Textdaten
<<< >>>
Autor: Hans Arnold
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Galeerensklaven!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, 24, S. 728–735, 756–763
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[728]

Galeerensklaven!

Ein Mädchenschicksal, erzählt von Hans Arnold.

Der Herbst war selten so schön, aber auch selten so früh in den Bergen eingekehrt wie dieses Jahr. Schon im September hatte der Wald – scheinbar über Nacht – sein Prachtgewand angelegt, er prangte in Kupferrot und tiefem Purpur, in bräunlichem Gold und hellleuchtendem Gelb – wo die Sonne hindurchschien, flammten die Blätter. Die scharlachroten Trauben der Eberesche hingen schwer dazwischen herunter. An dem niederen Strauchwerke standen die stumpfroten Rosenkönige und Hagebutten, die Pfaffenhütchen glühten aus dem hier und da noch grünen Laube, im zierlichen Gerank der Brombeersträucher hingen die reifen Früchte wie schwarze Kugeltrauben. Es war eine Farbenpracht und ein Farbengewirr im Herbstwalde, die fast etwas Berauschendes hatten, und über alle dem lag doch schon der leise, schmerzliche Hauch der Vergänglichkeit; er schwebte in der blassen Farbe des Septemberhimmels und in dem zarten, bläulichen Duft, der die Welt umgrenzte und sie doch wieder so unendlich weit, so lockend und so verheißungsvoll erscheinen ließ.

Wenn man in den Thüringer Wald tief hinein gewandert ist, wenn man die laute, lärmende, staubige Touristenstraße verläßt mit ihren Sonntagsausflüglern und Radfahrern, mit ihrem Geschrei und Rostwürstelgeruch, wenn man dem Flüßchen nachgeht, welches dieser Straße ein Stückchen das Geleite giebt und mit ihm eine scharfe Biegung macht, so kann man das wilde, eiskalte, fröhliche Bergwasser bis dahin begleiten, wo es als winziges Quellchen aus einer Wiese entspringt.

Von dieser Wiese, auf der man versucht ist, sich nach dem „Elfenreigen“ umzusehen, führt ein baumumstandener Weg nach einem einsamen Haus auf der Höhe.

Dies Haus hat ein so schweres großes Giebeldach – wie ein Hut, trotzig in die Stirn gezogen, daß man zuerst denkt, es könne gar nicht darunter vorsehen, ein Giebeldach, auf dem Moos zwischen den kleinen Schornsteinen wächst und unter dem man alles vermuten würde, nur keine Fremdenpension.

Aber doch hat eine solche sich darunter eingenistet, und wenn die laute geschwätzige Herde der eigentlichen Sommerfrischler auch noch in schwacher Anzahl hier vertreten ist, so hat sie doch auch zu diesem stillsten Fleckchen den Weg gefunden, und in den Sommerferien ist hier so wenig gut sein wie in den meisten Fremdenhotels, wenn auch vielleicht ein bißchen besser.

Wenn aber der Juli und August vergangen sind und der große Strom der Touristen sich verlaufen hat, von den langen Abenden und der scharfen Septemberluft in die Häuser und in die Geselligkeit zurückgejagt, dann findet sich hier alljährlich eine kleine Anzahl von Menschen zusammen. Das sind zumeist [730] Leute, die von der Natur noch etwas anderes wollen als sie anjodeln, schlechte Witze über sie machen und ihr zum Ruhme Ansichtskarten schreiben. Es sind vielfach Leute, die manches in sich und um sich loswerden wollen und die in dieser tiefen Stille über was denken und sprechen mögen, was „von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht“ wird und was im Lärm, im Treiben und Jagen des Alltagslebens selten zu Worte kommt.

Eine dieser alljährlichen Stammgästinnen der Pension, von den übrigen kurzweg „die Excellenz“ genannt, eine schöne, alte Dame mit weißen Haaren, strahlenden blauen Augen und dem fein ironischen Rokokogesicht, das dazu paßte, saß auf der breiten Plattform, die hinter dem Hause liegt und durch deren Glaswände man den prächtigsten Blick ins Thal hinunter hat, wie es so herrlich im Schutz und Schirm der Berge daliegt, in deren bunte Laubwände der Herbst mit seinem Pinsel noch unermüdlich neue Farbeneffekte hineinzaubert.

Die Excellenz hatte eine Schreibmappe vor sich liegen und schrieb eifrig, während ihr belebtes Gesicht das, was sie schrieb, durch sprechendes Mienenspiel gleichsam illustrierte.

Sie schrieb: „Du mußt mir schon noch acht Tage Nachurlaub bewilligen, mein lieber Alter – der kleine Roman, den wir hier alle miterleben, interessiert mich zu sehr, und das Schlußkapitel kann meiner Ansicht nach nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Ich schrieb Dir ja von den beiden Hauptpersonen, in die ich mich tout bonnement verliebt habe. Mir sind selten im Leben zwei Menschen begegnet, die auch äußerlich so ganz und gar zu einander stimmen. Denke Dir sie – das Mädchen – groß, schlank – fast zu schlank – von der Sorte, bei der Gemüt, Geist und Nerven zu viel mitsprechen, um den Körper ganz zu seinem Rechte kommen zu lassen – mit einem ernsthaften, stolzen, leidenschaftlichen Gesicht, mit den vornehmsten Händen und Füßen, mit krausen Haaren, in einer Farbe, wie bräunliches Herbstlaub mit einem Goldton darin; denke Dir in diesem Gesicht Augen, die durch jede Schattierung des Empfindens anders gefärbt werden, wie das Meer durch den Himmel. Und das Interessanteste an diesem interessanten Wesen ist, daß sie scheinbar erst hier so interessant geworden ist. Als sie ankam, machte sie den Eindruck eines scheuen, verschlossenen, fast finsteren Mädchens, das an der Grenze der Jugend und jenseit der Grenze der Illusionen steht. Sie erinnerte mich damals an eine Landschaft, über der ein düsterer Regenhimmel hängt. Aber ich sagte mir in den ersten zehn Minuten – Du weißt, Physiognomien studieren ist meine Leidenschaft – also ich sagte mir damals sofort: wenn da noch einmal die Sonne durch die Wolken bricht, wird das alles strahlen und funkeln, und in den Fenstern der unscheinbaren Häuser wird eine große, prachtvolle Glut entflammen. Und jetzt ist es so weit – jetzt steht sie in der Sonne!

Diese Sonne ist natürlich ein Mann – bitte, höhne ruhig über meine absolut lahmen Gleichnisse, mit denen ich doch weiter komme, wo es gilt, einen anschaulichen Begriff zu geben, als Du auf den beiden gesunden Füßen Deiner logischen Beschreibungen. Ja, bei dem Signalement dieses Mannes werde ich Dich gleich durch eine Unmenge von Fremdwörtern zur Verzweiflung bringen – für ihn giebt es trotz seines urdeutschen Aussehens nur Fremdwörter. Er ist fascinierend, er hat eine indolente Grazie, er hat Charme. Und damit sollst Du für die nächste Viertelstunde genug gestraft sein, denn die Bezeichnung ,Egoist‘, die den pikanten Schatten auf diesem sonnenhellen Bilde abgeben muß und die ich ihm nicht ersparen kann, ist heutzutage kein Fremdwort mehr – leider! Aber ich setze gleich einen kleinen Lichtreflex neben den Schatten – er ist ein Egoist, doch ein liebenswürdiger, ein unbefangener, einer, den alle Welt so lange verwöhnt hat, bis er es selbstverständlich findet. – Da Du nun, Deiner pedantischen Natur entsprechend, Näheres über diesen Vogel Phönix wirst wissen wollen, so kann ich Dir sagen, daß er sich für einen Maler ausgiebt und daß ich ihm kein Wort davon glaube. Ich halte ihn für einen angehenden Diplomaten oder dergleichen, denn er hat keine Spur von dem fatalen ‚Sichgehenlassen‘, das mich an diesen Künstlern schon so oft unheilbar gestört hat. Er kam vor vierzehn Tagen hier an; sie – aber ich will Dir die beiden mit Namen vorstellen: er heißt Kurt von Groden – sie Agnete Nordeck – Agnete, und wenn ich Dir sage, das; sie gar nicht anders heißen könnte, so machst Du Dir eine deutliche Vorstellung von ihr. Wer heißt heutzutage Agnete?

Die beiden jungen Menschen gingen einander zuerst so geflissentlich aus dem Wege, daß ich ganz ärgerlich wurde, sie streifte einsam, stumm und finster mit ihrem Skizzenbuche herum, achtlos auf alles und auf alle – er sah nicht einmal nach ihr hin bei Tisch, obwohl ihm sonst ein sehenswerter Anblick nicht zu entgehen pflegt. Ich sagte ihm einmal in meiner Ungeduld darüber: ,Wie können Sie nur einem so schönen Gesichte gegenüber sitzen und es nicht ansehen – das bringe ich als alte Frau nicht einmal zustande!‘ ,Ja, meine gnädigste Excellenz, Sie sind eben viel jünger als ich und als meine ganze Generation‘, erwiderte er mit seinem angenehmsten Lachen. Und ich lachte mit. ,Nun, da steht ja zu hoffen, daß wir mit der Zeit noch einmal Altersgenossen werden‘, sagte ich, und dabei blieb es. Denn denkst Du, daß selbst dieser direkte Appell an sein Schönheitsgefühl etwas genützt hätte? Nein, gar nichts! Erst eines Abends, als es früh dunkel und kühl wurde, wie es jetzt schon immer wird – als Agnete am Fenster saß und in dem aufsteigenden, klaren Vollmondlicht sich ihr Profil rein und scharf von dem dunklen Hintergrunde des Nachthimmels abhob – erst da erlebte ich es, daß er eine ganze Weile wie selbstvergessen dasaß und sein Auge nicht von ihrem Gesicht los bekam. – Ich wollte erst diskret sein, aber eine Silbe konnte ich nicht unterdrücken, ich sagte mit einem leisen Triumphgefühl zu ihm: ,Nun?‘ Da atmete er ganz tief auf und sagte auch nur eine Silbe – nämlich: ,Ja!‘ Aber wir hatten uns beide ganz gut verstanden und konnten uns füglich längere Sätze schenken.

Seit diesem Abend sind die beiden unzertrennlich geworden, sie sehen und hören eigentlich niemand anders als sich gegenseitig, aber es bleibt anscheinend dabei. – Ich möchte für mein Leben gern wissen, was es mit diesem Mädchen für eine Bewandtnis hat, was für eine Geschichte sie hat! Denn daß sie eine hat, ist mir so sicher, wie daß zweimal zwei vier ist – nein, viel sicherer, denn das werdet Ihr einem ja eines schönen Tages auch noch mal abdisputieren wollen.

Was ich über Agnete erfuhr – aus sicherster Quelle –, ist ganz alltäglich. Sie ist die verwaiste Tochter eines hohen Beamten in sehr guter Vermögenslage, wofür auch ihre ganze Erscheinung und Ausrüstung im Kleinkram spricht; sie lebt mit einer alten unverheirateten Stiefschwester zusammen. Es ist alles klipp und klar und einfach, und dabei hat sie – auch jetzt, wo sie sich so glücklich fühlt, wie man es nur ein einziges Mal im Leben fertig zu bringen pflegt – auch jetzt hat sie das Gesicht eines Menschen, der ein schweres Schicksal mit sich herum schleppt. Ein Zug, der besonders anfangs fast immer um ihren Mund lag, ist nicht der Zug von jemand, der etwas hinter sich hat, sondern der es noch bei jedem Schritt auf den Schultern fühlt. Du kennst mich nun, wo unsere Silberhochzeitskränze schon einen bedenklich goldenen Schimmer bekommen, gut genug, um zu wissen, daß ich nicht abreisen kann, ehe ich erlebt habe, was aus diesem Paar – meinem Paar, wie ich sie nenne – wird! Ich käme vielleicht, wenn Du es mir befehlen würdest, aber sicher nur, um mit dem nächsten Zuge wieder hierher zu reisen. Denn ich möchte zu gern wissen, was er sagen wird, was sie sagen wird, und wie sie beide aussehen werden, nachdem sie es gesagt haben. Und ich möchte auch wissen, weshalb es so lange dauert, bis er es ihr sagt. Sie sind freilich fast gleich alt, aber das kommt doch öfter vor. Du siehst, ich bin noch unbedingt nötig hier, und darum mußt Du noch acht Tage länger allein haushalten. Warum mag er es ihr bloß noch nicht sagen?“


Indessen die alte Dame diesen Brief schrieb, saß Agnete allein im Walde an ihrem Lieblingsplatz und ließ die Gedanken mit den weißen Herbstfäden in die sonnendurchwärmte Luft flattern – und zerflattern. Sie sprach leise vor sich hin, wie sie das öfters that, wenn sie allein war, aber sie war hier nicht ganz allein – sie war bei „ihrem Baum“!

In den allerersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Pension hatte sie einen Gang in den Wald unternommen und war am Eingang einer kleinen Wiese stehen geblieben. Unter dem stämmigen Buschwerk, das diese Wiese einfaßte, wuchs ein [731] einziger, ernsthafter, schlanker Buchenstamm in die Höhe mit einer prachtvollen Krone, die er königlich trug. Jetzt war diese Krone auch schon goldfarbig geworden, nur ein einziger Zweig ragte noch in sommerlicher Schönheit frisch und grün empor und triumphierte gleichsam über die andern. Diesen Baum liebte Agnete vom ersten Blick an, wie sie bis dahin nie ein belebtes oder unbelebtes Etwas geliebt hatte. Sie hatte in seiner Nähe ein seltsames, märchenhaftes Gefühl, als wenn sie einander verständen, sie erzählte ihm alles, was sie erlebte und was sie hoffte und dachte, sie konnte auch den fröhlichsten Unsinn an ihn hin plaudern, seit sie wieder jung und glückselig thöricht geworden war wie mit sechzehn Jahren. Jawohl, sie war wieder jung geworden, und das heimliche Entzücken, mit dem sie sich das sagte, war auch so jung! Sie sah die Zukunft seit einigen Tagen nicht vor sich wie eine große graue Nebelwand, die näher kommt mit leisen, gespenstigen Schritten und uns einmal in ihrem farblosen Mantel mitnehmen wird – sie sah sie vor sich wie eine wundervolle Sternennacht, in die man abends schweigend hineinsieht, in die man ungezählte, funkelnde, flimmernde Luftschlösser hineinbaut, in der man von einem unglaublichen Glück träumt und ganz wahrscheinlich findet, daß es einmal wie eine Sternschnuppe auf einen hernieder fallen wird.

Agnete war eine verschlossene Natur, sie hatte ihre Mutter nie gekannt, nie eine Freundin gehabt und hätte ihr auch nichts zu vertrauen gewußt; aber diesem Baume gegenüber konnte sie alles sagen, und wenn es dann so sachte in seinen Wipfeln rauschte, dann hatte sie immer das Gefühl, daß er ihr antwortete.

Als sie Kurt Groden kennenlernte und schon in der ersten Stunde des Zusammenseins den Zauber seines Wesens an sich empfand mit einer Tiefe und Gewalt, vor der sie selbst erschrak, weil sie nie etwas Aehnliches erlebt hatte, da hatte sie auch das „ihrem Baume“ erzählt. Er erinnerte sie oft an diesen Liebling: in der stolzen Art, wie er den Kopf trug, wie in der eigenen Klangfarbe seiner Stimme, die bei aller Wärme und Frische doch einen Anklang von liebenswürdigem Spott hatte. Sie saß jetzt ganz still am Fuße des Baumes und schloß die Augen: sie versuchte diese Stimme zu hören. Sie schalt sich selbst, wenn sie daran zurückdachte, wie alt sie sich schon vorgekommen war, wie fertig und wie abgeschlossen, wie sie in diesem Gefühl so ohne Fragen und Bedenken die täglichen Waldspaziergänge mit dem neugewonnenen Freunde unternommen hatte! Ich altes Mädchen! hatte sie halb bitter, halb wegwerfend zu sich selbst gesagt, als ihr der Gedanke zuerst befremdend erschien, sich so über das Hergebrachte hinwegzusetzen. Und jetzt? „Ich bin ja doch noch jung!“ sagte sie laut vor sich hin, mit einem rührenden Zweifel in der Stimme, „ich bin ja doch noch jung; meine Jugend hatte nur ihre Flügel zusammengefaltet, weil ich so lange im Schatten gelebt habe, und jetzt wird sie wieder fliegen lernen.“ –

Während sie so saß und träumte und von der Außenwelt nichts sah und hörte, war ein leichter, rascher Schritt näher gekommen und hielt jetzt vor ihr still.

Sie schlug die Augen auf und sprang mit einem leichten Erröten auf die Füße, während sie die Arme, wie schutzsuchend, um den Buchenstamm legte.

„Immer bei diesem Baum!“ sagte die tiefe Stimme, die sie eben in Gedanken so deutlich gehört hatte, mit einem leichten Anflug von Ungeduld, „wissen Sie, daß ich auf diesen Baum eifersüchtig bin?“

Sie schüttelte leicht den Kopf, ohne zu antworten.

„Und das nennen Sie malen?“ fuhr er strafend fort und nahm den Hut vom Kopfe, „und jagen mich seit einer Stunde umher, an allen unseren Skizzierplätzen? Mit was wollen Sie nun bestraft sein?“

Seine kecken, lachenden Augen wichen nicht einen Augenblick von ihrem Gesicht.

„Indem ich Sie belohne,“ sagte sie, verwirrt und hastig sprechend. „Sehen Sie die kleine Wiese? Dort wollte ich heute skizzieren und bin nur wieder nicht von meinem Lieblingsplatz losgekommen. Dort können Sie herrlich nichtsthun, und ich werde nun wirklich zeichnen!“ – Und wenig Minuten später waren sie beide auf der Waldwiese.

Sie saß auf einem Baumstumpf, das Skizzenbuch auf den Knieen; er lag der Länge nach im Grase und trank aus dem krystallklaren Bache der reizenden Gegenwart, als wenn er nie etwas anderes zu thun dächte.

Und daß diese Gegenwart reizend war, wer wollte es leugnen! So im herbstwarmen, goldgrünen Grase zu liegen, den Kopf auf den Armen, in das Stückchen Septemberhimmel zu blinzeln, das durch die Bäume schien, den leisen Heuduft zu spüren, der in der Luft schwamm, und nichts zu hören als den jeweiligen, leisen Fall einer überreifen Kastanie oder Nuß, die sachte auf dem Boden fortrollte, und das Glucksen und Schluchzen des kleinen Baches, der ein paar Schritte weiter fast unsichtbar durch das Waldmoos kroch und seine geheimnisvolle Geschichte vor sich hin erzählte!

Und bei alledem noch das Bewußtsein, daß zehn Schritte weiter ein reizendes Mädchen sitzt, ihr Skizzenbuch vor sich, und es verstohlen versucht, das ihr sichtlich sympathische Gesicht des Gegenübers aufs Papier zu bringen, trotzdem sie thut, als wenn sie den alten Eichbaum abzeichne – was will man mehr?

So gab sich Kurt Groden sorglos und fraglos dem Zauber der Minuten hin, eine fast zärtliche Freude an seiner Umgebung kam mit träumerischer Gewalt über ihn.

Auch er hatte sein Skizzenbuch mit sich, es lag aufgeklappt neben ihm, der Stift ein Stückchen davon, als wenn er in der bewußtesten Freude am Nichtsthun weggeschleudert worden wäre – und das war er auch.

Die beiden sprachen zunächst kein Wort, er aus elementarem Wohlbehagen an seiner augenblicklichen Situation, sie in der ungeteilten Hingabe an ihren Versuch, seinen Kopf wiederzugeben. Jetzt – jetzt hatte sie den unnachahmlichen, kecken und dabei träumerischen Ausdruck getroffen, der ihr so oft vorschwebte, wenn sie allein war, und mit einem leisen Aufatmen ließ sie einen Augenblick den Bleistift sinken.

Er hob den Kopf und stützte ihn in die Hand – ihm schwebte einen Augenblick die neckende Frage auf den Lippen: Nun, bin ich ähnlich geworden? Aber er unterdrückte sie ebenso schnell, denn er wußte, daß sie sie ihm nicht verzeihen würde.

Schon bei seiner leisen Bewegung deckte sie hastig die Hand über das Blatt und wandte den Kopf ab, aber er sah doch, daß ein tiefes Rot sich langsam über ihr Gesicht ergoß, bis unter die Haare hinauf.

Er lächelte vor sich hin und ließ dann sein Auge wieder traumverloren in die Wipfel gehen, die noch grün und sommerlich aussahen in dieser tiefen Waldstille, wo die Sonne den Weg nicht oft hin fand.

„Das ist es, was mich in der Stadt oft so unglücklich macht,“ sagte sie, ohne Einleitung oder Uebergang, wie es ihre Art war, „das Ruhelose, daß so ein Lärm den andern ablöst und man auch in der Nacht das Gefühl hat: es schläft nicht alles, und hier dies entzückende absolute Stillsein, dies Hören auf die Stille – dabei kommt man auch selbst mal innerlich zu Worte!“

„Und ganz still ist es doch auch hier nicht,“ sagte er und wies mit der Hand auf die Baumwipfel, die sich leise rauschend bewegten.

Sie schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das ist auch Stille,“ erwiderte sie lebhaft, „dies Geflüster der Bäume – vergleichen Sie damit einmal das Geschwirr und Geschrei der Menschenstimmen, das Räderrollen und Fußstapfen und alle die undefinierbaren Partikelchen, die Lärm machen! Nein – für mich ist dies Stille!“

Er sah nachdenklich aus. „Als Abwechslung, ja,“ gab er zurück, „aber als Norm für mein Leben brauche ich Bewegung, Unruhe und auch ein gewisses Durcheinander von Eindrücken, was man wohl mit ,Lärm‘ bezeichnen könnte. Denken Sie sich ein Leben hier!“

Sie sah still vor sich hin.

„Ich könnte es sehr gut aushalten,“ sagte sie dann träumerisch.

Er sah sie fest an.

Allein?“ frug er bedeutsam.

Sie wich seinem Blick unsicher aus, stand auf und klappte ihr Skizzenbuch zusammen.

[732] „Wir wollen heimgehen,“ sagte sie, „es ist bald Mittagszeit.“

Er entgegnete nichts, und sie gingen zusammen den Waldweg entlang, in dem glückseligen Schlendertritt, der ihnen durch so manche gemeinsame Wanderung zur Gewohnheit geworden war.

Die Sonne schien wie traumhaft durch die Blätter, sie zeichnete helle, wechselnde Flecken auf den Sandboden und in das kurze stämmige Moos, in dem unzählige Käfer, Würmer und Spinnen eilfertig und wichtigthuend durcheinander krochen.

Der kräftige, harzige Tannenduft strömte aus den geraden schlanken Stämmen, die lackierten, steifen Blättchen der Preiselbeersträucher glänzten und die festen roten Kügelchen der Preiselbeere glühten auf in der Herbstsonne.

„Wie lange wird man nun hier noch so beisammen sein?“ frug er plötzlich und unvermittelt.

Sie wurde ganz blaß und blieb stehen.

„Nicht davon sprechen!“ sagte sie mit bebender Stimme.

Er sah sie gedankenvoll an.

„Es kommt ja doch einmal!“ erwiderte er.

„Ja!“ sagte sie, „es kommt alles einmal, das Alter, der Tod, das Voneinandergehen; aber so lange es noch nicht da ist –“

Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen, dann ging sie rasch weiter, daß er ihr kaum zu folgen vermochte.

„Aber muß es denn kommen?“ fragte er wie gegen seinen Willen.

„Was meinen Sie?“ gab sie fast unhörbar zurück.

„Das Voneinandergehen meine ich!“ sagte er ebenso leise.

Sie sah ihn verwirrt an, es kämpfte eine große Unsicherheit und eine plötzliche Seligkeit in ihr, keines sprach ein Wort.

Da schlug plötzlich die kleine Uhr der Dorfkirche scharf und klingend die Stunde. Er strich sich, wie aufatmend, das blonde Haar von der Stirn.

„Es ist schon sehr spät,“ sagte er, „wir müssen uns wohl beeilen, hinunter zu kommen.“

Sie sprachen kein Wort mehr und sahen sich nicht mehr an, bis sie vor der Pension angelangt waren.

Er hielt ihr mit ceremoniöser Höflichkeit die Thür offen und ließ sie vorübergehen; sie warf ihm einen scheuen Blick zu und verschwand im Hause, er sah ihr nach, wie sie so schlank und groß die dunkle Holztreppe hinaufging.

„Ich habe eigentlich schon mehr gesagt, als ich wollte,“ murmelte er etwas unzufrieden vor sich hin, „aber wenn ich es mir recht überlege, habe ich eigentlich gar nichts gesagt – das war ja nur eine ganz allgemeine Redensart.“

Er fehlte am Abendtisch.

„Herr von Groden ist auf den Anstand gegangen, der Rehbock tritt heute abend heraus,“ sagte der Oberkellner und nahm das leere Couvert neben Agnete fort. Es störte sie nicht, daß er nicht da war. Sie befand sich noch immer in dem Zustand verworrener Glückseligkeit, der sie den ganzen Tag wie ein taufunkelndes Spinngewebe eingeschlossen hatte. – Sie sagte sich die Worte „Muß man denn voneinander gehen?“ so oft vor, daß sie ihr von Zeit zu Zeit gar nicht wie Worte erschienen, die etwas bedeuteten, sondern wie ein sinnloser, leerer Klang, und dann jagte sie ihnen gleichsam nach, bis sie ihr wieder etwas zu sagen hatten.

In diesem Traumleben sah sie so schön aus, so blaß mit strahlenden Augen, daß alle Blicke sich an diesem Abend wieder und wieder nach ihr hinwandten.

Die alte Excellenz strich ihr über das Haar, als sie sich zum Gutenachtsagen über ihre Hand beugte.

„Sie sehen aus, als ob Sie der Waldfee begegnet wären, Kind,“ sagte sie lächelnd.

„Das bin ich vielleicht,“ erwiderte Agnete mit einem lieblichen Uebermut, der ihr um so reizender stand, als man ihn so gar nicht an ihr gewöhnt war.

„Nun, wir werden wohl etwas erleben,“ sagte die Konsistorialrätin zu ihrer unzertrennlichen Nachbarin, der Majorin, die wohlwollend zu der Bemerkung lächelte, „die Sache mit unserem Fräulein Nordeck und Herrn von Groden scheint mir nunmehr in Richtigkeit zu sein.“

Die Majorin sah etwas bedenklich aus. „Aber warum war er den ganzen Abend nicht da, liebe Frau Konsistorialrätin; das schien mir, offen gestanden, ein bißchen unheimlich.“

„Der Rehbock, beste Seele – der Rehbock! Man sieht, daß Ihr Herr Gemahl kein Jäger ist – über den Rehbock geht den Herren nichts!“

„Nun, mich sollte es freuen,“ bemerkte die Majorin, „und Vermögen ist ja auch beiderseits da!“

„Wissen Sie das gewiß?“ frug die Konsistorialrätin.

„Haben Sie sein Gepäck nicht gesehen, liebste Frau Konsistorialrätin? die gelbe Ledertasche und den Juchtenkoffer? Solche Kleinigkeiten reden lauter als Worte.“

„Na, und sie ist auch verwöhnt, das merkt man bei jedem Schritt; da ist es auch nötig, daß die äußeren Verhältnisse stimmen,“ schloß die Konsistorialrätin.

Und während so die Welt mit ihrem Rechnen und Wägen und Reden sich anschickte, den Blütenstaub unter die Lupe zu nehmen, stand Agnete in ihrer Stube und horchte auf das Sausen und Raunen der Herbstnacht – und sah auf den düstern Himmel, an dem hier und da ein blasser Stern auftauchte, beim Gedanken an das große nahe Glück so atemlos wie jemand, der in das Meer springen will, es so wundervoll findet und sich doch davor fürchtet. – „Aber es kommt – es kommt!“ sagte sie zuversichtlich vor sich hin, und ihre Augen strahlten.

Und die Sterne schwiegen geheimnisvoll.


Am nächsten Tage war die Gesellschaft, wie immer um diese Stunde, auf der Plattform versammelt, um den Nachmittagskaffee zu nehmen und gleichzeitig die Ankunft des Postboten zu erwarten, der in dem gleichmäßigen Verlauf des Tages hier die wichtigste und willkommenste Unterbrechung war.

Die Gruppen hatten sich heute etwas aus der gewohnten Ordnung verschoben. Groden, der sonst immer seinen Platz neben Agnete fand, war heute sichtlich verlegen und gezwungen, er vermied es, sie anzusehen oder anzureden.

Er umgab sich mit einer Phalanx von Herren, denen er seine gestrigen Jagderlebnisse erzählte. Sein lebhaftes Gesicht mit den feurigen Augen erzählte mit, er verstand es, scheinbar unabsichtlich, sich immer zum Mittelpunkt des Kreises zu machen, den er gerade unterhalten wollte.

Agnete saß auf der hölzernen Balustrade der Plattform, den Arm um einen der Stützpfeiler geschlungen, und sah stumm in die Weite, in den Himmel, an dem heute in der Tiefbläue sich ein paar weißgelbliche, drohende Wolken zusammenballten. Es zitterte alles fast sichtlich unter der schwülen Glut der ersten Nachmittagsstunde, die ihr ehernes Scepter über den müden Menschen schwang.

Die Stimmung war ohnehin heute gedrückter, als sie es sonst in dem kleinen Kreise zu sein pflegte. Man hatte soeben ein abreisendes Ehepaar zum Wagen geleitet, welches nur für kurze Zeit in der Pension war und durch sein finsteres, gleichgültiges Miteinanderleben, das nur durch einzelne heftig bittere Meinungsverschiedenheiten unterbrochen wurde, einen beklemmenden und traurigen Eindruck auf die übrige Gesellschaft hervorbrachte.

Man stand diesen beiden mit der Empfindung gegenüber, daß es Menschen seien, die hier in der Einsamkeit und Stille noch einen erneuten – vielleicht letzten – Versuch gewagt hatten, sich zu verstehen, sich einander innerlich zu nähern – und daß dieser Versuch wieder gescheitert war. Dies Paar, so eng verbunden, erschien sich und anderen wohl weiter getrennt als je, da sie so schweigsam und düster im offenen Wägelchen miteinander in die herrliche Natur hinein fuhren, die ihnen von ihrem köstlichen Herbstfrieden nichts zu verleihen vermochte.

Ein allgemeines, gedankenvolles Verstummen folgte dem Abschied und dem Verschwinden des Gefährtes, das eben dort um die Ecke der Fahrstraße bog.

„Wir reden so viel von Sklaverei, von Lohnsklaverei und Sklavenhandel und ziehen mit der ganzen Armatur unserer sittlichen Empörung dagegen zu Felde,“ sagte Groden, der dem Wagen noch immer nachblickte; „die traurigsten Sklaven sind doch die Menschen, die durch ein voreiliges Wort, durch ein unbesonnenes Hineintappen oder Hineinspringen in die Ehe sich selbst zeitlebens an die Kette legen oder daran gelegt werden. Ich kann darum keinen Polterabend, keine fröhlichen Hochzeiten mit [734] den Verheißungen für Silber- und Goldhochzeit leiden – ich habe so oft die Empfindung, daß solche Feste das erste Glied jener Sklavenkette bilden, an der sich schon ungezählte Tausende Wund und müde getragen haben und noch tragen werden!“

„Solche Menschen sind aber nicht wie Sklaven,“ erwiderte die Excellenz, „die sich beugen, sich bücken und krümmen müssen unter Lasten, die dann aber nach des Tages Hitze doch wieder sich selbst gehören und das bißchen armselige, zerquälte Ich, das ihnen bleibt, wieder retten können – oder doch den Versuch dazu machen, so lange ihre Kraft reicht! Sie sind Galeerensklaven – zwei, die an eine Kette geschmiedet sind, deren einzelne Glieder noch dazu mit schönen, hochtönenden Namen, wie Treue, Liebe, Pflicht oder dergleichen, benannt werden – die sich des Hohnes dieser Bezeichnungen bewußt sind und an der Kette zerren, Tag und Nacht – die mit jedem Versuch, ihre Gefangenschaft zu erleichtern, nicht nur sich, sondern den andern unheilbar mit verwunden – und sie sind die Unglücklichsten, von ihnen gilt Dantes Wort, daß sie alle Hoffnung fallen lassen sollen!“

Agnete hatte während dieses Gespräches kein Wort gesagt, sie war nur bei der Bezeichnung „Galeerensklaven“ zusammengezuckt und hatte die Sprecherin einen Augenblick mit dem starren, entsetzten Blick des Schlafwandlers angesehen, den man bei Namen ruft und der sich plötzlich bewußt wird, daß er über einem Abgrunde schwebt. Dann wandte sie den Kopf und schien der Unterhaltung keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.

„Ja, solange wir eben die Ehe nicht abschaffen, wird es auch noch solche Galeerensklaven geben!“ bemerkte ein anderer aus der Gesellschaft. „Das ist wieder einer jener zahllosen Fälle, wo man von zwei Uebeln das kleinere wählen muß.“

„Es giebt ja doch auch nicht nur in der Ehe Galeerensklaven,“ erwiderte die Excellenz gedankenvoll. „Sehen Sie in die scheinbar glattesten und glücklichsten Verhältnisse einmal tiefer hinein, nehmen Sie Eltern und Kinder, Geschwister – was Sie wollen – als Beispiel: jeder Verwandtschaftsgrad kann zum Galeerensklaventum werden, wenn er ein Loslösen unmöglich macht und wenn gerade solche Menschen vom Geschick zusammengeschmiedet sind, die sich an diesem Zusammenleben wund reiben.“

„Solche Möglichkeiten darf man eben sich und anderen nicht zugestehen,“ nahm die Konsistorialrätin in sehr überlegenem Tone das Wort, „die Familie ist dazu da, daß ihre einzelnen Mitglieder sich ineinander fügen lernen und jeder des anderen Schwächen erträgt. Wohin kämen wir, wenn wir das nicht mehr gelten lassen wollten?“

Ein derartiger Gemeinplatz pflegt allgemeine Gespräche erfolgreich zu beenden, weil sich zu wenig, oder – zu viel darauf entgegnen ließe, und so geschah es auch hier. Jeder spann seine Gedanken für sich fort, und eine allgemeine Stille folgte den letzten Worten.

Agnete war während dieser Zeit von niemand beobachtet worden als von Kurt Groden. Nur er hatte gesehen, daß der Postbote ihr im Vorübergehen einen Brief hineinreichte, daß sie beim Erblicken der Handschrift sichtlich erblaßte und zusammenfuhr – nur er hatte gesehen, daß sie beim Lesen dieses Briefes noch immer blässer wurde und ihn schließlich mit einer Gebärde unaussprechlicher Müdigkeit in den Schoß sinken ließ. Dann saß sie regungslos und sah vor sich hin, mit einem so besiegten fertigen Ausdruck wie jemand, der wieder einmal erkannt hat, wie schwach der Mensch und wie stark das Leben ist.

Groden biß die Zähne zusammen bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die ihre Erregung zuließ. – Daß ein Geheimnis in ihrem Leben war, hatte er ja auch schon manchmal geahnt, aber worin dieses Geheimnis bestand, dafür fehlte ihm jeder, auch der kleinste Anhalt. Dieser Brief gab vielleicht – nein, wahrscheinlich darüber Aufschluß.

Groden beteiligte sich mit keinem Worte mehr an der Unterhaltung der übrigen Gesellschaft, die allgemach wieder in Fluß gekommen war, er saß im Schaukelstuhl, anscheinend mit den Rauchwölkchen seiner Cigarette beschäftigt, in Wirklichkeit verwandte er über diese hinweg keinen Blick von Agnetens blassem Gesicht.

Die strickenden, plaudernden Damen fanden während ihrer Gespräche genügend Zeit, allerlei Kommentare zu diesem leidenschaftlichen, unverwandten Hinstarren in die Fäden und Maschen ihrer Arbeiten zu verweben und sich durch kleine, vieldeutige Augenwinke darauf aufmerksam zu machen – die Sache machte ja anscheinend rasende Fortschritte – man würde wohl heute oder morgen etwas erleben!

Und in Grodens Gedanken reifte in den Nachmittagsstunden dieses glühheißen Gewittertages wirklich der Entschluß, zu sprechen – womöglich heute noch.

Er wußte durch geschickt gethane Fragen und Erkundigungen genug von Agnetens äußeren Verhältnissen, um seine Absicht nicht übereilt zu finden. Als echt moderner Mensch hatte er diesen Haupt- und Kardinalpunkt sehr energisch in die Wagschale seiner Fragen und Bedenken geworfen.

Daß ihn nebenbei – oder nicht nebenbei! – dies schöne, herbe, hochmütige Mädchen, dies nicht mehr junge, nicht blendende, nicht gewandte Mädchen mehr und gewaltsamer anzog als die ungezählten anderen, die ihn für kurze Zeit zu fesseln vermocht hatten, das war ihm klar. Er hatte die instinktive Empfindung, daß sein Einfluß auf sie so groß war, wie es selbst ihn überraschte, der in dieser Beziehung schon genügende Erfahrung besaß.

Wie anders war sie nicht schon unter diesem Einfluß, unter dem Zauber seiner ganzen Persönlichkeit, geworden! Wirklicher Schmerz und wirkliches Glück gleichen ja darin der südlichen Sonne, daß sie mit Sturmesschnelle einen ganzen Blütenwald von Eigenschaften, von Gefühlen und Gedanken reifen, die in der blassen Alltagstemperatur vielleicht alle verkümmert wären!

Aber stärker als diese Erwägung, die ihm nicht einmal ganz klar wurde, war im gegenwärtigen Augenblick ein anderes Gefühl, eine brennende Eifersucht auf den unbekannten Schreiber jenes Briefes, der das Mädchengesicht dort drüben so tief und so schmerzlich erblassen ließ – der plötzlich wieder den bittern, hoffnungslosen Zug um ihren Mund zeichnete, den die letzten sonnigen Tage so ganz verwischt und verlöscht hatten.

„So soll sie nicht mehr aussehen – nie mehr, wenn ich es ändern und hindern kann!“ gelobte er sich, in dem heißen Aufwallen der Empfindung, ein Glücksspender sein zu können, als welcher sich grenzenlos verwöhnte Menschen so gern einmal erscheinen – der Abwechslung halber.

Und in diesem Gefühl sprang er plötzlich auf und trat zu ihr. „Wollen wir heute die Skizze von gestern fertig machen?“ fragte er mit dem bedeutsamen Ton, durch den er auch die alltäglichsten Dinge so beredt zu machen verstand.

Sie erhob sich schweigend und verbarg den Brief in ihrer Tasche. Er hatte im ersten Augenblick das Gefühl, als könnte er ihr das Blatt mit Gewalt entreißen – als müßte er vor all diesen Menschen sagen: Was steht in dem Brief? Wie darf dich etwas so erregen, das nicht im unmittelbaren Zusammenhange mit mir steht?

Aber er beherrschte sich und vermochte im nächsten Augenblick fast über seine eigene Erregung zu lächeln – sie würde ihm schon sagen, was er wissen wollte, davor war ihm nicht bange!

„Wollen wir skizzieren?“ frug er noch einmal, da sie nicht geantwortet hatte.

Sie nickte stumm und nahm den großen Hut vom Nagel.

Als die beiden, nach flüchtigem Abschied von der übrigen Gesellschaft, den glühheißen Weg nach dem Walde dahingingen – nicht, wie sonst immer, plaudernd und lachend, sondern jedes still für sich in Gedanken versunken, die vielleicht recht verschiedene Wege führten, da sahen ihnen die Damen von der Plattform aus eine ganze Weile mit befriedigten Blicken nach.

Endlich sagte die Konsistorialrätin mit vielsagendem Lächeln: „Heute wird wohl die bewußte Angelegenheit zum Klappen kommen!“

Die Excellenz schüttelte leicht den Kopf. „Sie hätte nicht mit gehen sollen!“ meinte sie nachdenklich und zweifelhaft.


Die schwüle, drückende Luft, die wie ein Mantel herniederhing, schien sich auch auf die Stimmung der beiden Menschenkinder zu legen, die da so langsam und schweigsam miteinander in den Wald schritten.

[735] Kurt Groden warf von Zeit zu Zeit einen raschen, scharf forschenden Blick auf seine Begleiterin. Sie trug den Kopf tief gesenkt, wie unter einer unsichtbaren Last, und sah nicht ein einziges Mal nach ihm hin, der große Strohhut warf einen fremden Schatten über das verdüsterte Gesicht. Die weiche Lieblichkeit der Züge war so sonderbar verändert, als wenn eine erbarmungslose Hand darüber hinweg gewischt und den Zauber und Schmelz der Jugendfrische abgestreift hätte.

Sie sieht heute nicht gut aus, dachte Groden mit einem leisen Unbehagen und zog die Augenbrauen zusammen; es störte ihn mehr, als er selbst für möglich gehalten hätte.

In dem Augenblick sah Agnete zu ihm in die Höhe und gewahrte den finsteren verdrossenen Ausdruck ihres Begleiters.

„Sind Sie verstimmt?“ frug sie hastig und mit einer unverkennbaren Angst im Ton; „seien Sie es nicht! bitte! nur heute nicht! wer weiß, was morgen kommt! Heute sollen Sie noch lustig sein, so wie sonst immer!“

Er schwieg einen Augenblick, wie unschlüssig; sein Gesicht hatte sich nicht aufgehellt. „Sie sind ja selbst verstimmt!“ erwiderte er zögernd.

„Ja, eben darum! Wenn man im Schatten sitzt und friert, möchte man doppelt gern Sonnenschein um sich haben,“ gab sie traurig zurück.

Er blieb stehen und sah wie prüfend in ihr Gesicht.

„Und warum sind Sie im Schatten?“ frug er, „was hat sich seit heute mittag so Wichtiges verändert? Haben Sie schlechte Nachrichten mit der Post erhalten?“

Sie wurde noch einen Schein blässer, ein bitteres Lächeln spielte flüchtig um ihren Mund. Sie zuckte die Achseln. „Ja – und nein – wie man es auffassen will,“ antwortete sie in herbem Ton.

„Ich dachte es mir,“ erwiderte er und sprach dann nichts mehr: er köpfte nur im Weiterschreiten Gräser und Blätter mit seinem Stocke, als müßte er seiner Heftigkeit irgendwie Ausdruck schaffen.

Sie sah ihn, wie plötzlich aufgeweckt, an. „Ach, hat Sie das verstimmt?“ frug sie dann mit einem unsicheren, zweifelnden Ton. „Was dachten Sie denn?“

Er schwieg noch eine ganze Weile und sah in den Himmel, der jetzt mit bleigrauen, schweren Wolkenmassen sich versteckte und verpackte; ein sausender, pfeifender Wind strich pötzlich durch die Bäume und ließ sie tief aufstöhnen wie in ahnungsvoller Qual.

„Das Wetter kommt näher“, bemerkte Groden statt jeder anderen Antwort auf ihre Frage.

Sie blieb stehen. „Was dachten Sie denn? Bitte – was?“ wiederholte sie, und in ihrem Ton klang es durch wie eine versteckte, zitternde große Freude.

„Ich dachte – wenn ich es denn durchaus sagen soll – der Brief käme von einem Menschen, der augenscheinlich mehr Einfluß auf Ihre Stimmungen hat, als ich das von mir behaupten kann,“ sagte er kalt.

Sie ließ den Kopf sinken und erhob ihn nicht, während sie sprach.

„Da haben Sie recht!“ antwortete sie düster, „aber warum fragen Sie nicht weiter?“

„Ich habe keine Berechtigung dazu, mich in Ihr Vertrauen zu drängen,“ erwiderte er, immer in demselben kalten Ton.

Sie lächelte mit einem gequälten Ausdruck.

„Sie denken natürlich, es handle sich um eine Liebesgeschichte,“ sagte sie hart und verächtlich; „in den Augen der meisten Menschen kann ja ein Mädchen durch nichts glücklich oder unglücklich gemacht werden als durch eine Liebesgeschichte. Und wenn Sie wüßten, wie wenig Liebe – in jedem – jedem Sinn genommen, mit meiner Geschichte zu thun hat, mit meiner dummen, unerklärlichen, den meisten Menschen so absolut unverständlichen Geschichte – wie in dem ganzen öden Buch, das ich über mein Leben schreiben könnte, das Kapitel ,Liebe‘ gar nicht vorkommt! Nein, es handelt sich um ein viel nüchterneres Verhältnis – Sie würden arg enttäuscht werden, wenn Sie etwa einen Roman erwarten.“

Er sah plötzlich erheitert und froh aus, sein Gesicht hatte dann gleich etwas so seltsam Strahlendes, es warf einen Wiederschein auf die Menschen, die mit ihm zusammenkamen.

„Ich weiß nicht, was ich erwartete,“ sagte er, „ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt etwas erwartete; mich hat nur der Gedanke heute so namenlos ungeduldig gemacht, daß ein Brief, ein Blatt bekritzeltes Papier die Macht haben sollte, Sie so ganz zu verwandeln – so zu verwandeln, wie es einem Menschen in dieser ganzen Zeit unsers Zusammenlebens noch nicht gelungen ist.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

„Glauben Sie?“ frug sie dann.

Sie gingen eine ganze Weile stumm nebeneinander her, ohne darauf zu achten, daß das Unwetter mit Pfeilgeschwindigkeit näher kam, daß eine plötzliche Dunkelheit hereinbrach, die mit der Tagesstunde nichts zu thun hatte, und daß in der graugelben Wolkenwand vor ihnen schon ein unaufhörliches Blitzen und Leuchten begann. Ganz in der Ferne ließ sich ein dumpfes Grollen hören, wie das Knurren eines gereizten Raubtieres, das nur den geeigneten Augenblick erwartet, um sich auf seine Beute zu stürzen.

Es lag etwas Gespanntes, finster Erwartungsvolles in der Luft – plötzlich lohte ein greller, verderblich schöner Blitz in ihrer nächsten Nähe nieder, ein krachender, majestätischer Donnerschlag folgte, und in Strömen goß der Gewitterregen über die beiden Wanderer herab und peitschte in langen Schnüren auf sie nieder. Der Sturm schrie ein wildes, gewaltiges Triumphlied durch den Wald, er brach Zweige und Aeste von den Bäumen, wirbelte sie umher und warf sie höhnend auf den Weg. „Ihr habt gegrünt – Ihr werdet nie mehr grünen!“ – Die nächsten Minuten waren von einem so betäubenden Rauschen, Prasseln und Dröhnen erfüllt, daß kein Raum für die kleinen Menschenstimmen blieb – mochten sie noch so Wichtiges zu sagen haben.

Die beiden sprachen auch nicht, nur einmal sagte Groden rasch und herrisch: „Fürchten Sie sich nicht!“ Und sie sah zu ihm auf und erwiderte atemlos: „Nein!“ – aber mit einer Welt von Vertrauen in dieser einen Silbe.

So kämpften sie sich ein paar hundert Schritt weiter durch das tobende Wetter, bis sie eine kleine, verfallene Jagdhütte vor sich sahen, deren Thür halb offen stand. Groden zog seine Begleiterin hinein, mehr, als sie ging; sie fühlte das schützende Dach über sich und atmete erleichtert auf. Er schob einen Heuhaufen zurecht, der noch an der Thüre lag, und legte seinen Mantel darüber.

„Ein primitives Sofa,“ sagte er halb lächelnd und wies mit der Hand darauf.

Sie ließ sich müde und erschöpft niedersinken, strich das regennasse Haar aus der Stirn und sah dankbar zu ihm auf, mit dem Ausdruck des verirrten Kindes im Märchen, das der Königssohn gefunden hat.

Das Wetter zog so rasch ab, wie es rasch gekommen war, der Donner wurde schon schwächer und schwächer. Der Regen ließ nach, es fing an zu tröpfeln, was rhythmisch klang – nun kam ein so wundervoller, frischer, herber Hauch mit den Regenwolken geschwommen, er brachte auf seinen Flügeln den Duft von allen erquickten Kräutern, von der Erde, die wieder lebt und ihre geheimnisvollen Kräfte in Millionen von Atomen durch die Luft streut – den Werdegeruch, der gegen das Vergehen stumm und leidenschaftlich Einspruch thut.

Die beiden Menschenkinder in dieser absoluten, weltvergessenen, weltfernen Einsamkeit sprachen zuerst kein Wort. Sie lebten mit der Natur auf, mit der sie vorhin verschmachtet waren.

Nach einer ganzen, langen Zeit wandte sich Groden zu seiner Begleiterin, eine bekämpfte Erregung lag auf seinem Gesicht.

„Wollen Sie mir jetzt sagen, was Sie heute so bekümmert hat?“ frug er in gepreßtem Ton.

Sie erhob einen Augenblick die Hände wie abwehrend und ließ sie dann schwer in den Schoß sinken.

„Nun haben Sie es wieder aufgeweckt,“ sagte sie halblaut „Aber es ist wohl besser, ich spreche es einmal aus, und nun, bitte, erwarten Sie keine Tragödie, keine heroischen Erlebnisse – erwarten Sie ein Nichts, ein Schemen, ein Schicksal, von dem die Menschen, wenn sie es kennten, sich mit Kopfschütteln abwenden würden, und dem sie mit Achselzucken gegenüberstehen, weil sie es nicht begreifen!“

[756] Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen,“ begann Agnete nach einer kleinen Pause, in welcher Groden sie erwartungsvoll anblickte, „meine Geschichte, an der vielleicht das Traurigste ist, daß man sie nicht ,Geschichte‘ nennen darf, weil nichts darin vorgeht. Ich habe meine Eltern kaum gekannt – meine Mutter heiratete als junge Witwe einen ebenfalls verwitweten Mann in hoher Stellung und mit großem Vermögen. Sie brachte mich als sechsjähriges Kind mit in die Ehe und fand eine Stieftochter vor, die zwanzig Jahre älter war als ich und ebenso alt fast wie meine Mutter.

Wie die beiden sich vertrugen und verstanden haben, das weiß ich nicht; meine Mutter ist, wie gesagt, früh gestorben, und ich habe kaum eine Erinnerung an sie. Mein Stiefvater liebte mich sehr, er liebte mich ebenso wie seine eigene Tochter – nein, doch nicht ebenso, sonst hätte er mich besser kennen müssen. Ich habe ein frohes, glückliches junges Leben gehabt, bis zum Tode des Stiefvaters, ich war oft auf Reisen mit ihm, und meine Stiefschwester lebte viel für sich. Man kann sie ja kaum Stiefschwester nennen, denn wir haben nichts Verwandtes, keinen Tropfen desselben Blutes, keinen Tropfen, in jedem Sinn! – Als der Vater starb, fand sich in seinem Testamente die Bestimmung, daß wir beiden Schwestern in den gemeinsamen Genuß des großen Vermögens kamen, unter der Bedingung, daß wir uns nie dauernd trennten, einander nie länger als für höchstens vier Wochen verließen. Diejenige von uns, die den Anlaß zu einer Trennung gab, wurde mit einer Summe abgefunden, die zum Leben vielleicht eben hingereicht hätte, aber nicht zu einem Leben absoluten, nutzlosen Genusses, zu dem ich und sie mit Tausenden unserer Gesellschaftskreise erzogen sind. Ein Leben, das die Hände und die Kräfte nicht bindet, aber lahmlegt, das den Begriff „Arbeiten“ nur in spielerischer Art kennt, das die beste Leistungsfähigkeit in dilettantischen Kleinigkeiten zersplittert – weil wir es eben nicht anders lernen.

Und nun kommt das Kapitel in meiner Geschichte, vor dem ich mich in der bloßen Erinnerung so fürchte, so feige, so knechtisch, so rettungslos fürchte, daß ich ihm die ganze Zeit hier auch in Gedanken aus dem Wege gegangen bin. Wissen Sie noch, daß heute nachmittag in der Pension von Galeerensklaven gesprochen wurde? Dies Wort ist die Signatur meines Schicksals: so ein Galeerensklave bin ich! Ich bin mit unlösbaren Fesseln an einen Menschen geschmiedet, der mir und dem ich in jeder Minute zuwider bin, wenn ich es auch meiner unseligen Naturanlage nach viel tiefer, viel schneidender empfinde, als sie es thut. Sie ist [757] mir in jedem Wort, das sie spricht, in jeder Handbewegung, in jeder Miene antipathisch – ich verstehe im Zusammenleben mit ihr oft die instinktive Wut verschiedener Tierrassen aufeinander; es ist eine in allen Nerven begründete Abneigung, die ich eben nur so bezeichnen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch! Sie thut mir nichts, sie ist nicht einmal böse! Können Sie es begreifen, daß ich mich manchmal danach sehne, sie möchte etwas Schlechtes thun, nur damit ich vor mir selbst einen faßbaren Grund für meinen Widerwillen habe? Wir lachen und weinen ja beide, aber über so ganz verschiedene Dinge. Wenn die eine lacht, so sieht die andere sie verblüfft und verständnislos an und begreift nicht, was sie erheitert – und wenn die eine weint, so steht die andere dabei und versteht nicht, was sie grämt. Und das sagt Alles – wir sprechen verschiedene Sprachen – wir fallen uns auf die Nerven, und die Nerven sind in unserer Zeit und für uns moderne Menschen zwei Drittel vom Leben!“

Sie schwieg und sah ihn mit einer wilden Frage in den Augen an. Er schüttelte den Kopf. „Traurig!“ sagte er – aber er sagte es als Lückenbüßer für das Verständnis, das ihn dieser Beichte gegenüber im Stich ließ.

Sie nickte mit einem verzweifelten Lächeln vor sich hin. „Sie begreifen es nicht, ich konnte es mir denken! Von hundert Leuten würden es neunundneunzig nicht begreifen – für die meisten Menschen giebt es kein unbegründetes Gefühl. Aber die Dinge, die von den Leuten verstanden werden, mit denen wir in die Schablone des Mitgefühls und der Teilnahme hineinpassen – die sind nicht die schlimmsten. Sie können es sich nicht denken – aber es giebt Tage, wo ich von früh an die Empfindung habe, daß ich aufschreien könnte, wenn sie ins Zimmer kommt und die gleichgültigste Bemerkung macht. In solchen Zeiten habe ich oft gegen eine ganz wilde Vorstellung zu kämpfen, daß alles Lüge ist – alles: Verwandtschaft – Tradition – Pietät – Geduld – alles – und daß nur Eins wahr ist auf der ganzen Welt – das ist der Widerwille!

Ich werde so schlecht, so bitter, so selbstsüchtig – immer in dem Gefühl: ich muß mich selber retten, wie ich nun einmal bin – und für mich giebt es doch keine Rettung! Ich bin eben ein Galeerensklave! Wenn mein Stiefvater das gewußt hätte – er hat es ja so gut mit ihr und mit mir gemeint, er hat uns beide vor Vereinsamung schützen wollen! – aber wenn er das gewußt hätte! Wenn überhaupt die [758] Menschen wüßten, was sie thun, wenn sie so mit einer starren, unerbittlichen Totenhand in ein lebendiges Leben greifen und es festhalten! Es zuckt und flattert und verkommt im nutzlosen Abarbeiten unter der Fessel. Und dabei dies Heucheln nach außen hin – wie oft, wenn wir so geputzt und lächelnd nebeneinander im Theater sitzen oder in Gesellschaft gehen – wenn wir des Abends gemeinsam in unserem hübschen Zuhause sind und Gäste haben, und die Leute sehen das alles und denken: wie gut haben es die beiden! Ich las einmal in einem Buche das Wort: Und Heuchler sind die Häuser! Wie oft habe ich seitdem doch gedacht, wenn die Wände durchsichtig wären, wenn die Menschen sehen könnten, was in scheinbar friedlichen, heimeligen lampenerhellten Wohnungen, in die mancher Heimatlose abends mit leisem Neid hinein sieht, was da für wilde, grauenvolle Dämonen unsichtbar mit am Tische sitzen! Wie viel lieber würden die, die draußen im Kalten stehen, in den Wald, in das Feld, in die furchtbarste Einöde laufen – als sich dieser unheimlichen Gesellschaft zugesellen!“

Sie schwieg wieder, wie erschöpft.

Er sprach auch eine ganze, lange Weile nicht, ihm war dies wilde Bekenntnis in einer ganz sonderbaren Weise wie Mehltau in die aufblühende Saat seiner Empfindungen gefallen: er fühlte den Jammer, aber er fühlte keine Sympathie dafür.

Es zuckte bitter um ihren Mund. „Er versteht es auch nicht,“ dachte sie in leidenschaftlichem Zorn in sich hinein.

Nach einer geraumen Zeit nahm er wieder das Wort in einem behutsamen, gesellschaftlich verbindlichen Ton, der wie Eis auf ihr glühendes, zuckendes Herz fiel: „Und verzeihen Sie mir eine anscheinend indiskrete Frage: wie kommt es, daß Sie nicht geheiratet haben?“

Sie zuckte die Achseln.

„Als ich ganz jung war, wollte ich, was wir alle wollen – ein himmelstürmendes, besonderes, unglaubliches Märchenglück, und dachte von Tag zu Tag, das müßte für mich noch kommen. Und als ich älter geworden war – das geht ja so schnell! – da kam es nicht mehr. Das ist die einfachste Lösung der Frage. Und aus Ueberdruß an meiner Situation heiraten – ich bin auch schon so weit gewesen – aber das hieße ja nur eine Galeerensklaverei gegen eine andere vertauschen, gegen eine noch schlimmere – vielleicht komme ich auch noch so weit herunter, aber vorläufig bin ich es noch nicht! Seit Jahren ist es jetzt zum erstenmal, daß ich frei war – allein – ich selber! Sie können sich nicht denken, wie ich in diesen Wochen aufgelebt bin, wie ich die Jahre wie einzelne Lasten von den Schultern gleiten fühlte, wie leicht ich gewandert bin! Ich habe mir immer die Augen zugehalten vor der Gewißheit, daß es wieder einmal anders werden muß. Aber das Schicksal hatte eben nur die Kette länger gemacht, es kauerte in einer dunklen Ecke und stellte sich schlafend – und jetzt hat es die Kette wieder angezogen. Der Brief, der Sie heute so stutzig machte, war von meiner Stiefschwester – sie kommt heute noch an, und ich habe nun nichts weiter zu thun, als die Hände hinzuhalten und mir die Fesseln wieder darüber streifen zu lassen.“

Sie verstummte und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an, in denen eine tödliche Spannung lag – jetzt mußte er ja sagen: „Komm zu mir – wir wollen die Ketten abschütteln, du sollst jung bleiben!“ – jetzt – jetzt mußte er’s sagen – aber er sagte nichts. Er trat an die offene Thür der Hütte und stand dort in tiefen Gedanken. Er hatte sie während der letzten Minute unverwandt angesehen, mit seinem scharfen, kühlen Kennerblick, vor dem mit einem Mal die Schleier der verblendenden Liebe abgefallen waren – er sah die reinen, aber scharfen Linien des Gesichts, den bitteren herben Zug, und er sagte sich, daß sie alt aussähe und bald alt sein würde – daß er jung und zu den höchsten Ansprüchen in jeder Richtung berechtigt sei – und daß er doch noch vierundzwanzig Stunden überlegen wollte, ehe er das entscheidende Wort spräche – und überlegen, ob er es überhaupt sprechen sollte.

„Alt!“ sagte er plötzlich vor sich hin und erschrak.

Sie hatte nur den Ton seiner Stimme gehört und fragte zitternd und atemlos, wie ein Ertrinkender, dem ein Rettungsruf zu kommen scheint: „Sprachen Sie mit mir?“

„O – ich sagte nichts von Bedeutung,“ erwiderte er und sah wieder stumm in die Weite.

Und während er dastand und kühl prüfend alle Bedenken und Fragen abwog, die ihm die Situation vorführte, währenddessen sagte sich Agnete, die Augen fest auf sein Gesicht geheftet, daß dieser Mensch, der da so groß und schlank an der Thür lehnte, der so hochgehobenen Hauptes in die erfrischte, strahlende Welt sah, als wenn sie ihm zu eigen gehörte – daß dieser eben der einzige Mensch sei, den es für sie auf der Welt gäbe – daß alle anderen und alles andere nur Beiwerk für seine Persönlichkeit bedeute, und daß mit ihm ihr eignes Leben stehe und falle!

Draußen war es inzwischen still und wunderschön geworden.

Das Herbstgewitter hatte ausgetobt, es tröpfelte und rieselte nur noch silbern von den Bäumen, und ganz in der Ferne lohte stummer, flammender Wetterschein, in großen Pausen zuckte hin und wieder noch ein Blitz, wie ein riesiger, blendender Riß in dem Himmelsvorhang, als ließe er eine unaussprechliche Helle ahnen, die dahinter sein müßte.

Eine geraume Zeit verging den beiden in absolutem Schweigen. – Er stand noch immer an der Thür und sah hinaus. Agnete hatte die Augen gedankenlos auf ein Spinngewebe geheftet, das vom Regen mit tausend Tropfen bestäubt war – sie blitzten wie Diamanten in der Sonne. Wer achtete auf die kleine Mücke, die sich in dieser königlichen Pracht zu Tode gequält hatte und nun in den feinen, grauen Fäden eingesponnen hing?

Agnete stand auf, ihr war plötzlich, als könnte sie das nicht mehr sehen, als müßte sie, nicht über ihr eignes Geschick, sondern über das Los des kleinen, bedeutungslosen, ihr gleichgültigen Tierchens da in bittres, bittres Weinen ausbrechen und nie – nie – nie wieder aufhören!

„Und dann würde er ja wohl aus Mitleid“ … dachte sie mit Entsetzen in sich hinein und wollte den Satz auch in Gedanken nicht einmal beenden.

Sie stand auf.

„Das Wetter ist wieder ganz schön,“ sagte sie mit klarer, beherrschter Stimme und trat neben ihn in die offene Thür, „ich glaube, wir können an den Heimweg denken.“

Er wandte rasch und wie erschrocken den Kopf und sah sie mit einem Gemisch zwischen zweifelnder Sorge und Erleichterung an.

„Herrliche Luft!“ sagte er dann in verlegenem, gezwungen leichtem Ton.

Sie stimmte ruhig bei.

Gemeinsam verließen sie die Hütte und traten den Rückweg nach der Pension an. Ein frischer, lebensfroher Wind hatte sich aufgemacht und ließ die Tropfen von den Blättern sprühen – in Agnetens krausem, goldbraunem Haar saßen sie wie funkelnde Juwelen. Die furchtbare Erregung der letzten Stunden ließ ihre Augen in einem tiefen, schwärzlichen Blau aufstrahlen und trieb das Blut in ihr zartes, schmales Gesicht. Sie hatte vielleicht nie so bestrickend ausgesehen – es war der Schwanengesang ihrer Schönheit!

Und diese Schönheit verfehlte ihre Wirkung nicht auf ihn. Wie seine ganze Natur nun einmal war, ließ er sich durch Äußerlichkeiten – durch alles, was seinem erregbaren Wesen entgegenkam oder es abstieß, immer wieder zum Schwanken bringen, und in seinem unbewußten Egoismus gab er jeder dieser Schwankungen nach, unbekümmert darum, wie es auf andre einwirkte.

Er sah sie im Gehen nochmals von der Seite an – immer wieder und immer öfter – sie war bezaubernd, das ließ sich nicht leugnen – es lohnte am Ende doch, ihre Ketten zu zerreißen! Das eine war sicher, daß ihn noch niemand und nichts so zu fesseln verstanden hatte wie dieses Mädchen.

Als sie sich der Pension näherten, fuhr eben an der anderen Seite des Weges der Hotelwagen leer den Bergpfad hinunter – er hatte neue Ankömmlinge gebracht – Agnete wandte sich einen Augenblick zu ihrem Begleiter. „Da ist sie angekommen!“ sagte sie mit gepreßter Stimme und blieb stehen.

Er that ein Gleiches.

„Versuchen Sie es doch noch einmal, ob Sie sich nicht überwinden können,“ sagte er mit einem bittenden, weichen Ton, den sie noch gar nicht von ihm gehört hatte, „gehen Sie ihr jetzt einmal mit freundlichen Gefühlen entgegen – sie ist ja doch ein Mensch wie andre Menschen auch!“

[759] Sie sah ihn zweifelnd und starr an.

Wollen Sie, daß ich es thue?“ frug sie.

„Ja, ich will es,“ antwortete er mit einem warmen Blick, „auch um Ihrer selbst willen – nein, nur um Ihrer selbst willen will ich es – dieser Haß und Abscheu ist ein so fremder Zug in Ihrem Bilde, er stört mich, und das will ich nicht! Sie sollen es bekämpfen – nicht wahr?“

Sie sah ihn mit einem forschenden, unerklärlichen Blick an. „Also Sie wollen es!“ sagte sie nur noch einmal, dann ging sie ins Haus, ohne den Kopf nach ihm zu wenden.

Aus dem Fenster ihres bisherigen Zimmers hatten zwei scharfe Augen sie schon eine ganze lange Weile beobachtet.

Agnetens Schwester stand, halb hinter den Fenstervorhängen verborgen, und sah die beiden Gestalten aus dem Walde treten und sich nach kurzem, angelegentlichem Gespräch verabschieden – sie sah, wie Groden noch eine geraume Zeit stand und in Gedanken verloren hinter Agnete hersah, nachdem sich die Thür schon lange hinter ihr geschlossen hatte.

„Sieh’, sieh’!“ sagte das ältliche Fräulein vor sich hin, und ein unangenehmes Lächeln zog ihren Mund herab.

Sie hatte ein verkniffenes, unbedeutendes Gesicht, in das kleinliche Sorgen und kleinliche Freuden ihre Linien gezeichnet hatten, in dem ersichtlich nie ein großer Gedanke, nie ein weites, freies Gefühl gespielt oder auch nur Wiederhall gefunden hatte. Alles an ihr – Anzug, Bewegung und Mienenspiel – sprach von einem geistig und gemütlich engen Gesichtskreise, der sich, achtlos für andrer Wohl und Wehe, einzig um das kleine Ich herzieht und immer enger zieht.

Agnete öffnete langsam die Thür – sie hatte sich auf dem kurzen Wege beständig innerlich hergesagt und vorgesagt: Vielleicht ist sie gar nicht so schlimm, vielleicht hat meine Erinnerung sie mir unangenehmer vorgemalt, als sie wirklich ist! Aber als sie der Stiefschwester gegenüber stand, packte das Gefühl würgenden, namenlosen Widerwillens sie mit solcher mörderischen Kraft, daß sie förmlich seine Krallen zu spüren vermeinte. Doch sie überwand sich mit einem Heroismus, welcher der Situation gegenüber für den oberflächlichen Beobachter kaum erklärlich gewesen wäre – sie überwand sich und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Schwester zu:

„Nun, Bertha!“

Die Angeredete machte keinen Versuch, die Umarmung anzunehmen oder zu erwidern – sie lächelte ironisch.

„Nun, wie komme ich zu der Ehre einer so stürmischen Begrüßung?“ frug sie mit ihrem säuerlichsten Lächeln, „das ist ja sonst nicht Mode bei dir?“

Agnete ließ die Arme sinken.

„Wir haben uns ja doch ein paar Wochen nicht gesehen,“ murmelte sie hilflos.

„Ganze drei Wochen!“ sagte Bertha mit einem Achselzucken, „du hättest mich ja übrigens hier erwarten können, wenn du so sentimental aufgelegt bist. Wo warst du denn?“

„Im Walde,“ erwiderte Agnete gepreßt – in ihr schrie eine aufrührerische Stimme fortgesetzt und betäubend: Ich kann nicht – ich kann nicht – ich kann nicht!

„Im Walde?“ frug Bertha mit einem scharfen, neugierigen Blick, „allein?“

„Wenn du mich hast kommen sehen –“ begann Agnete heftig, unterbrach sich aber: „Nein – nicht allein – mit einem Bekannten aus der Pension!“

„Mit einem jungen Herrn?“ sagte die Schwester achselzuckend; „nun das finde ich merkwürdig, das hätte ich in meiner Jugend nicht gethan! Es ist gut, daß ich jetzt hier bin – da werden die Waldspaziergänge ein Ende haben oder wir werden sie zu dreien machen. So ist es ja einfach unschicklich!“

„Mein Gott!“ rief Agnete ungestüm und verzweifelt, „ich bin sechsundzwanzig Jahr! Soll ich denn mein ganzes Leben an der Kette liegen wie ein Hund?“

„Nun, sei nicht gleich unnötig aufgeregt,“ sagte die andere und legte mit pedantischer Genauigkeit ihre Habseligkeiten in die Kommodenschübe. „Wenn die Sache einen soliden Hintergrund hat, ist es ja ganz schön!“

Agnete sah sie mit großen, wilden Augen an, wie ein gehetztes Tier. Dann wendete sie den Kopf zum Fenster und sah hinaus – mit einem Jammergefühl, als wenn sie zerbrechen müßte – innerlich und äußerlich.

Die Schwester drehte mit einer Art plumper Scherzhaftigkeit ihren Kopf zu sich: „Na – wirst du rot?“

Da Agnete aber nichts erwiderte, sondern nur mit müden, schleppenden Schritten nach der Thür ging, rief die Schwester ihr nach: „Du kommst aber bald wieder, ich kann doch nicht allein in den Saal voll fremder Menschen gehen, die mich alle anstarren. In zehn Minuten bin ich hier fertig, dann bist du wieder bei mir! Hörst du? – Hörst du?“ wiederholte sie mit erhobener Stimme.

Agnete nickte müde.

„Ich gehe ja nur nach meinem Zimmer, es ist hier nebenan,“ erwiderte sie und zog einen Augenblick die Thür hinter sich zu. „O, meine Einsamkeit!“ sagte sie schwer vor sich hin.

Bei der Abendmahlzeit waren die Plätze umgelegt. Groden saß nicht neben Agnete wie sonst immer, sondern ihr und der Schwester gegenüber – er sah auch kaum nach Agnete hin, was sie ihm im tiefsten Herzen dankte.

Desto öfter warf er einen seiner raschen, scharfen Blicke nach der Neuangekommenen. Diese beschäftigte sich in behaglicher Langsamkeit mit den vorgelegten Speisen, die sie in unangenehmer, geräuschvoller Art verzehrte. Dazwischen unterhielt sie die ganze Gesellschaft damit, daß sie sich im Heruntergehen ein Stück vom Besatz ihres Kleides abgerissen hätte und daß es seine großen Schwierigkeiten haben würde, diesen Besatz wieder passend zu ergänzen. Man hörte ihr mit mehr oder weniger gezwungener Höflichkeit zu, und schließlich begann man sich ein paar erstaunte und lächelnde Blicke zuzuwerfen, die Agnete nicht entgingen.

Sie sah flüchtig nach Groden hinüber. Er lehnte den Kopf an die Stuhllehne zurück und sah müde und verdrossen aus – Agnete fühlte einen körperlichen Stich im Herzen. – Sie macht mich unmöglich, dachte sie mit einem dumpfen, widerlichen Schmerz in sich hinein. Nach dem Abendbrot ging Agnete nach ihrem Zimmer, um der Schwester auf deren Bitte ein warmes Tuch zu holen.

Als sie zurückkam, sah sie zu ihrem heimlichen Schrecken und Erstaunen Groden und Bertha vor der Plattform miteinander auf und ab gehen. Bertha sprach anscheinend lebhaft und eifrig in ihn hinein, und er hörte ihr mit einer Art von achtungsvoller Aufmerksamkeit zu. – Ob er das um meinetwillen thut? frug sich Agnete mit einem gequälten, peinigenden Hoffnungsgefühl, das nur noch halb lebte und zum letztenmal mit den Flügeln schlug.

Sie stand unschlüssig mit dem Tuch in der Hand – sie mochte die beiden nicht ansprechen, um sich nicht den Anschein zu geben, als wollte sie mit ihnen weiter gehen; schließlich nahm sie ihren altgewohnten Platz auf dem Geländer der Balustrade wieder ein und sah in die dunklen, schlafenden Berge, die in großen, schwarzen Linien am Nachthimmel standen, und zu deren Füßen einzelne Lichter in den kleinen Häusern funkelten.

Wie anders war alles – alles!

Diese Abendstunde war sonst immer das Schönste von dem ganzen wundervollen Tage gewesen! – Da war sie immer mit Groden bis in die späte Nacht den mondweißen Weg auf und ab gegangen, von niemand begleitet als von ihren kohlschwarzen, stummen Schatten, die an den weiß schimmernden Birkenstämmen hinaufzuklettern schienen und dann wieder plötzlich, wie in spielender Unterwürfigkeit, vor den Wanderern auf dem Wege lagen. Und dann hatten die beiden kein Ende mit Sprechen und Erzählen gefunden, oder sie waren in verstehender, beredter Stille nebeneinander gegangen – einer Stille, schöner und verschwiegener als die Sommernacht selbst.

Und heute?

Heute saß sie allein – allein – allein – mit bangem, klopfendem Herzen, das ihr mit seinen Schlägen die Sekunden anzeigte und sie verlorene Zeit nannte.

Die Excellenz trat einen Augenblick zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Nun, Ihre Schwester ist hier?“ sagte sie freundlich, „da sind Sie nicht mehr so allein, liebes Kind – das ist ja schön!“

„Ja, das ist sehr schön!“ sagte Agnete.

Inzwischen waren die beiden – Groden und Bertha – immer noch auf und ab gegangen, und Groden, während er anscheinend mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit dem eintönigen [760] Gerede des alten Fräuleins zuhörte oder doch zuzuhören versuchte – dem Gerede, das nichts in so vielen Worten aussprach – während er das scharfe, ungute Gesicht neben sich betrachtete, sagte sich mit einem gewissen, heimlichen Erschrecken, daß er Agneten begriff! Die neu Angekommene warf ihm von Zeit zu Zeit einen fragenden, schlauen, wohlgefälligen Seitenblick zu.

Er hatte ihr in den letzten Minuten gar nicht mehr zugehört, sondern seine Augen nach Agnete wandern lassen, auf deren schwermütigem Gesicht das Mondlicht in wechselnden Lichtern und Schatten sein anmutiges Spiel trieb. Es machte ihn ungeduldig, daß sie seinen Blick gar nicht fühlte und gar nicht erwiderte.

„Und wenn Agnete heiratet,“ sagte Bertha jetzt mit etwas erhobener Stimme und sichtlich gewolltem Nachdruck – Groden fuhr wie angerufen zusammen und sah zu der kleinen, vertrockneten Gestalt an seiner Seite nieder – „wenn Agnete einmal heiratet, so ziehe ich natürlich mit ihr! Sie wissen vielleicht nicht, Herr von Groden, daß wir beiden Stiefschwestern durch besondere Verhältnisse zusammengehören und zusammenbleiben müssen. Ich ziehe mit ihr – es müßte denn der Fall eintreten, daß der etwaige zukünftige Schwager so viel Geld und so viel Großmut besäße, um ein ganz armes Mädchen zu heiraten! Solche Leute giebt es ja hin und wieder noch, wie ich mir habe sagen lassen.“

Sie nickte ihrem sprachlos gewordenen Begleiter kaltblütig zu und ließ ihn stehen.

„Dem habe ich den Standpunkt klar gemacht!“ sagte sie befriedigt vor sich hin und schritt der Plattform zu, „ich habe nicht umsonst bei Tisch meine Augen offen gehabt.“

Als sie an Agnetens Platz vorbei kam, hielt diese sie durch eine Handbewegung zurück.

„Was hattest du denn so lange mit Herrn von Groden zu sprechen?“ frug sie gepreßt.

Bertha lachte trocken. „Du bist wohl eifersüchtig?“ sagte sie, „nein, ich will dir deinen Verehrer nicht wegkapern –“

„Von was habt ihr gesprochen?“ wiederholte Agnete dringend und heftig.

Bertha sah sie mit einer gewissen Belustigung an. „O, von allerlei,“ sagte sie, „du kamst auch ein paarmal in unserer Unterhaltung vor – laß es dir doch von ihm selber erzählen, wenn du es so gern wissen willst! Vielleicht sagt er es dir!“

„Vielleicht!“ erwiderte Agnete anscheinend sehr ruhig und wandte den Kopf wieder nach den Bergen hin.

Bertha ging ins Haus.

Groden war, nachdem Bertha ihn verlassen hatte, raschen Schrittes weiter in den Wald gegangen. Er hatte das blasse Gesicht Agnetens immer wieder mit einem Gefühl von Schmerz und Sorge, von leisem, nagendem Vorwurf und aufflammendem Entzücken angesehen – sich immer wieder gesagt, es lohne sich doch, sie aus ihrer traurigen Sklaverei zu befreien! Er war selbst so weit gegangen, sich zu fragen, ob er sich nicht am Ende überwinden würde und die Schwester mit in Kauf nehmen – er hatte sich zu diesem Zweck in die längere Unterhaltung mit dem alten Fräulein eingelassen. Aber eben diese Unterhaltung hatte entschieden.

„Ich kann es nicht – das nicht!“ sagte er in der Waldstille laut vor sich hin, „einen augenblicklichen Heroismus könnte ich mir abringen, ein Riesenopfer zustande bringen – aber hier handelt es sich um ein lebenslanges, fortgesetztes, unausgesetztes Opfern – hier handelt es sich um jede Stunde, um jede Minute, wo mir diese fatale Dritte das Leben zerstören würde – ich kann nicht! Ich müßte mir Ferien suchen, um mit meiner Frau allein zu sein – ich müßte mich vor jedem Heimkommen fürchten, wo ich die alten Verhältnisse wieder vorfände, ich würde diese unangenehme Art, zu sprechen, zu essen, zu sein, täglich und immer wieder täglich an meinem Tische haben müssen! Und ich würde zum schlechten Menschen, zum Schurken werden unter dieser Notwendigkeit! – Und ohne Vermögen – ohne Geld? Da teilen und halbieren, wo ich bis jetzt allein genossen habe, jeden Groschen umwenden und noch einmal umwenden, denken müssen: Reicht es auch ? Schlechte Cigarren rauchen und bei einem Schneider zweiten Ranges arbeiten lassen? Das klingt nach armseligen Details – aber das Leben besteht daraus – die Details muß man sich in jeder Lebensfrage klar machen, die großen Umrisse thun es nicht! – Es soll nicht sein!“ beschloß er seinen Gedankenkampf, „und es ist das Beste, ich mache rasch ein Ende! Denn wenn ich das süße Gesicht noch oft vor mir sehe, begehe ich doch noch eine Dummheit, und diese wäre die größeste, die ich jemals gemacht hätte! Aber heute abend will ich mich noch einmal belohnen – einen Abend noch, das kann ja niemand etwas schaden – und wir haben dann beide noch eine schöne Erinnerung!“

Und Groden hielt sich Wort! Nie war er liebenswürdiger, heiterer, sprühender von Witz gewesen, nie hatte er einschmeichelndere Töne in seiner Stimme gehabt, nie hatten seine Augen feuriger geblitzt als in diesem über sich selbst hinaus gesteigerten Gefühl: „nur dies eine Mal noch!“ Und nie hatten alle diese gefährlichen Huldigungen, dies süße Gift ausschließlicher oder so ausschließlich Agneten gegolten wie an diesem Abend. Er hob sie gleichsam auf einen Thronsessel und lag ihr mit der ganzen Anmut seines Wesens zu Füßen – sie trug ihre Königspracht mit einem glückseligen Stolze, mit dem wundervollen und dabei leise ängstigenden Gefühle, das wir in einem unbeschreiblich schönen Traume haben, in dem es uns neben allem Entzücken anfängt zu dämmern, daß es vielleicht doch – doch nur ein Traum ist! Aber eben, wie wir thörichten Menschenkinder es mehr oder weniger alle thun, wehrte sie sich mit ganzer Kraft gegen das Erwachen und träumte weiter.

Die alte Excellenz sah mit ihren blauen klugen Augen dem Treiben aus einer Diwanecke zu, in die sie, anscheinend ganz in ein Buch vertieft, sich zurückgelehnt hatte. Nur einmal, als Groden eben zufällig in ihre Nähe kam, legte sie die Hand einen Augenblick flüchtig auf seinen Arm. „Mein lieber Herr von Groden, schenken Sie mir ein paar Sekunden – ja?“

„Eine Ewigkeit, meine gnädigste Excellenz,“ sagte er mit seinem gewinnendsten Lächeln.

Sie sah ihn beinahe traurig an. „Darf ich Sie etwas fragen?“

Er blickte mit dem Ausdruck schelmischer Gutherzigkeit auf sie nieder, der seinem Gesicht bisweilen etwas überraschend Kindliches gab. „Wenn es nicht in jedem Fall beantwortet sein muß!“ sagte er lachend.

Die alte Dame lächelte auch, aber nur einen Augenblick; dann sah sie ihn ernsthaft an. „Wissen Sie ganz genau, was Sie thun?“ frug sie.

Er zuckte die Achseln. „Möglichst nicht!“ erwiderte er leichtfertig.

„Es giebt ein ernsthaftes Kapitel im Lebensbuch,“ sagte sie mit Nachdruck, „das Kapitel von der Verantwortung – ich empfehle Ihnen den nächsten Regentag, um das einmal nachzulesen!“

Er biß sich einen Augenblick auf die Lippen.

„Nun, heute haben wir ja das klarste Wetter und den schönsten Sternenhimmel,“ sagte er dann, „da kann ich mir ja wohl noch Zeit zu der Lektüre lassen.“

Und mit einer seiner Kavaliersverbeugungen ging er davon.

Die alte Dame sah ihm nach und schüttelte unmerklich den Kopf, als sein Lachen so bald wieder zu ihr herübertönte.

Aber ihre Worte waren doch nicht ganz ohne Eindruck geblieben. Er wurde stiller, und der Kreis, den er durch seine feurige Heiterkeit belebt hatte, wurde es mit ihm – man brach auf, um sich zur Ruhe zu begeben.

Als Groden sich schon von Agnete verabschiedet hatte – nicht anders wie an jedem vorhergegangenen Abend – und sie an der Thür stand, kam er noch einmal rasch hinter ihr her.

„Sie haben dies Buch hier vergessen“, sagte er in unbefangenem Ton und hielt es ihr hin.

Sie sah ihn überrascht an, die Klinke schon in der Hand.

„Das ist nicht mein Buch!“

Er lachte etwas verlegen.

„Ganz recht!“ sagte er, nur ihr verständlich, „Sie sollten bloß noch einmal stehen bleiben und mich ansehen – so!“

„Damit Sie mich bis morgen früh nicht vergessen haben?* frug sie scherzend, aber mit leise zitternder Stimme.

Er sah sie einen Augenblick fest – durchdringend – leidenschaftlich an. „Ganz recht!“ sagte er dann noch einmal – sie wandte verwirrt den Kopf und ging zur Thür hinaus.

„Lebewohl!“ sagte er vor sich hin – es ging einen Augenblick eine tiefe Bewegung über sein schönes Gesicht, aber nur einen Augenblick.

„Strich drunter!“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und ging auf sein Zimmer.


[762] Das Wetter war umgeschlagen. Ein heulender, zorniger Sturm umtobte die ganze Nacht das einsam gelegene Haus auf der Höhe, große, wilde Regentropfen schlugen klatschend an die Fenster, die Luft war plötzlich kalt und schneidend geworden und der Kastanienbaum vor dem Hause, an dessen Pracht sich noch gestern alles erfreut hatte, streckte heute seine Aeste schwarz und kahl gegen den grauen Herbsthimmel empor. Sein Goldkleid lag in feuchten Massen zu seinen Füßen, die gewaltige Zauberin Vergänglichkeit hatte es mit erbarmungsloser Hand heruntergerissen. – Die Gesellschaft der Pension fand sich fröstelnd und über das Wetter klagend am Frühstückstisch ein; im Ofen knisterte ein mächtiges Holzfeuer, es wollte mit einem Male Winter werden!

Als alles versammelt war – Agnete und ihre Schwester erschienen ziemlich zuletzt –, kam der Oberkellner; er trug einen schönen Herbststrauß, den er vor Agnete hinstellte. „Herr von Groden läßt sich den Herrschaften allerseits empfehlen – er hat infolge eines Briefes von Hause plötzlich abreisen müssen!“

Ein plötzliches Verstummen der Tafelrunde folgte dieser überraschenden Mitteilung. – Dann richteten sich aller Augen mit mehr oder weniger Schonung auf Agnete. Sie saß ganz ruhig in ihren Stuhl zurückgelehnt – ein hochmütiges, steifes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Hände ineinandergefaltet und preßte sie fest – fest zusammen, in der Empfindung, irgend etwas fühlen zu müssen, was greifbar war, wo alles um sie her schwamm und wirbelte. Eine bestimmte Empfindung hatte sie gar nicht, nur eine ganz sonderbare, unsinnige Todesangst vor dem nächsten Wort, das gesprochen werden würde – sie dachte innerlich: wenn doch nur jetzt niemand spräche – nie mehr! – Wenn nur jetzt alle, wie verzaubert, so stumm und regungslos sitzen blieben bis in alle Ewigkeit – das wäre mir das Liebste!

Die Erste, die das allgemeine, beklemmende Schweigen unterbrach, war Bertha. „Einen Brief hat Herr von Groden bekommen?“ frug sie mit ihrer scharfen Stimme, „von wem denn? Die Morgenpost ist ja noch gar nicht hier!“

Der Oberkellner zuckte die Achseln, sein nichtssagendes Gesicht blieb glatt und unverändert, erst draußen vor der Thür kniff er das eine Auge ein und sah sehr schlau und vielwissend aus, während er mit der Miene des Bedauerns den Kopf hin und her wiegte – aber das sah niemand.

Die Unterhaltung am Frühstückstische war auffallend lahm.

Man haschte allerseits nach gleichgültigen Gesprächsgegenständen – Groden hatte die ganze Zeit über so sehr den Mittelpunkt des Interesses und der Anregung gebildet, daß man die Lücke seines Weggehens um so deutlicher empfand, weil man nicht von ihm sprechen sollte und wollte.

Agnete hielt aus – auch als ihr Scheinfrühstück längst beendet war; sie wollte heute nicht als erste hinausgehen, wie sie es sonst immer that – nein, als letzte, als allerletzte, damit sie nicht sofort zu denken hatte, daß die wohlwollenden Leute da drinnen jetzt die Köpfe zusammensteckten: „Das arme Ding! Der Vorwand war ein bißchen durchsichtig – nun hat er doch nicht Ernst gemacht“ und was man sonst noch an platter Weisheit in solchen Fällen zu sagen hat.

Bertha stand auch auf. „Ich habe meine große Sicherheitsnadel verloren,“ sagte sie verdrießlich, „hat jemand von den Herrschaften sie gefunden? Nein? Dann siehst du, Agnete, dann hast du sie doch gehabt, ich sagte es dir ja gleich! Besinne dich doch, wo kannst du sie denn gehabt haben? Ich steckte mir gestern abend noch das Tuch damit fest – besinne dich einmal!“

Agnete stand auf. „Ich werde sie suchen,“ sagte sie mit ihrer ganz alltäglichen, natürlichen Stimme, grüßte die Anwesenden mit freundlicher Kopfneigung und ging hinaus.

Bertha folgte ihr.

Die Zurückbleibenden hörten noch ihre eintönige Stimme, mit der sie die Schwester bei jedem Schritte aufforderte, sich zu besinnen, wo sie die verlorene Nadel hingethan haben könnte.

Die Damen am Frühstückstisch sahen sich vielsagend an.

„Das alte Fräulein ist eine rechte Geduldsprobe,“ sagte die Konsistorialrätin, „konnte sie denn nicht merken, daß die Schwester jetzt etwas anderes im Kopfe haben mußte als ihre Sicherheitsnadel?“

Die Excellenz zuckte die Achseln. „Die und merken!“ sagte sie; „solche Naturen merken nichts, sie sitzen in einer Schildkrötenschale von Egoismus – sie sind wie Karussellpferde, die sich ihr ganzes Leben um einen Punkt bewegen – die verlernen es auch, nach rechts oder nach links zu sehen!“

„Das arme, reizende Mädchen – diese Agnete!“ bemerkte eine der anderen Damen mitleidig, „sie trug es ja bewunderungswürdig, aber sie sah doch schrecklich aus!“

„Schrecklich!“ pflichtete die Majorin bei, „das Gesicht wurde förmlich grau und schlaff in dem Augenblick!“

„Ich habe sie nicht angesehen,“ sagte die Excellenz und erhob sich, „ich mag keinen Menschen sterben sehen, dem ich nicht helfen kann – und der kann man nicht helfen! Sie würde empört sein, wenn man es ihr auch nur andeutete, daß man wagt, Mitleid mit ihr zu haben. Die stirbt auf ihrer Fahne – da ist Rasse drin!“ Die alte Dame ging hinaus und bestellte ihre Hotelrechnung – sie konnte ja jetzt ruhig abreisen: der „kleine Roman“, dessen Entwicklung sie mit so viel Amüsement beobachtet hatte, war augenscheinlich zu Ende – und die Tage wurden ja auch schon sehr kurz.


Agnete hatte inzwischen einen Augenblick gefunden, wo sie, von der Schwester unbemerkt, das Haus verlassen konnte. Sie mußte eine halbe Stunde allein sein – nur eine armselige halbe Stunde – der arme Galeerensklave! Dies Fragen und Quälen nach der verlorenen Nadel hatte sie fast um den Verstand gebracht; das beständige eintönige Wiederholen der Aufforderung „Besinne dich doch!“ war ihr plötzlich so körperlich unerträglich geworden, sie hatte die Empfindung, daß sie, wenn sie diese Worte noch ein einziges Mal mit anhören müßte, laut aufschreien würde, als wenn sie von Sinnen wäre!

Da war sie fortgestürzt – mit unbedecktem Kopf, ohne sich die Zeit zu lassen, auch nur den Hut vom Nagel zu nehmen – ziellos – wahllos – nur fort – fort! – fort! –

Sie fand sich im Walde wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, und sah sich mit verstörten, fragenden, verwunderten Augen um: war das noch derselbe Wald, in dem sie gestern im glühenden Sonnenschein unter dem gold und roten Baldachin der Baumkronen hingewandelt war? Alles sah zerstört und verwüstet aus, der Regen rieselte fein und kalt und unablässig hernieder, er legte sich wie eisige Fingerspitzen auf Agnetens unbedeckten Kopf. Die Blätter, ihres trügerischen Scheindaseins überdrüssig, fielen, wie sterbende Schmetterlinge, müde und flatternd auf den nassen, braunen Boden, der Fuß versank bei jedem Schritt in dem aufgeweichten Wege – es war ein mühseliges Gehen.

Agnete sah und empfand das alles, aber wie unbewußt, wie weit fort, wie wenn es jemand anders erlebte. Und dann erschien es ihr wieder so ganz natürlich, daß die Welt über Nacht eine so andere geworden war. Daß eine Herbstnacht genügt, um einen Wald und ein Schicksal zu vernichten – das brauchte keine äußere Erfahrung sie mehr zu lehren. Sie dachte auch nicht darüber nach, sie irrte nur in verzweifelter, heimatloser Sehnsucht umher, in Sehnsucht nach jemand oder etwas, das wußte, wie ihr zu Mute war, zu dem sie sprechen konnte.

Und als sie plötzlich, sich selbst überraschend, vor ihrem Lieblingsbaume stand, da war es ihr wie der Königstochter im Märchen, die dem eisernen Ofen ihr Leid klagt – sie legte beide Arme um den schlanken, geraden Stamm und sah mit ihren verzweifelten Augen zu der Krone in die Höhe. Sie sah auch zerzaust und traurig aus: den einen grünen Zweig hatte der Sturm heute nacht geknickt, er hing kläglich herunter, und der Wind warf ihn achtlos, wie spielend, hin und her.

Agnete nickte hinauf. „So bin ich auch!“ sagte sie, „wir hatten beide noch einen grünen Busch auf dem Hute – du und ich –, du Blätter – ich Hoffnung – nun ist es fort – nun haben wir beide die Flagge auf Halbmast – du und ich.“

Sie faßte den Stamm mit beiden Händen und rüttelte daran. „Er ist fort!“ sagte sie laut und verzweifelt, „er ist fort! Hörst du das? Ohne Abschied – ohne ein Wort! Er hätte mir doch Lebewohl sagen können, aber er fürchtete wohl, ich würde ihm eine Scene machen – und er liebt ja keine Scenen und keine Emotionen. Fort! das ist solch ein kurzes Wort, und [763] solch ein langes Elend! Und warum darf denn das sein? Warum darf denn ein Mensch den andern wie einen Spielball nehmen und sich damit die Zeit vertreiben – ein paar Stunden – ein paar Wochen, und ihn dann in die Ecke werfen zu altem Gerümpel, daß er dort verkommt und verstaubt? Und was haben diese paar Wochen – was hat er aus mir gemacht? Ein Mädchen, das den Kopf nicht mehr hoch halten kann und hoch halten mag – ein Mädchen, das sich aus einem Manne mehr gemacht hat als er aus ihr – das ist so schrecklich, so niedrig – das kann man nicht einmal aussprechen! Man schämt sich noch mehr, als man sich grämt! Es ist nicht einmal traurig allein – es ist so häßlich! Und die Leute können sich noch darüber amüsieren – ,ja, warum sind die Mädchen so leichtgläubig!‘ Doch er geht jetzt hin und denkt nicht mehr daran – oder wenigstens nicht viel – und dann, nach ein paar Wochen, sagt er: ,Das war ein nettes Mädchen da oben im Thüringer Wald – ich habe ihr hoffentlich nichts in den Kopf gesetzt – es ist ihr hoffentlich nicht tief gegangen!‘ – ja – hoffentlich!“

Sie ließ sich an dem Stamme niedergleiten und legte den Kopf auf die Arme – sie achtete nicht auf den kalten Boden und auf die Nässe, die sich wie ein Tuch um sie herlegte – ihr war so schwer, so müde, so zerschlagen, als wenn sie eine Krankheit durchgemacht hätte – so stumpf und dumpf. Wie lange sie so dagelegen hatte, wußte sie selbst nicht – ihrem Gefühl nach konnten es ebensogut Sekunden als Jahre gewesen sein. Da fühlte sie sich plötzlich unsanft an der Schulter gefaßt.

„Hier liegst du, in der Nässe? Du willst dich wohl zu Tode erkälten? Alt genug wärst du doch, um vernünftig zu sein!“

Agnete erhob den Kopf und starrte der Schwester ins Gesicht, wie aufwachend, dann stand sie auf – sie sah so schmal und schlank aus, als wenn sie in den letzten Stunden gewachsen wäre.

„Du hast vollkommen recht,“ sagte sie in einem rätselhaften, kalten Tone, „alt genug wäre ich, um vernünftig zu sein!“

„Nun komme jetzt nur mit,“ fuhr die Schwester fort, „wir wollen nach Hause gehen – bei dem Wetter gehört man an den Ofen! Ich kann doch nicht den ganzen Morgen mit den fremden hochnäsigen Leuten allein sitzen. – Ich habe übrigens meine Sicherheitsnadel noch nicht gefunden!“ setzte sie mißvergnügt hinzu; „wenn ich nicht erst gestern angekommen wäre, würde ich denken, du hast sie auf einem deiner Spaziergänge mit dem abgedampften Verehrer mitgehabt, da könnte ich freilich lange suchen!“

Agnete erwiderte nichts.

„Na – sei nur nicht pikiert!“ sagte Bertha gleichmütig, „mit so etwas muß man sich necken lassen – das ist einmal nicht anders. Komisch übrigens, daß der so plötzlich abgereist ist – hat er dir gar keine Andeutung gemacht?“

„Bertha!“ sagte Agnete plötzlich mit harter Stimme, „du weißt, ich bitte nicht oft und nicht gern, aber ich bitte dich jetzt um etwas: sprich nicht mehr mit mir von – Groden!“

„Und warum nicht?“ frug die andere mit ihrem unangenehmsten Lächeln.

„Es langweilt mich –!“ sagte Agnete rauh.

„Nun, mich amüsiert es auch nicht,“ erwiderte Bertha gekniffen und schwieg eine Weile.

Agnete legte im Weitergehen die Hände an die hämmernden Schläfen und preßte sie fest zusammen.

„Na ja – du hast dich erkältet,“ sagte Bertha, „in dem nassen Grase – nun kann ich hier noch Krankenpflegerin spielen!“

Agnete biß sich fast die Lippen durch. „Großer Gott!“ murmelte sie vor sich hin, dann wandte sie sich an Bertha: „Wäre es dir nicht recht, wenn wir abreisten? – Die Abende sind schon so lang – thue es mir zuliebe – ich möchte es so sehr gern!“

Die andere sah sie groß an. „Abreisen? wo ich gestern erst angekommen bin? Nein, da muß ich denn doch danken! Seit wann sind denn die Abende so lang? Etwa seit ich hier bin? Jetzt hast du dich drei Wochen amüsiert, dir die Cour machen lassen – nun reist der Courmacher ab, und nun möchten wir gleich hinterdrein – nein, das verlange doch, bitte, nicht von mir!“

„Schön!“ sagte Agnete, „wir bleiben!“

Und sie blieben – sie saßen die kurzen Tage und die langen Abende in dem frostigen Konversationszimmer, sie sprachen von früh bis abends über das Wetter und warteten auf den Sonnenschein – er kam nicht! Statt seiner kam der traurige, grausame Spätherbst, er schüttelte die letzten Blätterreste von den Bäumen – häßlich, welk und unansehnlich lag die Goldpracht am Boden und moderte in den Winter hinein. Die Krähen flogen mit schweren, schwarzen Flügeln müde und heiser kreischend über den Wald, der Boden weichte auf, täglich verschlang der lange, trübe Abend ein Stückchen mehr von dem kurzen, trüben Tage.

Die Pensionsbewohner rüsteten einer nach dem andern zur Abreise, der Tisch wurde verkleinert – endlich erklärte Bertha eines Morgens, sie wollten auch heimkehren und ihr Bündel schnüren. Agnete nahm es ohne weitere Aeußerung hin. Ob sie den Winter über hier verbrachte, oder ob sie in die Stadt zurückging – es blieb sich gleich, sie verließ nichts, und es erwartete sie nichts! „Alles prallt von mir ab – Freude – Kummer – Aerger – das Sonderbare dabei ist nur, daß man das leben nennen soll!“ dachte sie in sich hinein.

Als sie dann im Wagen saßen und die Abschiedsgrüße der Wirtsleute und der wenigen Pensionsgäste entgegennahmen, die noch zurückblieben, stieg ein kalter, weißlicher Nebel aus dem Thale auf, der mit jeder Minute dichter zu werden schien. – Agnete hatte sich auf den Rücksitz des Wagens gesetzt, um beim Hinunterfahren die Pension noch so lange zu sehen, wie sie irgend konnte. Bertha arrangierte sich im Fond mit ihren zahlreichen Schachteln, Taschen und Paketen. Zwischendurch forderte sie Agnete wiederholt auf, etwas zu genießen. „Du wirst schwach werden,“ sagte sie wieder und wieder in ihrer zähen, beharrlichen Art.

Agnete lächelte müde. „Sei unbesorgt – ich bin stark,“ erwiderte sie und versank wieder in ihre eigenen Gedanken – in jene eine, einzige Welt, wohin ihr niemand folgen konnte – ihr einziges Stückchen Eigentum auf der ganzen, reichen, weiten Erde!

Ihre Augen waren fest auf das Haus gerichtet, in dem sie ihre letzte Blütezeit verlebt hatte. Dort in dem kleinen Hause mit dem trotzigen Dach, um das jetzt der Herbstnebel so wallte und wogte, dort hatte sie das Glück gefunden – und das Glück verloren!

„Das Glück!“ dachte sie heimlich vor sich hin, „woran ist es für mich gescheitert? An Geld – an Wohlleben – an Testamentsbestimmungen – an dem, was man so gemeinhin ‚die Verhältnisse‘ nennt! – Daß das Glück – das Größeste, Heiligste, was der Mensch haben kann, überhaupt mit solchen Dingen zusammen genannt werden darf – daß es von solchen Aeußerlichkeiten vernichtet werden kann, wie eine seltene Pflanze oder ein schöner Mensch von Pferdehufen zermalmt und zertreten wird – das habe ich früher nie verstehen können! Ich hatte immer gedacht, das Glück müßte sich über alles Aeußerliche, was es hemmen will, mit klaren, goldigen Schwingen erheben – in die Luft flattern und alles im Staube liegen lassen, was an diese Flügel rühren will. Und nun liegt es da – zerbrochen und zerknickt – mein armes – armes Glück! – Und ich habe es doch gehabt!“ dachte sie mit einem gewissen Trotz weiter, „ich bin acht Tage lang ganz glücklich gewesen, ich habe an der halboffenen Thür des Märchenreiches gestanden und mit dem Finger daran getippt – und die acht Tage haben ihn vergoldet! Acht Tage habe ich gelebt – es giebt ja Menschen genug, die nicht einen einzigen Tag leben!“

„Agnete,“ sagte Bertha, „setze dich doch zu mir in den Fond, ich möchte die helle Tasche dorthin legen, wo du sitzest – hier wird sie gedrückt.“

„Ich wollte gern das Haus noch sehen, bis wir um die Ecke gebogen sind,“ erwiderte Agnete schüchtern.

„Ach, das sind ja Gefühlsduseleien – du bist doch kein Backfisch mehr! Was siehst du an dem Hause? Ich habe eine Photographie davon mitgenommen, da kannst du es dir noch oft ansehen!“

Agnete schwieg.

„Setze dich hierher,“ beharrte Bertha, „die Tasche muß dort drüben liegen, sie wird gedrückt, ich sehe es schon!“

„Laß – ich komme!“ sagte Agnete müde, stand auf und setzte sich neben die Schwester.

Die Pension war verschwunden – vor ihnen lag das Thal – der Nebel stieg – stieg – stieg –, er hüllte den Weg, den Wald, den Wagen, das Leben ein – die Welt versank in seinem weichen, grauen Schleier, und das einzige, was Agnete hörte, war das leise Klirren der Ketten, die sie wieder festschmiedeten – Galeerensklave!