner stürmischer Protest. Sie wollten weder ihren Gutsherrn noch ihren Pfarrer in die Gefahr hinauslassen, und von allen Seiten wurden Bitten und Warnungen laut, aber Vilmut schnitt ihnen das Wort ab:
„Wir haben keine Minute zu verlieren. Schafft das Boot hinunter! Wenn Sie bereit sind, Herr von Werdenfels – ich bin es auch.“
Die Leute sahen ein, daß jeder fernere Widerstand vergeblich war. Zwölf kräftige Arme ergriffen das Boot, und in wenigen Minuten lag es auf dem Wasser. Vilmut war im Begriff, seinen Platz einzunehmen, da im letzten Augenblick trat Rainer vor.
„Nehmen Sie mich mit, Hochwürden!“ sagte er kurz entschlossen. „Ich hab’ ein Paar tüchtige Arme und die können Sie brauchen. Sie und der Freiherr zwingen es nicht allein.“
[452] „So kommt!“ versetzte Vilmut ebenso kurz, indem er ihm einen Wink gab, einzusteigen.
Werdenfels reichte seinem Neffen, der ihm gefolgt war, zum Abschied die Hand.
„Leb wohl, Paul! Und wenn ich nicht zurückkehren sollte – stehe meiner Anna zur Seite. Sie findet ja jetzt einen Bruder an dem Gatten ihrer Schwester.“
Der junge Mann antwortete nur mit einem Händedrucke. Es fehlte ihm nicht an Muth, die Gefahr zu bestehen, aber das angstvolle Weinen seiner kleinen Lily konnte er nicht ertragen. Er begriff nicht, wie Raimund sein so schwer errungenes Glück auf das Spiel setzen konnte, um fremdes Leben zu retten, und begriff die Braut nicht, die ihn von ihrer Seite ließ.
Werdenfels winkte noch einen Gruß hinauf zu der Höhe, wo Anna an der Seite ihrer Schwester stand, dann nahm auch er seinen Platz am Steuer ein. Die ersten Ruderschläge trieben das Boot hinaus in das Wasser und nach kurzer Fahrt erreichte es die Strömung, die es sofort ergriff.
Das kleine Fahrzeug schwankte wie vom Sturme erfaßt und drehte sich im Wirbel. Es war in höchster Gefahr umzuschlagen, aber die beiden Rudernden setzten ihre volle Kraft ein, und das Steuer lag in den Händen Raimund’s, in diesen weißen durchsichtigen Händen, die so kraftlos aussahen, und die doch die Macht besaßen, den wilden Emir zu bändigen und ihn bei jenem tollkühnen Sprunge über die Schlucht zu zügeln. Sie bewährten sich auch hier. Nach einem minutenlangen Kampfe mit den Wellen hatte das Boot die Richtung gefunden und schoß nun reißend schnell dahin, inmitten von Baumstämmen und Mauertrümmern, die es bei jedem Anprall zerschmettern konnten.
Mit dem Aufhören des Regens war auch die Luft klarer geworden. Die Berge, die man seit drei Tagen nicht gesehen hatte, begannen sich zu entschleiern, aber während dort oben ein Gipfel nach dem anderen emportauchte, sank der Nebel tiefer auf die Niederung und ballte sich dicht zusammen über der Wasserfläche. Das Fischerhaus entzog sich vollständig den Blicken und auch das Boot war nur kurze Zeit noch sichtbar, dann verschwand es gleichfalls in dem schweren, trüben Dunst. Die Zurückgebliebenen hatten nicht einmal den Trost, die kühne Rettungsfahrt verfolgen zu können.
Dagegen kamen vom Dorfe jetzt bessere Nachrichten herauf. Auch oberhalb des Durchbruches wuchs die Fluth nicht mehr, sie schien endlich ihren Höhepunkt erreicht zu haben, und damit hörte auch das wilde Nachstürzen der Wassermassen auf. Sie fingen an, sich zu beruhigen, es war jetzt wenigstens möglich, mit dem Boote zurückzukehren, wenn man die Hauptströmung vermied; ein Wagniß blieb es immer. –
Beinahe zwei Stunden waren vergangen, und schon begannen die ersten Schatten der Dämmerung aufzusteigen. Die ganze Niederung wallte und gährte jetzt im weißgrauen Dunst, und daraus hervor gurgelte und rauschte das Wasser. Vielleicht kämpften dort hinter jenem Nebelvorhang die Bedrohten und die Retter zugleich ihren Todeskampf, und Niemand konnte ihnen zu Hülfe kommen, kein Blick, kein Ruf konnte sie erreichen!
[465] Anna stand noch an demselben Platze, wo Werdenfels sie verlassen hatte. Sie hörte nichts von all den Tröstungen, mit denen Paul und Lily sie zu ermuthigen suchten, sah nichts von der ganzen Umgebung. Bleich und stumm starrte sie immer hinaus in den Nebel, wo Raimund verschwunden war, in die Fluth, die ihn vielleicht schon deckte. An ihrer Seite knieete Eckfried und betete, und all die Anderen standen rathlos und thatlos ringsum, mit jeder Viertelstunde, die verfloß, sank ihnen mehr der Muth.
Da plötzlich zuckte die junge Frau zusammen und beugte sich weit vor. Sie hatte entdeckt, was noch Niemand sah. Dort in dem Dunste regte sich etwas, noch dunkel und unbestimmt, aber es kam immer näher, wurde immer deutlicher. Jetzt unterschied man schon die Umrisse des Bootes und endlich erkannte man auch die Gestalten darin. Es war Leben und Rettung, was aus jenem Nebelmeere auftauchte.
Langsam glitt das kleine Fahrzeug daraus hervor, das nur mit unsäglicher Mühe vorwärts kam. So weit es auch seitwärts steuerte, es mußte doch jetzt gegen die Strömung ankämpfen, die es vorhin getragen hatte. Am Boden, zwischen den schwer arbeitenden Männern kauerten zwei Menschen, erstarrt von Nässe und Kälte, betäubt von der ausgestandenen Todesangst – der Fischer und sein Weib, und zu den Füßen des Freiherrn, der mit beiden Händen das Steuer hielt, saß ein Kind, das ängstlich seine Kniee umklammerte und sein Gesicht daran verbarg, um das schäumende Wasser nicht zu sehen.
Bei diesem Anblick stürzte Alles hinunter, den Ankommenden entgegen. Die Männer sprangen rücksichtslos in das Wasser, und von allen Seiten streckten sich helfende Hände dem Boote entgegen, das mit stürmischem Jubel empfangen und bewillkommnet wurde.
„Da bringen wir sie alle drei!“ rief Rainer, der zuerst heraussprang. „Es war Zeit, daß wir kamen, das Haus wankte schon, als wir abstießen, und hinter uns fiel es zusammen. Aber das war eine Arbeit zurückzukommen! Ich dachte, wir würden es nicht zwingen gegen den Strom, doch der Freiherr und unser Pfarrer haben ausgehalten, als wären sie von Eisen!“
Vilmut unterstützte die Fischersleute, die kaum ihre Glieder regen konnten, während Werdenfels, der ja der Letzte war, den kleinen Toni emporhob. Das Kind fürchtete sich jetzt nicht mehr vor dem „Felsenecker“, dessen Arme es von dem wankenden Gebälk losgerissen und sicher durch Nebel und Wogen geführt hatten, es umklammerte mit beiden Händen seinen Hals und wollte ihn nicht wieder loslassen.
Raimund grüßte nur mit einem Blick und einem Lächeln seine Braut, die ihn am Ufer empfing, dann wandte er sich zu dem alten Manne an ihrer Seite und mit einer Stimme, in der die tiefste Bewegung zitterte, sagte er:
„Hier, Eckfried, ist Euer Toni! Ich lege ihn heil und gesund in Eure Arme – nehmt ihn zurück!“
Es waren dieselben Worte, die Eckfried ihm einst in wildem Hohne entgegengeschleudert hatte, als er bei jener Brandstiftung ergriffen wurde. In den Zügen des alten Mannes zuckte es seltsam, starr und wortlos blickte er den Freiherrn an, und wie mechanisch streckte er die Arme aus nach seinem Enkel. Erst als sich Toni’s blonder Krauskopf an seine Brust schmiegte und die blauen Augen aus dem verweinten Gesichtchen ihn anblickten, erst da schien auch Eckfried Leben und Bewegung wieder zu finden. Er riß das Kind an sich und mit einem Aufschrei, der halb einem Jauchzen und halb einem Weinen glich, sank er in die Kniee vor dem Manne, den er so lange und glühend gehaßt hatte.
Anna hatte sich unbekümmert um all die Zeugen an Raimunds Brust geworfen, und er hielt sie umfaßt, als seien sie allein auf der Welt. Da trat Gregor Vilmut heran, sein Auge glitt düster, aber ruhig über die Beiden hin, es stand nichts mehr von Haß darin. Jetzt, wo er selbst zum Retter und Helfer geworden war, fanden die Lippen des stolzen Priesters endlich die Worte, die er vorhin nicht hatte aussprechen können, und er sprach sie so laut, daß alle Umstehenden sie hörten:
„Ich danke Ihnen, Herr von Werdenfels, im Namen des Dorfes, das Sie gerettet haben. Ohne Ihre hochherzige That war es verloren und seine Bewohner waren dem Elend preisgegeben.“
„Sie haben ja auch gerettet, Hochwürden, was ich im Drange der Gefahr preisgab und preisgeben mußte,“ sagte Raimund tiefernst. „Wir haben zwei Stunden lang Seite an Seite gekämpft um drei Menschenleben, und sind wie durch ein Wunder bewahrt geblieben – ich denke, wir kehren nicht wieder zu der alten Feindschaft zurück.“
Er streckte die Hand aus, aber als Vilmut die seinige hineinlegte, rief Anna erschrocken:
„Gregor, was ist das? Deine Hände sind ja voll Blut!“
„Von der Arbeit!“ erwiderte Gregor gelassen.
Die inneren Handflächen waren in der That blutig von der [466] ungewohnten Anstrengung, und doch hatte er mit diesen wunden, schmerzenden Händen das Ruder weitergeführt, wie Rainer mit seinen harten Fäusten.
„Raimund, soeben kommt aus dem Dorfe die Meldung, daß auch im oberen Laufe des Stromes das Wasser zu sinken beginnt,“ sagte Paul herantretend. „Wir haben nichts mehr zu fürchten, der Umschlag der Witterung ist ein vollständiger.“
Er wies nach den Bergen, die sich immer mehr entschleierten. Soeben tauchte auch das schneegekrönte Haupt der Geisterspitze hervor aus den Wolken und blickte nieder auf all das Unheil, das sie angerichtet hatte. Sie hatte einst jenen Sturm herabgeschickt, der die Flammen von Haus zu Haus trug und Werdenfels in Asche legte, sie hatte auch diesmal die Gletscherströme herabgesandt, die ihm Verderben drohten. Aber jetzt lag das Dorf sicher und unversehrt, die Fluthen deckten nur die reichen Besitzungen des Herrn von Werdenfels, und in diesen Fluthen erlosch der letzte Widerschein jenes Brandes, erlosch das alte, drohende Flammenzeichen mit all seinem Bann und Fluch.
Vom Dorfe her tönte das Abendläuten. Die Glocken, die seit Tagesanbruch so schauerlich gestürmt und um Hülfe gerufen hatten, setzten wieder ein mit dem alten feierlichen Klange, sie mahnten zum Danke.
Die Werdenfelser sahen es alle, wie ihr Gutsherr, der gefürchtete, verfehmte Felsenecker, als der Erste auf die Kniee niedersank und sein Haupt beugte, wie seine Braut und selbst Paul und Lily seinem Beispiel folgten, da folgten sie alle, es blieb kein Einziger zurück, als Gregor Vilmut in ihre Mitte trat. Voll und mächtig zogen die Glockenklänge durch die Luft und einten sich mit dem Rauschen des jetzt gebändigten und bezwungenen Elementes. Sonst war kein Laut vernehmbar. Selbst der Priester schwieg, als er die Hände emporhob, die blutig und zerrissen noch die Spuren der schweren Rettungsarbeit trugen, und mit diesen Händen segnete er die knieende Gemeinde.
Es war Sommer geworden, und in dem hellen Sonnenschein eines Junitages flatterte die Fahne lustig von dem Dache des Schlosses Werdenfels, das heute seinen Herrn und seine Herrin erwartete.
Die Trauung Raimund’s und Anna’s war in aller Stille vollzogen worden, und die Neuvermählten hatten die ersten Wochen ihrer Ehe in Felseneck zugebracht. Heute aber wurden sie von dort zurückerwartet, und Werdenfels hatte einen großartigen Empfang vorbereitet. In Ehrenpforten, Laubgewinden und Fahnen war wirklich Unerhörtes geleistet, und die ganze Dorfschaft war auf den Beinen, um ihren Gutsherrn und dessen junge Gemahlin zu begrüßen.
Auch das Schloß hatte sich zum feierlichen Empfange gerüstet. Baron Paul war schon in aller Frühe von Buchdorf herübergekommen, um die Anstalten selbst zu leiten, und seine Braut, die bisher in Rosenberg unter dem Schutze von Fräulein Hofer geblieben war, und nun zu ihrer Schwester nach Werdenfels übersiedeln sollte, befand sich ebenfalls seit einigen Stunden dort.
Auch Justizrath Freising hatte sich eingefunden, zur geheimen Verwunderung Paul’s, der sich dies plötzliche Auftauchen des rechtsgelehrten Herrn nicht recht erklären konnte, aber dieser war nun einmal da und wollte gleichfalls seinen „hochgeehrten Clienten“ begrüßen, und einstweilen unterhielt er sich sehr angelegentlich mit Fräulein Hofer, die Lily begleitet hatte.
Mit jener Begrüßung hatte es indessen seine eigene Bewandniß. Seit jenem Abenteuer auf der Bergstraße befand sich der Justizrath wieder im Banne jener Empfindung, die er nun schon fünfmal durchgemacht hatte, allerdings immer mit verschiedenen Objecten.
Seine Besuche in Rosenberg wurden immer häufiger, und seine früheren Streitigkeiten mit Fräulein Hofer verwandelten sich immer mehr in die vollkommenste Uebereinstimmung. Emma mußte endlich einsehen, daß sie der nunmehrige Gegenstand dieser Besuche und Aufmerksamkeiten war. Ob nun Lily mit ihrer übermüthigen Behauptung doch nicht so ganz Unrecht hatte, oder ob die glücklich geretteten Acten einen geheimen magnetischen Rapport herstellten, genug, die Dame zeigte sich nicht ganz unzugänglich, und die Hoffnungen des Justizraths flammten hell auf.
Er fuhr mit dem verhängnißvollen Frack und dem üblichen Bouquet zum dritten Male als Freier nach Rosenberg. „Jetzt oder nie!“ dachte er, als er die Gitterthür öffnete – und erfuhr von dem alten Ignaz, daß Fräulein Hofer sich mit ihrer Schutzbefohlenen in Werdenfels befand, wo man heute den Freiherrn und dessen Gemahlin erwartete.
Der arme Freising stand wie vom Donner gerührt. Im ersten Augenblicke war er wirklich geneigt, an ein Fatum zu glauben, das ihn zur Ehelosigkeit verdammte, dann aber faßte er einen heroischen Entschluß. Umzukehren und das Bouquet verwelken zu lassen, wäre ihm als die schlimmste aller Vorbedeutungen erschienen, und seit der wunderbaren Einmischung der Geisterspitze in seine Angelegenheiten war er keineswegs mehr ein so ausgemachter Freigeist. Er beschloß deshalb, das tückische Schicksal zu zwingen, befahl dem Kutscher umzuwenden und fuhr gleichfalls nach Werdenfels, wo er sich ganz unbefangen als Theilnehmer an dem Empfange vorstellte.
Die Schloßterrasse trug den reichsten Blumenschmuck, und auch die Gebüsche des Schloßberges prangten im frischen Grün, aber die Gärten, die Werdenfels sonst wie ein blühender duftender Kranz umgaben, waren verschwunden. Monate der Arbeit hatten die Zerstörungen einer einzigen Stunde nicht tilgen können, und wenn auch ein Theil der alten Bäume noch stand und man alles aufgeboten hatte, um wenigstens in der unmittelbaren Umgebung des Schlosses die Spuren der Verwüstung zu beseitigen, die stundenweiten, mit fürstlicher Verschwendung geschaffenen Parkanlagen mit ihrer seltenen, kostbaren Flora waren unwiederbringlich dahin.
Drüben in der Niederung sah es noch trostloser aus. Die Fluren deckte Schlamm und Geröll, aus dem entwurzelte Bäume und riesige Felssteine emporragten. Die verheerenden Muhren hatten sich hoch aufgethürmt und in ihrer zähen, undurchdringlichen Schicht lagen Wiesen und Felder begraben. Das einst so reiche Gebiet von Werdenfels war zur Wüste geworden, und wenn es wirklich noch zu retten war, so blieb sein Ertrag doch auf Jahre hinaus verloren für den Gutsherrn.
Um so freundlicher lag das Dorf da, inmitten seiner Wiesen und Gärten, hier war auch nicht ein Fußbreit verloren gegangen, und in seinem Festgewande nahm es sich heute doppelt stattlich aus.
Der Haushofmeister musterte noch einmal die Dienerschaft, die in voller Gala auf der Terrasse versammelt war, und trat dann zu Arnold, der soeben aus dem Schlosse kam.
Arnold, in seiner Eigenschaft als Kammerdiener und Vertrauter seines jungen Herrn, hielt es natürlich unter seiner Würde, sich den anderen Dienern anzuschließen. Der Haushofmeister hatte diese Ausnahmestellung auch stets anerkannt und behandelte ihn fast als seines Gleichen.
„Jetzt ist alles bereit,“ sagte er. „In einer halben Stunde können die Herrschaften hier sein, der Empfang im Dorfe wird freilich einige Zeit beanspruchen.“
„Vermuthlich, denn er wird großartig,“ versetzte Arnold mit Genugthuung. „Jetzt freilich wissen sie sich nicht zu lassen vor Dankbarkeit und möchten ihren Gutsherrn in den Himmel erheben, und was für Niederträchtigkeiten haben sie früher gegen ihn ausgeübt!“
„Ja, unsere Werdenfelser haben harte Köpfe, aber ich denke, der Herr wird trotzdem jetzt mit ihnen fertig werden.“
„Das glaube ich auch. Der gnädige Herr Onkel“ – Arnold hielt diese Bezeichnung hartnäckig fest, wenn er von dem Freiherrn sprach – „haben eine ganz wunderbare Art, die Menschen nur mit den Augen zu maltraitiren. Es ist gar nicht nöthig, daß er den Mund öffnet, man hat vollständig genug an dem Blick.“
„Nun, an der That hat er es auch nicht fehlen lassen. Die Fahrt, die er damals beim Hochwasser mit dem Herrn Pfarrer unternahm, thut ihm Keiner so leicht nach. Sogar der junge Baron blieb am Ufer.“
„Natürlich blieb er!“ sagte Arnold würdevoll. „Der Chef der Familie hat überall den Vortritt. Wir sind die jüngere Linie, wir stehen zurück – selbst in der Gefahr.“
„Wie steht es denn eigentlich mit der Hochzeit?“ erkundigte sich der Haushofmeister, der in der Feststimmung des heutigen Tages ungewöhnlich gesprächig war. „Sie soll wohl erst in einem Jahre stattfinden.“
„Im nächsten Frühjahr. Unter uns gesagt, die jungen [467] Herrschaften müssen erst noch vernünftiger werden; der gnädige Onkel hat das auch eingesehen, und einstweilen läßt er uns das Herrenhaus in Buchdorf ganz neu und sehr glänzend einrichten. Herr Paul soll sich erst als Gutsherr bewähren, und die Kleine – ich wollte sagen unsere künftige gnädige Frau wird bis dahin doch noch etwas größer werden. Glauben Sie nicht, daß man mit sechszehn Jahren noch wachsen kann?“
„Gewiß, das glaube ich. – Und Sie bleiben also in Buchdorf?“
Arnold sah den Fragenden mit unermeßlichem Erstaunen an; er begriff nicht, wie man so etwas überhaupt fragen konnte.
„Selbstverständlich! Was sollten denn die jungen Herrschaften ohne mich anfangen? Ueberdies habe ich der seligen Frau Baronin auf dem Sterbebette versprochen –“
„Ja, das weiß ich, das haben Sie mir schon einige Male erzählt,“ fiel der Haushofmeister ein, aber Arnold hätte sich schwerlich von seinem Lieblingsthema abbringen lassen, wenn nicht in diesem Augenblick die „jüngere Linie“ erschienen wäre.
Paul führte seine Braut am Arme, die zur höchsten Befriedigung des alten Dieners in ihrem Festkleide mit der langen Schleppe etwas größer aussah als sonst. Sie musterten die Empfangsanstalten, und der junge Baron wandte sich an den Haushofmeister.
„Wir werden den Freiherrn und seine Gemahlin schon am Wagen begrüßen. Sie nehmen Ihren Platz wohl hier am Eingange, an der Spitze der Dienerschaft ein; Du bleibst gleichfalls hier, Arnold.“
Der Haushofmeister folgte natürlich der Anordnung, und Arnold that ebenso natürlich das Gegentheil, indem er sich seinem Herrn anschloß, der mit Lily weiter ging.
„Ich bleibe in Ihrer Nähe, Herr Paul,“ erklärte er mit einer Entschiedenheit, gegen die sich schlechterdings nichts einwenden ließ. „Das ist mein Platz, und übrigens macht es sich auch besser.“
„Müssen Sie denn immer widersprechen, Arnold?“ sagte Lily ungeduldig. „Haben Sie den Rosenstrauß in das Wohnzimmer meiner Schwester auf den kleinen Sophatisch gestellt, wie ich Ihnen befahl?“
„In das Wohnzimmer der Frau Baronin – jawohl, gnädiges Fräulein – die Rosen stehen auf dem Schreibtische.“
„Aber ich sagte Ihnen doch ausdrücklich, auf den Sophatisch! Weshalb haben Sie das nicht gethan?“
„Weil sie sich auf dem Schreibtische besser ausnehmen, viel besser.“
„Ich will sie aber an jener Stelle haben!“ rief Lily, mit dem Füßchen stampfend.
„Arnold, Du stellst augenblicklich die Blumen dorthin, wo meine Braut befiehlt!“ mischte sich Paul mit strenger Miene ein.
„Auf dem Schreibtische machen sie mehr Effect,“ behauptete Arnold mit unerschütterlicher Ruhe. „Sie stehen dort gerade vor dem Bilde des gnädigen Herrn, die gnädige Frau Baronin wird das als eine zarte Aufmerksamkeit empfinden, der gnädige Herr Onkel wird auch dieser Meinung sein, und das gnädige Fräulein wird sicher nicht darauf bestehen –“
„Um Gotteswillen – nein, nein!“ rief Lily verzweiflungsvoll. „Stellen Sie die Rosen meinetwegen unter den Tisch, aber hören Sie nur auf mit Ihren Gründen und Ihren ewigen Titulaturen.“
Sie zog Paul fort, und Arnold behauptete als Sieger das Feld. Er blickte mitleidig seiner Herrschaft nach, die die merkwürdige Angewohnheit hatte, ihm befehlen zu wollen. Er ließ sich allenfalls von den Augen des gnädigen Onkels maltraitiren, weil dieser der einzige Mensch war, der ihm überhaupt imponirte, aber die jüngere Linie versuchte es ganz vergeblich, gegen ihn aufzukommen, und sie sah das selbst ein.
„Paul,“ sagte Lily halb lachend, halb ärgerlich. „Wir stritten uns neulich, wer in unserem Hause das Scepter führen sollte, und Keiner wollte es dem Andern lassen. Es ist gar nicht nöthig, daß wir uns den Kopf darüber zerbrechen, Dein Arnold schwingt es über uns Beide.“
„Ja, mit diesem alten Familienerbstück ist nun einmal nichts anzufangen,“ stimmte Paul gleichfalls lachend ein. „Du beugst Dich auch schon seiner Tyrannei. Raimund müßte ihn einmal vier Wochen lang in seinen persönlichen Dienst nehmen, ich glaube, das wäre das einzige Mittel, ihm Gehorsam beizubringen. Komm, Lily, von dort aus übersieht man den Weg. Feldberg commandirt drüben die Böller, und sobald der Wagen in die Allee des Schloßberges einbiegt, krachen die Schüsse.“
„O, bis dahin haben wir noch Zeit, und ich muß vorher noch eine Entdeckungsreise anstellen. Ich bin nämlich dem Onkel Justizrath auf der Spur, der mir sehr verdächtig erscheint mit seinem Frack und seinem Bouquet. Ich weiß nun nachgerade, was dieser feierliche Aufzug bedeutet.“
„Was meinst Du? Mich hat Freising’s Erscheinen allerdings überrascht. Er steht doch Keinem von uns so nahe –“
„Nein, aber er möchte endlich irgend Jemandem nahe stehen, und das ist ihm wirklich nicht zu verdenken, der Arme hat ja bisher nichts als Hochachtung durchgemacht, und das muß schrecklich sein. Ich habe es deutlich gesehen, das Bouquet enthält diesmal nur Nelken, in allen Farben und Schattirungen – und das ist die Lieblingsblume Fräulein Hofer’s. Ich muß durchaus wissen, wie die Sache sich entwickelt. Schlägt sie wieder zum Unglück aus, dann – ja, Paul, ich kann Dir nicht helfen – dann nehme ich den Onkel Justizrath noch nachträglich aus Mitleid; denn mit sechs Körben kann er unmöglich existiren. Das hält kein Mensch aus!“
Paul protestirte sehr nachdrücklich gegen diese menschenfreundliche Absicht seiner Braut und war überhaupt der Meinung, man müsse auf der Terrasse bleiben, um zum Empfange der Erwarteten bereit zu sein, aber Lily bestand auf ihrem Willen. Sie hatte gesehen, wie der Justizrath und Fräulein Hofer in einem kleinen Pavillon verschwanden, der an der Rückseite des Schlosses lag, und ging sofort dieser Spur nach.
Der Pavillon, der eigens für die Bergaussicht erbaut war, lag sehr hoch, sodaß es unmöglich blieb, durch die Fenster einen Einblick zu gewinnen, und die Thür, die vorhin weit offen stand, war jetzt verdächtiger Weise geschlossen. Die junge Dame unternahm also zunächst einen Recognoscirungsgang um das kleine Gebäude, das heute ebenfalls einen Fahnenschmuck trug, und wurde dabei vom Zufall begünstigt.
An der rechten Seitenwand, die von dichtem Weinlaube umrankt war, stand eine Leiter, die man wahrscheinlich beim Befestigen der Fahne gebraucht und dann vergessen hatte. Lily war ganz entzückt über diesen Fund, sie hörte nicht auf Paul’s Einwendungen, der ihr folgte, sondern nahm ihre Schleppe zusammen und stieg schleunigst empor bis zur Fensterhöhe, wo sie mit unendlicher Neugier durch die Scheiben blickte, gerade wie Arnold es bei ihrer Verlobung im Gartenhause gethan hatte.
„Sie sind wirklich drinnen!“ rapportirte sie mit gedämpfter Stimme. „Sie befinden sich alle Drei auf dem Sopha, der Justizrath, das Bouquet und Fräulein Hofer. Schade, daß die Fenster geschlossen sind, ich kann nur sehen, und damals hinter der Salonthür konnte ich nur hören, aber die heutige Stellung ist etwas unbequemer.“
„Aber das ist ja Spionage,“ wandte Paul ein. „Wenn man Dich nun von innen bemerkt oder wenn irgend Jemand von der Dienerschaft auf diese Seite des Schlosses geräth, was sollen sie denken!“
„Sei still, Paul, und halte die Leiter!“ befahl die junge Dame. „Die ganze Dienerschaft ist drüben auf der Terrasse, und das Weinlaub ist so dicht, daß ich unmöglich entdeckt werden kann. Wie gesagt, hören kann ich nichts, aber ich sehe die ganze Pantomime. Der Onkel Justizrath zeigt eine sehr elegische Miene, er erzählt gewiß von seinen fünf Körben – wenn er nur nicht den sechsten erhält, Emma ist noch ganz Hochachtung – aber nein, jetzt lächelt sie – Gott sei Dank, nun kommt die Sache in Gang.“
„Lily, ich bitte Dich, komm’ herunter!“ bat Paul. „Wenn uns Jemand in dieser Situation überrascht – es schickt sich wirklich nicht.“
„Störe mich nicht und achte auf die Leiter, damit sie nicht umfällt,“ lautete die etwas ungnädige Antwort. „Nun rückt das Bouquet in’s Feuer, der Onkel Justizrath fängt stets mit der Blumensprache an. Bei Anna begann er damals: die Rosen – der Rose! Und jetzt sagt er gewiß: die Nelken – der Nelke!“
Freising mußte in der That etwas Aehnliches gesagt haben, denn Fräulein Hofer erröthete und schlug die Augen nieder, während er mit vollem Pathos fortfuhr:
[468] „Nie werde ich jene Stunde vergessen, wo ich in Schnee und Einsamkeit, mit einem verrenkten Fuße und von aller Welt verlassen auf der Landstraße saß. Sie retteten meine Acten –“
„O, das war ja nicht der Rede werth!“ lehnte Emma bescheiden ab.
„Bitte, es war sehr der Rede werth. Es waren die Urkunden von sechszehnhundertachtzig –“
„Werdenfels contra Werdenfels?“
„Ganz recht. Ohne Ihre muthige Dazwischenkunft wären sie ein Opfer dieser tückischen Geisterspitze geworden.“
„Glauben Sie denn an die Geisterspitze, Herr Justizrath?“ fragte Emma überrascht.
Freising warf einen scheuen Blick durch das Fenster, wo das „weiße Ungethüm“ in der Entfernung deutlich sichtbar war. Es schien ihn an das Gelübde zu mahnen, das er damals in höchster Noth gethan hatte, als auch ihn, den Freigeist, der Aberglaube packte. Aber eingestehen konnte er das unmöglich, und so antwortete er denn mit einer kühnen Wendung:
„Ich glaube, daß die Geisterspitze mir in jener Stunde ein Glück gezeigt hat, das ich bis dahin nicht erkannte. Emma, darf ich diesen Glauben festhalten?“
Die Sache entwickelte sich jetzt ziemlich rasch, aber die beiden Hauptpersonen hatten keine Ahnung davon, daß sie von zwei Seiten beobachtet wurden. Rechts drückte Lily ihr Gesicht an die Scheiben, und links blickte die Geisterspitze majestätisch in das Fenster, sie assistirte gleichfalls der Verlobung, die sie ja eigentlich gestiftet hatte.
Fräulein Hofer hielt den Nelkenstrauß in den Händen und blickte erröthend darauf nieder, während der Justizrath seinen Antrag vorbrachte, den er nun nachgerade auswendig wußte, und nach fünf Minuten hielt der Justizrath Fräulein Hofer in den Armen. Er kam sich wie ein Erlöster vor, als er endlich empfing, was ihm ein grausames Geschick so lange verweigert hatte – das kleine, kurze, nette Ja!
Da krachten draußen die Böller. Der Wagen des Freiherrn mußte in Sicht sein, denn die erste Begrüßungssalve donnerte von der Terrasse nieder in das Thal, und das Echo der Berge gab rollend die Schüsse zurück.
Das neue Brautpaar fuhr erschrocken aus einander, Fräulein Hofer war sonst nichts weniger als nervös, bei dieser ebenso unerwarteten als lärmenden Gratulation der Werdenfelser Geschütze erlaubte sie sich aber doch einen kleinen Ohnmachtsanfall. Sie schwankte und machte Anstalt, zu sinken, als der Justizrath sie natürlich umfaßte und in seinen Armen aufrecht erhielt.
„Erhole Dich, Emma!“ sagte er mit feierlicher Zärtlichkeit. „Ich bin an Deiner Seite.“
Und Emma erholte sich! –
Fast gleichzeitig bog Arnold in höchster Eile um die Ecke des Schlosses. Er suchte seinen jungen Herrn und dessen Braut, die auf unbegreifliche Weise verschwunden waren.
„Herr Paul, der Wagen kommt! Herr Paul, wo sind Sie?“
Er verstummte plötzlich und hob Augen und Hände zum Himmel, bei dem Anblick, der sich ihm darbot. Da stand Fräulein Lily, in der langen Seidenschleppe mit dem Spitzenbesatz, hoch oben auf der Leiter und guckte in den Pavillon, während Herr Paul unten stand und mit größter Sorgfalt die Leiter hielt, und Beide waren so vertieft in ihre Beschäftigung, daß sie den Ruf ganz überhörten.
In diesem Augenblicke gaben die Böller das Begrüßungszeichen. Lily fuhr auf, sprang mit einem Satze von der Leiter und geradewegs in Paul’s Arme, der sie auffing, und nun hatte der alte Diener den noch weit schrecklicheren Anblick, wie der Gutsherr von Buchdorf die künftige gnädige Frau bis auf die Terrasse trug. Hier sprang Lily wie ein junges Reh von seinem Arme und nun liefen Beide um die Wette bis zu der großen Freitreppe, wo sie athemlos anlangten. Die junge Dame hatte kaum noch Zeit, ihre Schleppe wieder in Ordnung zu bringen, als der Wagen schon in die Allee einbog.
„Und diese Kinder wollen nun heirathen!“ sagte Arnold wehmüthig. „Und da fragt der Haushofmeister noch, ob ich in Buchdorf bleibe! Ein vernünftiger Mensch muß doch wenigstens da sein, und leider bin ich dieser einzige!“
Der alte Diener mar mit seinem Entsetzen über dies Preisgeben aller Würde von Seiten der jüngeren Linie noch nicht fertig geworden, als der Justizrath und Fräulein Hofer an ihm vorbeisausten, Arm in Arm und mit ganz verklärten Gesichtern, sie liefen gleichfalls, um den Empfang nicht zu versäumen. Dies Stürzen des sonst so würdigen rechtsgelehrten Herrn und sein seliges Lächeln brachten Arnold um den letzten Rest seiner Fassung.
„Ich glaube, ganz Werdenfels steht heute auf dem Kopfe!“ seufzte er, während er sich anschickte zu folgen, um wenigstens den Effect seiner Stellung hinter dem jungen Herrn nicht einzubüßen.
Werdenfels schien wirklich auf dem Kopfe zu stehen, und die Werdenfelser zeigten sich gerade so maßlos in ihrer Dankbarkeit, wie früher in ihrem Hasse. Empfang, Begrüßung und Reden hatten programmmäßig im Dorfe stattgefunden, aber die halbe Dorfschaft begleitete den Freiherrn und seine Gemahlin nach dem Schlosse. Der jüngere Theil dieser Begleitung leistete im freudigen Lärmen das Aeußerste, und der älteste Sohn Rainer’s – derselbe, der sich damals an dem Attentat gegen die Orangerien betheiligt hatte – schrie jetzt so lange und so energisch Hoch, bis er kirschbraun im Gesichte war.
Jetzt nahte der Wagen, und inmitten dieses stürmischen Jubels, unter flatternden Fahnen und endlosen Böllerschüssen hielten Raimund und Anna ihren Einzug in das Schloß.
Auch hier wurde beim Empfange nicht ganz die beabsichtigte Feierlichkeit eingehalten. Nur der Haushofmeister stand steif und feierlich an der Spitze der Dienerschaft und sorgte dafür, daß Niemand sich rührte, bis er das Zeichen dazu gab. Bei der Begrüßung an der Freitreppe aber war Arnold der Einzige, der seine Würde behauptete. Der Justizrath und Fräulein Hofer hatten eine wahre Manie, heute aller Welt die Hand zu schütteln, und die jungen Herrschaften setzten nun vollends jede Etiquette bei Seite.
Lily warf sich stürmisch an die Brust ihrer Schwester und ließ sich dann von ihrem Schwager umarmen, sie schien nicht mehr zu fürchten, daß er ihr den Hals umdrehen werde. Paul dagegen wurde doch ernst, als er seiner nunmehrigen Schwägerin die Hand küßte.
Für einen Moment verblich das rosige, lachende Gesicht seiner Lily vor der Erinnerung an jene Meeresfahrt, wo er ein anderes Antlitz so kalt und ernst und doch so hinreißend schön gesehen hatte, im zauberischen Mondesglanz. Jetzt spielte das Sonnenlicht auf den goldschimmernden Haaren und sonniger Glanz lag in den großen braunen Augen.
In dem Herzen des jungen Mannes wollte wieder das alte Weh aufwachen, aber er überwand schnell die unwillkürliche Regung, er sah ja, daß jene Augen nur Raimund’s Blick suchten. Dem Freiherrn gelang es jetzt endlich, sich los zu machen, und der verneigenden Dienerschaft freundlich zuwinkend, führte er seine junge Frau in das Schloß seiner Väter ein.
Paul und Lily schlossen sich ihnen an, und die letztere gab leider wieder einen Beweis, wie wenig sie feierliche Momente begriff, denn noch auf der Schwelle flüsterte sie ihrer Schwester zu:
„Denke nur, Anna, der Onkel Justizrath bekommt endlich eine Frau! Er heirathet Emma Hofer, und als er das kleine, nette Ja erhielt, schossen unsere sämmtlichen Böller Victoria!“ –
Es war einige Stunden später. Der Jubel des Empfanges war verrauscht und auf der nun wieder völlig einsamen Terrasse stand Anna von Werdenfels und blickte hinüber nach den Bergen, wo sie die erste Zeit ihrer Ehe verlebt hatte, wo ein so lang ersehntes, so schwer errungenes Glück endlich zur Wahrheit geworden war.
Der Pfarrer von Hochdorf hatte in der Schloßcapelle von Felseneck die Trauung vollzogen. Gregor Vilmut befand sich damals gerade in der Residenz, wohin amtliche Angelegenheiten ihn riefen. Er hatte die nunmehrige Baronin Werdenfels erste heute wiedergesehen, wo er an der Spitze des Dorfes mit einigen kurzen ernsten Worten sie und ihren Gatten begrüßte. Die eigentlichen Reden überließ er dem Gemeindevorsteher und Rainer, welche denn auch eine ganz wunderbare Leistung zu Stande brachten. Er selbst sprach nur das Nothwendige, aber er that es mit ruhiger Würde und zog sich, sobald der Wagen vorüber war, in das Pfarrhaus zurück.
Jetzt aber erschien er dort auf der Freitreppe und näherte sich der jungen Frau, die ihm überrascht entgegen trat.
„Du bist es, Gregor? Ich hoffte garnicht, Dich heute noch zu sehen.“
[470] „Ich komme, um Dir Lebewohl zu sagen! Meine Abreise ist auf übermorgen festgesetzt.“
„So plötzlich? Du solltest Deine neue Stellung in M. ja erst im Herbste antreten.“
„Das hat sich geändert. Das dortige Pfarramt ist verwaist und bedarf dringend eines Vertreters, während mein Nachfolger in Werdenfels jede Stunde bereit ist. Ich nehme bereits morgen Abschied von meiner Gemeinde, aber wenn Du auch der kirchlichen Feierlichkeit beiwohnst, so werde ich doch schwerlich Gelegenheit finden, Dich allein zu sprechen, und deshalb komme ich heute!“
Anna’s Augen ruhten betroffen und forschend auf den Zügen des Pfarrers, endlich sagte sie:
„Diese unerwartete Beschleunigung ist Dein Werk, Gregor! Du gehst, weil Raimund kommt.“
Gregor widersprach nicht, und die junge Frau fuhr mit leisem Vorwurf fort:
„Ich glaubte, die alte Feindschaft sei zu Ende seit jener Fahrt auf Leben und Tod, welche Ihr zusammen unternommen habt?“
„Wir sind keine Feinde mehr,“ erwiderte Vilmut fest. „Gegner bleiben wir immer, denn hier handelt es sich um Ueberzeugungen, die Keiner opfert. Du solltest mir den Entschluß danken, den ich gefaßt habe. Bliebe ich, so würde der Kampf von Neuem beginnen, müßte beginnen, denn ein wirklicher Ausgleich ist nicht möglich.“
„Und Du räumst einem Gegner das Feld? Das sieht Dir nicht ähnlich.“
„Ich räume einen Platz, auf dem ich nicht mehr fest und unerschütterlich stehe, wie einst. All die stürmischen Proteste, die gegen meine Entfernung laut wurden, all die Bitten, zu bleiben, täuschen mich nicht darüber. Vor meiner ganzen Gemeinde hat mir Rainer den Vorwurf zugeschleudert, ich hätte das Dorf in das Verderben gebracht, und die Anderen stimmten ihm bei. Das ist nicht auszulöschen, weder für sie noch für mich, und darüber hilft auch keine Anhänglichkeit hinweg. Sie glauben nicht mehr an mich, und sie müssen diesen Glauben an ihren Priester haben, wenn sein Wirken nützen soll.“
„Also ist diese Berufung nach M. auf Deine Veranlassung geschehen? Ich ahnte es! Aber Deine Gemeinde wird Dich schwer vermissen.“
„Glaubst Du, daß mir die Trennung von Werdenfels leicht wird, mit dem ich seit zwanzig Jahren verwachsen bin, wo ich eine ganze Generation erzogen und eine andere geleitet habe? Aber es muß sein! Ich ertrage nun einmal nichts Halbes, und mit voller ungebrochener Kraft kann ich nur in einen neuen Wirkungskreis eintreten.“
Es lag wieder die alte, unbeugsame Energie in diesen Worten – und Anna fühlte zu sehr deren Wahrheit, um Widerspruch zu erheben.
„Willst Du Raimund sprechen?“ fragte sie. „Er ist im Schlosse, wenn Du ihn dort –“
„Wozu das? Ich habe ihn heute begrüßt, als er nach Werdenfels kam, und er wird mir dieselbe Rücksicht erweisen, wenn ich Werdenfels verlasse. Für seine, wie für meine künftige Stellung wird diese öffentliche Versöhnung von Nutzen sein, vertraulich haben wir nichts mit einander zu verhandeln. Ich wollte von Dir Abschied nehmen, Anna, da unsere Wege sich jetzt trennen.“
„Doch nicht für immer?“ sagte die junge Frau zögernd. „M. ist freilich sehr fern.“
„Und wenn es auch näher läge, unsere Beziehungen würden doch zu Ende sein. Meine Vormundschaft über Lily ist nur noch eine Form, seit ihre Vermählung beschlossen ist. Im nächsten Jahre trägt auch sie den Namen des Geschlechtes, dem Du jetzt angehörst – aber ich suchte heute nicht die Gemahlin des Freiherrn von Werdenfels, ich wollte Anna Vilmut noch einmal sehen, die ich als Kind in meine Obhut nahm. Leb’ wohl, Anna – für immer!“
Das Auge der jungen Frau verschleierte eine Thräne, als sie ihm die Hand reichte.
Gregor’s Auge blieb trocken, aber es haftete lang und düster auf ihrem Antlitz, als wolle er das Bild mit sich nehmen in die Ferne. Er drückte noch einmal ihre Hand, dann ging er festen Schrittes davon, ohne sich wieder umzuwenden.
Anna blickte ihm lange nach. Das Eine, was unausgesprochen zwischen ihnen blieb, war jetzt überwunden, sie hatte es in seinem Blick gelesen, aber sie las auch darin, was diese Ueberwindung ihn gekostet hatte.
Da tönten nahende Schritte, und als Anna sich umwandte, gewahrte sie ihren Gatten, der aus dem Schlosse gekommen war.
„Hast Du auf mich gewartet?“ fragte er. „Ich konnte Eckfried nicht so schnell verabschieden, er ist eigens mit seinem Toni vom Mattenhofe gekommen, um heute in Werdenfels zu sein.“
„Ja, der Toni stand im Dorfe an der Spitze der Kinderschaar und überreichte mir einen riesigen Strauß Alpenblumen,“ sagte die junge Frau lächelnd. „Aber er vergaß den eingelernten Vers zur Hälfte und half sich damit, daß er mir mit ungeheuerem Stolz erzählte, er und der Großvater hätten jetzt ein Pferd und ein Wägli, in dem sie gekommen seien und auch wieder heimfahren würden.“
„Das ist ihm allerdings etwas Neues. Es war ein glücklicher Gedanke, als Du mir riethest, den verschuldeten Mattenhof zu kaufen und dem Knaben zu verschreiben, der ihn ja eigentlich von den Eltern hätte erben sollen.“
„Es galt, den Starrkopf Eckfried’s zu beschwichtigen, der für sich selbst vielleicht nichts angenommen hätte. Er ist freilich wie verwandelt, seit Du ihm damals seinen Enkel in die Arme legtest, und er erhob auch keine Einwendung, als Du das Recht in Anspruch nahmst, für das gerettete Kind zu sorgen.“
„Nun, vielleicht erlebt er es noch, den Buben heranwachsen und den Hof antreten zu sehen! Die wenigen Wochen da oben haben ihn förmlich verjüngt. Es war allzu hart für den ehemaligen Bauer, bei Fremden als Knecht arbeiten zu müssen, jetzt kann er wieder auf eigenem Grund und Boden wirthschaften und für seinen Enkel schaffen, das verlängert sein Leben um zehn Jahre.“
„Gregor war vorhin bei mir,“ sagte Anna nach einer Pause. „Er kam, um Abschied zu nehmen. Er bleibt nicht bis zum Herbste, wie wir voraussetzten, sondern geht schon übermorgen.“
„Ich weiß es, Eckfried theilte es mir mit. Ich habe nie gezweifelt, daß Vilmut sobald als möglich gehen werde. Er hat eingesehen, daß für uns Beide nicht Platz in Werdenfels ist, und er weiß, daß ich nicht wieder von dem Platze weichen werde, den ich einmal errungen habe.“
„Du thust Gregor Unrecht. Er weicht nicht Dir, sondern jener Stunde, in der das Hochwasser über das Dorf hereinbrach. Wenn er die Schuld auch männlich gesühnt hat, ein Vorwurf bleibt es immer, und er mag ja Recht haben, der Glaube seiner Gemeinde an ihn ist einmal erschüttert, das könnte verhängnißvoll werden für sein späteres Wirken.“
„Besser, er geht in Frieden von uns,“ entgegnete Raimund ernst. „Friede wäre doch nicht geblieben, wenn er nach wie vor an der Spitze des Dorfes stand; zwei Herren taugen nicht an einem Orte, und nach dem, was geschehen war, konnten wir uns doch nicht wieder feindlich gegenüberstehen. Auch nach seiner Entfernung werde ich noch genug mit meinen Werdenfelsern zu kämpfen haben, sobald die Feststimmung dieser Tage erst verrauscht ist. Es liegt eine vierzehnjährige Entfremdung zwischen uns, und in all diesen Jahren hat Gregor Vilmut sie beherrscht und geleitet. Aber sie haben Vertrauen zu mir gelernt in der Stunde der Noth, und ich vertraue ihnen. Auf diesem Grunde, denke ich, wird sich eine Zukunft erbauen lassen.“
Anna deutete auf die einst so blühende und jetzt so wüste Umgebung des Schlosses.
„Sie haben es ja täglich vor Augen, was Du für sie gethan hast, und die Mahnung wird fruchten. Es thut mir doch weh, daß unsere schönen Gärten so ganz vernichtet sind, und dort drüben in der Niederung liegt noch unendlich mehr begraben. Du hast beinahe die Hälfte Deines Vermögens zum Opfer bringen müssen.“
Raimund’s Blick folgte der angedeuteten Richtung, aber es war ein heller, muthiger Blick.
„Ja, es wird Zeit und Arbeit kosten, die Verwüstungen jenes Tages zu tilgen. Verloren gebe ich meine Besitzungen trotzdem nicht, wenn ich mir sie auch erst wieder erobern und jeden Fußbreit Boden der Verheerung abtrotzen muß. Vielleicht [471] ist das die beste Schule für den Träumer, der sich erst im Leben zurechtfinden muß. Meinst Du nicht, Anna?“
Er legte den Arm um seine Gattin, die ihm mit einem strahlenden Lächeln antwortete.
„Raimund, ist es nicht besser, mit den Menschen zu leben, besser, selbst mit ihnen zu kämpfen, als in öder Einsamkeit sich selbst und der Welt verloren zu sein?“
„Schilt mir mein Felseneck nicht,“ sagte Raimund innig. „Du bist dort mein geworden, und in seinen Mauern haben wir Beide die ersten Wochen unseres Glückes durchlebt und durchträumt. Aber Du hast Recht, man darf nicht immer träumen, auch im Glücke nicht, deshalb habe ich mich losgerissen von unserer Bergeseinsamkeit und trete mit Dir in die Welt und in das Leben!“
Sein Auge verlor sich noch einmal in die Ferne, wo die Geisterspitze in ihrer stolzen, eisigen Majestät aufragte, aber heute schien sie zu schwimmen in dem goldenen Dufte, der das ganze Gebirge umfloß. Der Sommertag war auf seiner Mittagshöhe, tiefblau wölbte sich der Himmel und Sonnenglanz füllte die Luft.
Die Wellen des Bergstromes rauschten und funkelten wieder in ihrer bläulich grünen Gletscherpracht, als hätten sie niemals den Menschen Verderben und Unheil bereitet. Und dieselben Wogen hatten doch das Brandmal getilgt, das die Schuld des Vaters heraufbeschworen, und die Ketten gesprengt, die auch den Sohn an jenes Verhängniß fesselten. Der alte Bann versank, wie die Nebel und Wolken jener stürmenden Frühlingstage, und ein erlöstes, befreites Leben rang sich daraus empor!
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Dn