Textdaten
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Autor: Malvina von Humbracht
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Titel: Friesenliebe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7–9, S. 97–100, 113–116, 129–134
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Friesenliebe.


Wer in den letzten Jahren Nordschleswig bereist hat und die Insel Sylt durchstreifte, dem wird ein einsam liegendes Haus aufgefallen sein, das sich nicht allein durch seinen Baustyl vor den andern Häusern der Insel auszeichnet, sondern auch durch seine Umgebung, den Garten und die darangrenzende kleine Parkanlage sich als etwas Besonderes, etwas Anderes kundgiebt, als man auf Sylt und den friesischen Eilanden überhaupt zu sehen gewöhnt ist.

Jenes Haus, das „Haus der Gestrandeten“, wie das ursprünglich namenlose Gehöft einst auf der Insel genannt wurde, das jetzt so öd und verlassen inmitten der farbenreichen Hügelketten der wunderbar geformten Meeresdüne dasteht, zeigte sich vor zehn Jahren noch als kein so stiller, kein so verwilderter Ort. Eine von Menschen bewohnte, durch die verschiedensten Gestalten belebte Stätte, deren ganze Umgebung gehegt und wohlgepflegt war, zeugte es dazumal nicht nur von ordnender Hand und einem gebildeten Sinn, der geschmackvoll das vorhandene Material zu benutzen verstanden hatte, – nein, es verrieth dem denkenden Geiste hinlänglich, daß hier die Macht des Goldes in Schranken getreten war mit der Macht wilder Naturgewalten, die sich vielleicht nirgend so fessellos zeigen, wie auf diesem von Stürmen umbrausten Eiland der Nordsee.

Der dunkle Kranz der Erlen und Rüstern, die das Haus umgeben und sich so effectvoll vom schimmernden Hintergrund der weißzackigen Düne abheben, machte zwar immer einen etwas ernsten, vielleicht melancholischen Eindruck; doch das an den Fenstern und der offenen Veranda mit Blumen und Schlinggewächsen aller Art reich verzierte Gebäude, der bunte seltene Blumenflor des davorliegenden Gartens, die sauber gehaltenen Kieswege, das gastlich geöffnete Thor mit seinem durch Dunkel und Nacht stets hell strahlenden Licht im darüber erbauten Thürmchen – das Alles gab einst dem einsamen Hause Leben und freundlich, wohnliches Ansehen.

Jetzt sind Fenster und Thüren mit Läden fest verwahrt, der Garten ist verwildert, die Wege sind mit Unkraut überwuchert, an den dürren Rosenstöcken rankt sich hie und da eine wilde Schlingpflanze empor, wie wenn sie das vorschreitende Werk der Zerstörung verhüllen wolle, Seevögel machen kreischend Rast auf dem Giebel, dessen Schornsteinen kein Rauch mehr entsteigt, und Schaaren von Möven ziehen mit leisem Flügelschlag hin über das verödete Gebiet; das Thor des Gartens, durch welches kein Mensch mehr schreitet, ist ewig geschlossen und längst auch erloschen das Licht, das einst als freundlicher Leitstern dem Küstenfahrer geleuchtet. Trostlos ist’s namentlich anzusehen im Herbst, wenn der Sturm die schwanken Zweige der Erlen beugt und bricht, die gelben Blätter der Rüstern über den verwilderten Garten treibt, an den geschlossenen Läden rüttelt, wie wenn er sie jetzt endlich wieder öffnen wolle, und mit dem wilden Windsgeheul sich das laute Brausen der gegen die nahe Küste brandenden See eint und in ersterbenden Lauten und Klängen über das verödete Gebiet dahinzieht.

So jetzt! – einst anders. – –

Noch nicht volle zehn Jahre sind’s, da trat aus der Thür des Gartens eine kleine fröhliche Gesellschaft und schlug den Weg nach den Dünen ein. Sie bestand aus einigen jungen Mädchen, der Tochter des Hauses und ihren vier Freundinnen. Letztere waren Eingeborene der Insel, drei der Mädchen Kinder von Schiffscapitainen, die Vierte die Tochter eines sogenannten Deichgrafen, die von ihren Gefährtinnen nach der Stellung ihres Vaters den hochtönenden Titel „Deichgräfin“ erhalten hatte und vermöge ihres schönen, stolzen Aeußern demselben auch alle Ehre machte.

Zwischen diesen fünf Mädchen bewegte sich die elegante aristokratische Gestalt eines jungen Officiers mit ebensoviel Grazie wie Leichtigkeit. Er trug die Uniform eines schwedischen Gardeinfanterie-Regiments, hieß Baron Oscar Fordenskiöld und war in Kleidung und Manieren ein vollkommener Cavalier. Unter Scherz und fröhlichem Lachen suchte er den Platz an der Seite des Mädchens zu behaupten, welches unstreitig die Krone des kleinen Kreises war, ein Platz, der ihm voll Schelmerei und Muthwillen bald von den Seemannstöchtern, bald von der schönen Deichgräfin streitig gemacht wurde, wenn auch von dieser, wie es schien, mit nicht so harmlosem Sinn, wie von den Andern.

In ihrer lauten Fröhlichkeit bot die Gruppe ein hübsches Bild glücklicher Jugend. Sie gewann jedoch an Leben und Reiz, wenn „schön Ingeborg“, wie man das Fräulein des Hauses nannte, mit gewandter Bewegung und hellem Lachen dem jungen Officier entglitt, dann im schnellsten Lauf davoneilte und, wieder eingefangen, mit glücklichem Lächeln und heißem Erröthen eine Secunde lang in seinen Armen ruhte. Nicht mit Unrecht hieß Ingeborg Fordenskiöld, „schön Ingeborg“. Sie war eine reizende Erscheinung, anziehend und fesselnd, und stand in der ersten zarten Blüthe der Jugend; denn heute, am Tage ihrer öffentlichen Verlobung mit Oscar Fordenskiöld, ihrem Vetter, war zugleich ihr siebenzehnter Geburtstag.

Des Mädchens leichte, schlanke Gestalt erhob sich nur wenig [98] über Mittelgröße. Um ihr feingeschnittenes Antlitz, das jenes zarte Roth färbte, welches die Seemuschel in ihren Schalen birgt, flossen in natürlichen Wellen tief nußbraune glänzende Locken; die klaren blauen Augen strahlten von Lust und Glück, blickten groß, frei und offen in das noch so licht und glatt vor ihr liegende Leben und zeigten nur sehr selten ihre bedeutendere Schönheit, wenn die etwas gesenkten Lider mit den dunkeln Wimpern durchsichtige Schatten warfen auf das fast zu hell, zu leuchtend strahlende Blau. Mit dem blitzenden Schein dieser offenen Kinderaugen stand in vollstem Einklang das herzliche Lachen, das immer und immer wieder von den vollen Lippen tönte, und „schön Ingeborg“ war reizend bei diesem Ausbruch ungetrübten Frohsinns, frischer, ungebrochener Jugendkraft.

So heiter und froh, so voll Lust und Leben diese Gruppe – so ernst, still, fast düster jene andere, die ihr aus dem Hause folgte. Sie war gleichsam der Schatten zum vollen Sonnenlicht des Glücks, war gewissermaßen ein trauriges Symbol des Lebens, wo ja auch der rasch dahineilenden Freude der schwere Ernst auf dem Fuße folgt. Diese zweite Gruppe umfaßte nur drei Personen, zwei ältere Leute und einen jungen Mann von kaum zweiundzwanzig Jahren. Die eine der beiden ältern Gestalten, ein Mann nahe den Fünfzigern, war von hohem, muskulösem Wuchse, eine ernste, Achtung gebietende, äußerst vornehme Erscheinung. Sein Haar war aber schon völlig gebleicht und seine Züge waren durchfurcht, wie die eines Greises. Ruhe und Kälte drückten jetzt fast einzig die strengen Linien seines Gesichtes aus, in denen aber einst die verheerende Gewalt des Schmerzes und wilder Leidenschaft gewühlt haben mußten, um derartige Spuren von Kampf und Leiden zu hinterlassen.

Seitwärts von diesem Herrn wandelte langsamen Schrittes, gebeugten Hauptes eine zarte Frauengestalt in langem, schwarzseidenen Gewande. Sie mußte einst sehr schön gewesen sein, denn das marmorblasse Gesicht, das eine weiße Haube umschloß, wies Züge auf, die nach der Antike gemeißelt schienen. In diesen herrlichen Linien lag aber ein herzerschütternder Ausdruck von Kummer und Leid, wie ihn nur die herbsten Schicksale hervorgerufen haben konnten. Ueber die festgeschlossenen Lippen des ernsten Mundes schien nie ein Lächeln geglitten zu sein, aus den dunkeln melancholischen Augen nie ein Strahl der Freude geleuchtet zu haben! Obschon sie das vierzigste Jahr noch nicht erreicht, war auch ihr Haar gebleicht und schien sie überhaupt in Allem gleichen Schritt mit dem Manne gehalten zu haben, in dessen ganzer Erscheinung sich deutlich ausprägte, wie dornenvoll die Bahn gewesen, welche er im Leben durchwanden hatte.

Zwischen diesen Beiden war „schön Ingeborg“ herangewachsen. Jener ernste Mann, Baron Fordenskiöld, war ihr Vater, die Dame, Gräfin Alma Adlersparre, ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, welche, wie man ihr gesagt hatte, bald nach ihrer Geburt gestorben war. Fast achtzehn Jahre waren’s, als ein Schiff die Familie von Helgoland nach der Insel Sylt gebracht, wo sie sich angesiedelt und seitdem gelebt hatte. Kein Diener, keine Dienerin hatte sie begleitet, mit ihnen war nur der alte Schiffscapitain Knud Larsson gekommen, der in einem der größern Dörfer Sylts ansässig war und dort mit seiner verwittweten Schwiegertochter und deren einzigem Sohne Erich lebte.

Knud Larsson war aber ein sehr schweigsamer Mann, der kaum mit seiner Schwiegertochter ein Wort wechselte und, wie es hieß, nur mitunter mit seinem Enkelsohn redete; sein Haus wurde auch stets gemieden, wenn er, der gewöhnlich auf der See umherfuhr, einmal daheim war. So kam es denn, daß die Fremden, welche er mit nach Sylt gebracht, nachdem sie die Schwelle seines Hauses überschritten hatten, gewissermaßen wie begraben waren und Niemand etwas Näheres von ihnen erfuhr. Man hielt sie für Gestrandete und nannte sie auch nur „die Gestrandeten“. Zwar war Knud Larsson’s Enkel Erich zur Zeit, da sein Großvater diese Gäste in sein stilles Haus führte, kaum sechs Jahre alt, allein noch hatte er den Eindruck nicht vergessen, den es auf die Fremden gemacht, als sie in den Tagen, wo sie ihr neues Haus bezogen, das sie unweit der Meeresküste hatten bauen lassen, zum ersten Male den Namen erfuhren, mit dem es der Mund des Volkes belegt. Wie Wetterleuchten hatte es im Antlitz des Mannes gezuckt, als Erich ihm auf seine Frage nach den „Gestrandeten“ mit Kinderoffenheit gesagt, daß der Fragende selbst so heiße; zum unaussprechlichsten Staunen des Knaben waren Thränen in den Augen des ernsten Mannes aufgestiegen und er hatte geweint wie ein Kind. Die schöne Frau aber, die der kleine Erich wie ein Wesen aus andern Welten betrachtet, war bei den Thränen des Mannes ohnmächtig geworden, und als man sie zum Leben erweckt, hatte sie sich dem Herrn zu Füßen geworfen und schluchzend ausgerufen: „Gott sei Dank, die Starrheit Deines Schmerzes ist gebrochen, Du wirst genesen, wirst vergeben und vergessen!“ „Nie!“ hatte er finster entgegnet, und von Neuem war sie leblos hingesunken.

Wie oft auch der Herr später den Knaben voll Wehmuth gefragt hatte: „Wie heiß ich?“ das unglückliche Wort war nie wieder über des Kindes Lippen gekommen. Es hatte weder die Thränen, noch jene bedeutungsvollen Ausrufe vergessen, hatte trotz seiner Jugend tactvoll herausgefühlt, welchen Sturm er in der Seele jener Beiden heraufbeschworen, die man in Ermangelung andern Namens so benannt.

Die wirklichen Namen der Fremden, ihr verwandtschaftliches Verhältniß, das Alles hatte sich den Bewohnern von Sylt erst in spätern Jahren kundgegeben, erst da, als eines Tages ein Herr mit einem Knaben nach der Insel gekommen und nach dem Hause des Baron Fordenskiöld aus Schweden gefragt. Es war, wie man hörte, der Bruder des Fremden, der auch von jetzt an alljährlich wiederkehrte und mit seinem Sohne einige Wochen in dem einsamen Hause verlebte.

Erich Larsson, inzwischen zu einem Burschen von fünfzehn Jahren herangewachsen, hatte die nach Baron Fordenskiöld forschenden Fremden zu der einsamen Wohnung geleiten müssen. Seltsamer Weise hatte er sie Stunden lang in der Irre herumgeführt, sie endlich, als schon die Dämmerung eingebrochen, unter dem nichtigen Vorwande: „den richtigen Weg verfehlt zu haben“, in eins der kleinen Dünenthäler geführt, das unweit der Besitzung des „Gestrandeten“ lag, hatte sie gebeten, dort zu warten, bis er sich selbst zurecht gefunden, und war dann wie ein Pfeil nach dem Hause geschnellt, über dessen Thorbogen man eben das leitende Licht entzündete.

In Erich’s Seele war nämlich, wie er sich späterhin klar bewußt wurde, der dunkle Gedanke aufgetaucht, sein alter Freund und Gönner würde die Fremden nicht empfangen und vor ihnen vielleicht entfliehen wollen. Darum hatte er jene merkwürdigen Vorkehrungen getroffen. Es war anders gekommen. Er hatte die Ankömmlinge dennoch zu dem stillen Hause geleiten müssen, sie waren wiedergekehrt und der Knabe, den er einst lieber in’s Meer geschleudert, als zu „schön Ingeborg“ geführt, er war jetzt seiner Jugendgespielin Verlobter.

Erich Larsson, obschon aus einer Seemannsfamilie stammend und mit dem Meere vertraut seit der frühesten Kindheit, war auf Wunsch und Bitte seiner Mutter, die Vater, Gatten und drei Brüder auf der See verloren hatte, bewogen worden, dies tückische, furchtbare Element nicht als eigentliche Lebensheimath zu erwählen. Ein Bruder von Erich’s Vater war Handelsherr in Hamburg und ihn, der kinderlos, hatte Frau Larsson gebeten, sich ihres Sohnes anzunehmen, als Erich in seinem achtzehnten Jahre von der ersten größern Seefahrt glücklich zurückgekommen war. Wer weiß aber, ob Erich ihren Bitten allein nachgegeben, sich durch die Schilderung ihrer Angst allein hätte bewegen lassen, den ihm so lieben Beruf aufzugeben und Kaufmann zu werden. Ingeborg, seine kleine Freundin, war’s, die ihr Flehen mit dem seiner Mutter vereinte und ihm unter Thränen versicherte, daß sie während seiner Abwesenheit keinen ruhigen Tag gehabt und sterben würde vor Sorge, ginge er wieder zur See! – – –

Ingeborg Fordenskiöld’s Geburtstag war auch der von Frau Larsson. War darum Erich alljährlich zu diesem Tage nach Sylt gekommen, es war Niemand aufgefallen und Jeder in dem einsamen Hause hatte es sogar natürlich gefunden, daß er am Morgen schon Ingeborg seine Glückwünsche brachte und darauf den Tag, wie ehedem, mit der verlebte, die seit früher Kindheit seine Gespielin und Freundin gewesen war und sich selbst seine „Schwester“ nannte.

Als Erich am Morgen von Ingeborg’s siebzehntem Geburtstage dem jungen Mädchen seine kleinen Gaben überreichte und nur wenige Worte fand, um seine heißen Wünsche für sie auszudrücken, da erzählte sie ihm unter Lächeln und Erröthen, daß sie die Braut ihres Vetters sei und über’s Jahr schon seine Frau sein werde. Wohl fiel ihr die Todesblässe auf, die sein blühend Antlitz bei der Nachricht deckte; doch als er hastig sagte, wie das vom raschen Gehen komme und daß er schon seit mehreren Tagen [99] unwohl sei, beruhigte sie sich und sprach ihre Freude aus, daß er die Einladung ihres Vaters angenommen, auch heute den Tag mit ihnen zu verleben.

Wie gern Erich nun auch die Zusage rückgängig gemacht hätte, die er am vergangenen Abend gegeben, und zu seiner Mutter geeilt wäre, die unpäßlich war, er fühlte, daß er die Sache nicht ändern könne, ohne zu verrathen, wie unglücklich es ihn mache, Ingeborg verlobt mit Dem zu wissen, auf den er als Kind schon eifersüchtig gewesen.

All sein Stolz, sein Ehrgefühl – und er besaß von beiden viel zu viel für das Glück des Herzens und den Frieden seiner Seele – empörte sich in wildem Ungestüm gegen den Gedanken, seine unerwiderte Liebe zu Ingeborg entdeckt zu sehen und seiner alten Freunde, seiner jungen Freundin Mitleid zu erregen! – –

So kämpfte er tapfer mit dem Schmerz, der ihn fast zu ersticken drohte, und als die Hälfte des unseligen Tages glücklich verflossen, die Morgen- und Mittagsstunde vorüber war, die Pein zur Qual stieg, der Schmerz in’s Stadium der Verzweiflung trat, da – da, wo er fürchtete zu erliegen, bot sich ihm endlich die heißersehnte Gelegenheit, fern von der Geliebten neue Kraft zu erringen für die nächsten, letzten Stunden des Beisammenseins. Ingeborg hatte nämlich einen Spaziergang vorgeschlagen, und die Deichgräfin bat, denselben bis nach dem Boikenhügel auszudehnen, in dessen Nähe sie wohnte, weil sie ihrem Vater versprochen habe, gegen Abend daheim zu sein.

Erich Larsson hatte sich nicht der fröhlichen Jugend, sondern dem ernsten Alter angeschlossen. Sah man ihn zwischen den Beiden dahinschreiten, auf die der Kummer seine Last so sichtbar geworfen hatte, so fand man ihn dieser Gruppe, trotz des Unterschieds der Jahre, vollkommen anpassend. Seine Stirn war zwar nicht gefurcht, auf ihrer hohen, freien Fläche lagen aber die dunkeln Schatten trüber Gedanken und das glanzlos starre Auge, das so düster in die öde Weite starrte, schien sich fest zu bannen an dem dunkeln Gewölke, das in schweren Gebilden den goldnen Schein der Sonne verhüllte. Nur dann und wann einmal zuckte ein Strahl von Leben und Bewegung durch das finstere Antlitz des jungen Mannes, wenn das helle frische Lachen Ingeborg’s, vom Winde getragen, an sein Ohr klang, – doch rasch, wie er gekommen, verglomm der Schimmer wieder.

Unter Scherz und Lachen erreichte die erste Gruppe das Ziel der Wanderung, den Boikenhügel; in stummem Schweigen, sowie sie den ganzen Weg zurückgelegt, gelangten die drei Letzten des kleinen Zuges auf dem Plateau an, wo die jungen Leute, ausruhend, Platz genommen hatten und sich lebhaft unterhielten.

Der Boikenhügel wird von den Syltern, von den Friesen überhaupt, als kein gewöhnlicher Hügel betrachtet, sondern bald als das Grab des Meerriesen „Boh“ angesehen, von Anderen wiederum als die Stätte bezeichnet, die man ihm, als dem „Rächer alles Unrechts“, geweiht habe.

Der alten Volkssage nach hatte der Meerriese Boh einen sehr edeln Bruder, Namens Bolder, der, vermählt mit einer der schönsten Friesinnen, Nanna mit Namen, seinen Sohn Forsete schon so gut erzogen hatte, daß er der Schlichter aller Streitigkeiten im Lande der Friesen geworden und sehr angesehen war. In die schöne Frau des edeln Bolder verliebte sich aber ein jütländischer Meerriese, Namens Hother, der von der Todesgöttin Hel ein Gewand erhalten, das ihn gegen alle Angriffe schützte und unverwundbar machte. Angethan mit diesem Zauberkleide, ermordete er den Gatten der schönen Nanna, bemächtigte sich dann ihrer und wurde erst für seine Sünden bestraft, als Boh, Bolder’s Riesenbruder, von der That hörte, Hother überfiel, als er nicht sein schützend Gewand trug, ihn tödtete und damit, nach Ansicht jener Zeit, den Bruder auf’s Erhabenste rächte.

Wie fest das Sylter Volk an die Macht dieses Meerriesen glaubt, „das Unrecht zu strafen und zu rächen“, beweist am Besten, daß noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts das durch einen Landvogt hart bedrückte Inselvolk auf dem Boikenhügel eine Klagschrift gegen einen bösen Landvogt an einem hohen Pfahl aufschlug, in der Hoffnung, Meerriese Boh würde auch die Ahndung dieses Unrechts übernehmen.

Die jungen Leute auf dem Plateau des Boikenhügels besprachen eben die alte Volkssage, als Baron Fordenskiöld, seine Schwägerin und Erich Larsson herzutraten.

Nanna Hansen, die Deichgräfin, vielleicht ebenso schön wie jene vorzeitliche Nanna, sprang, als die Andern kamen, blitzenden Auges empor, und die schwarzen Flechten ihres reichen Haares, die der Wind ihr in’s glühende Antlitz wehte, mit heftiger Gebehrde zurückwerfend, trat sie vor Baron Fordenskiöld den Aeltern hin und rief lebhaft: „O Herr, helft mir, Euren ungläubigen Neffen zu überzeugen, der da behauptet, daß Riese Boh keine Macht mehr auf Erden besitze und überhaupt ein Gebild überreizter Phantasie sei.“

War’s ein gewisses Etwas in Ton und Wesen des Mädchens, das Baron Fordenskiöld aus seiner gewohnten starren Ruhe riß, oder sah er das tiefe Erblassen seines Neffen, dessen Lächeln wie mit Zauberschlag entschwunden war und in dessen Zügen Pein, Schreck und Entsetzen so deutlich zu lesen standen? Er blickte auf Beide, forschend und prüfend und entgegnete dann mit der ihm immer eigenen Kälte: „Liebe Nanna, geben Sie’s auf, Jemand, der nicht an Ihre schönen Volkssagen glauben will, davon zu überzeugen.“

„O, es handelt sich hier vielleicht weniger um Volkssagen, als um unseren festen Volksglauben!“ rief das Mädchen noch lebendiger, noch schärfer, „ich möchte den jungen Herrn so gern davon überzeugen, daß das Unrecht sich immer rächt, ob nun Riese Boh oder ein Gott die Strafe übernimmt.“

„An wem?“ fragte Ingeborg’s Vater ruhig.

„Nun, am Schuldigen! an wem sonst?“ entgegnete Nanna lebhaft.

„Nicht immer büßt der Schuldige das Unrecht!“ sprach der Baron düster, wandte sich ab und schaute auf das Meer, das seine schaumgekrönten Wellen mit lautem Brausen gegen die nahe Küste trug.

„So giebt’s mithin keinen gerechten Gott mehr!“ stieß das Mädchen in leidenschaftlicher Heftigkeit heraus, setzte aber dann ernst hinzu: „Nein, Gott ist gerecht, Baron Fordenskiöld.“

„Das Leben aber voller Ungerechtigkeiten!“ rief dieser etwas lebhafter, als gewöhnlich. „Sehen Sie dorthin, Nanna, bis wohin sich einst Sylts Küste erstreckte! Was thaten die, welche einst harmlos dort lebten, wo jetzt die Meereswogen über ihrem Grabe brausen? Einfach spann sich ihr friedlich Dasein ab. Sie vertrauten dem Boden, der sie trug, schauten hoffend auf in’s Licht. Da kamen Wolken, da wüthete der Sturm, hoch und immer höher stieg das Meer, die Scholle, der sie vertraut, wich unter ihren Füßen, sie wurden in die todbringenden Wellen geschleudert, ihr Ringen, Kämpfen, Hoffen half zu Nichts, sie mußten untergehen und waren auf ewig verloren!“

„Nicht auf ewig!“ rief die Gräfin Alma lebendig und setzte langsamer hinzu: „hier, ja hier, wo sie vergeblich mit Wogen und Wellen, mit Sturm und Brandung gekämpft, da starben sie! doch dort im Licht, wo Freude und ewiger Friede herrschen und wohin die Schatten des Lebens nicht dringen, da erwachten sie und waren durch Nacht, durch Schmerz und Kampf zum Siege, zu ewiger Freude, zu ewiger Seligkeit gelangt.“

Baron Fordenskiöld warf nur einen flüchtigen Blick in die dunkeln traurigen Augen der bleichen Frau an seiner Seite, die ernst aufschaute zu jenem Lichte, auf das sie hoffte, an das sie glaubte – und leise, nur ihr verständlich, sagte er: „Mög’ uns auf ewigen Kampf bald ewiger Friede folgen!“

Die Gruppe der fröhlichen Jugend verließ den Hügel nicht so fröhlich, wie sie ihn erstiegen hatte, sondern fast eben so ernst und gedankenvoll, wie die beiden ältern Leute, die jetzt den Zug eröffneten. Unten am Fuß der Höhe trennte man sich von Nanna und die muntere Alfhilde Löhr, die Seemannstochter, rief ihr lachend nach: „Verschlaf’ die Grillen, die Du oben auf dem Boikenberg gehabt hast.“

Nanna, die stolze Deichgräfin, wandte sich auf den Zuruf nicht um, wohl aber zurück, als die Gesellschaft sich entfernt hatte und nur Erich Larsson noch auf dem Plateau weilte. Eine Secunde stand sie sinnend still, dann eilte sie den Hügel wieder hinauf und ihre Hand dem jungen Mann auf die Schulter legend, sprach sie eindringlich: „Erich, theile Du mindestens meinen Glauben! Vielleicht giebt er Dir Trost in der Verzweiflung Deines Herzens, die Dir Niemand besser nachfühlt, denn ich!“

„Nanna, was meinst Du damit? was willst Du?“

„Du sollst glauben, daß Unrecht sich rächt und den Schuldigen die Strafe ereilt, ob früh oder spät.“

„Inwiefern soll das mein Trost sein?“

[100] „Weil Du dann noch glücklich werden kannst,“ sagte sie ernst und bedeutungsvoll.

Er zuckte zusammen, richtete sich dann stolz, fast heftig empor und fragte trotzig: „Was berechtigt Dich dazu, mich für unglücklich zu halten?“

„Die Vergangenheit und – der heutige Tag!“

Die Worte erschütterten ihn; doch bezwang er sich und sagte kalt: „Ich verstehe Dich nicht!“

Sie sah ihn fest an und entgegnete traurig: „Ich verstehe Dich leider nur zu gut – Deine Qual – Deine Kämpfe – Deinen Stolz – und traurigen Sieg!“

„Nanna!“ rief er weicher, als er Thränen in den Augen sah, die er nur leuchtend von Glück und strahlend von Jugendmuth kannte.

„Ja, Erich, ich verstehe Dich!“ wiederholte sie ernst, „ich, die lustige Nanna, sag Dir’s noch einmal: Niemand, Niemand kann Dir die Verzweiflung Deines Herzens besser nachfühlen, denn ich! Unsere Lage ist insofern eine gleiche, weil der heutige Tag unsere beiderseitigen Jugendhoffnungen zerstörte. Ich, Erich, bin nur noch schlimmer daran, denn während Dich, wie ich glaube, noch kein festeres Band an Ingeborg knüpft, als das Deiner Liebe, war ich Oscar Fordenskiöld’s Braut, seit zwei Jahren seine glückliche, seine hoffende, seine überselige Braut! An meinem sechzehnten Geburtstage verlobte er sich mit mir im Geheimen, noch vor sechs Wochen, als er von Schweden kam, schwur er mir ewige Liebe, ewige Treue, und heute – heut’ ist er Ingeborg vor Gott und Menschen feierlich anverlobt!“

„Wie? Was sagst Du?“ schrie Erich entsetzt.

„Die Wahrheit.“

„Nanna, es ist unmöglich!“

„Ich dachte es bis heute auch, Erich! aber es ist doch wahr! Vor einigen Tagen beschied er mich hierher, hier an dieser Stelle sagte er mir, wie er durch den Willen seines Vaters, den Wunsch seines Onkels gezwungen sei, um Ingeborg zu werben, und daß dann auch bald die Hochzeit folgen werde. Er sprach auch noch von seiner Armuth, von Ingeborg’s Reichthum, von alten Verpflichtungen, die er eingegangen sei, ehe er mich geliebt habe, von neuen Ereignissen, die mit drückender Gewalt über ihn hereingebrochen seien, kurzum, er sprach und redete von Vielem, während ich von Allem Nichts verstand, als seine Absicht, mich aufzugeben. Obschon ich nun dies Eine, dies Entsetzliche zwar verstand, begriffen hab ich’s erst seit heute Morgen, wo Ingeborg mir, ihrer vertrautesten Freundin, die Anzeige von ihrer Verlobung sandte und mich bat, dem frohen Familienfeste beizuwohnen. Hier, an eben dieser Stelle, hab ich mir vor einigen Stunden Kraft erfleht, ihrer Einladung Folge leisten zu können, habe sie dann als seine Braut gesehen, sie – sie, die Freundin, in den Armen Dessen, der mir Liebe und Treue geschworen!“

Das Mädchen, das die letzten Worte in leidenschaftlicher Heftigkeit hervorgestoßen, blieb einen Augenblick in tiefes Schweigen verloren, dann fragte es mit hohler Stimme:

„Weißt Du, was es heißt, einer Friesin das Wort brechen?“

In sprachlosem Schrecken starrte er sie an, doch eh’ er eine Silbe entgegnen konnte, fuhr sie hastig fort:

„Du weißt von Hörensagen, was solch ein Weib unseres starren Volkes kann, dem man das Herz mit Füßen getreten und die Seele gefoltert hat. Doch ich, Erich, ich weiß jetzt aus Erfahrung, wie Jemandem zu Muthe ist, der so behandelt worden, und das ist etwas Anderes, o, das ist furchtbar, so furchtbar, wie meine Rache sein wird.“

„Was gedenkst Du zu thun?“

„Zu beten!“

„Zu beten?“

„Nichts Anderes! Mit der heißen Inbrunst, wie ich heute hier zu Gott um Kraft gefleht, so werd’ ich ferner Tag für Tag, Stunde um Stunde Ihn den Allmächngen bitten, das mir angethane Unrecht zu rächen! Er, der Allgütige, der mich heut erhört, wird sich auch künftig mir gnädig erweisen, wird den Meineidigen strafen, mit der härtesten Strafe, die ihm zu Theil werden kann – ihm die Liebe Ingeborg’s entziehen, die jetzt sein Glück ist, wie seine Liebe einst das meinige war.“

Sie schwieg erschöpft, und Erich Larsson sagte leise:

„Möchtest Du nicht vergebens beten!“




Die Sonne des nächsten Morgens stand noch nicht hoch am Himmel, als die beiden stattlichen Gestalten der Barone Fordenskiöld durch die niedrige Thür des Hauses traten, in welchem der Deichgraf Hansen wohnte. Sie begehrten Nanna zu sprechen. Als die Magd den Bescheid gab, Nanna sei bei Tagesanbruch mit ihrem Vater nach Föhr gefahren, leuchtete ein Freudenstrahl im Antlitz des jungen Mannes auf, während das ernste Gesicht des ältern Herrn noch ernster und düsterer wurde.

„Werden sie bald wiederkommen?“ fragte der Letztere nach kurzem Sinnen.

Das Mädchen lächelte ein wenig verlegen und entgegnete leise: „Sie wissen vielleicht nicht, daß der Capitain Arnulf Braderöp von seiner großen Reise heimgekehrt ist und einige Wochen auf Föhr bleibt?“

„Nein! Doch was hat das mit meiner Frage zu thun?“

Das Mädchen wurde noch verlegner, erröthete tief und griff, wie um irgend einen Halt zu haben, nach seiner Schürze.

„Arnulf Braderöp ist nicht allein der schmuckste Bursche,“ sprach sie dann langsam und bedächtig, „der je auf den Halligen gelebt, er hat auch eins der schönsten Schiffe, die je in See stachen. Als er voriges Jahr hier war – und Sie haben wohl gehört, daß das am Tage nach dem der Fall war, wo er nach Föhr zurückgekommen – da sagte er, die nächste Reise mache er nicht allein, sondern mit seiner Frau, für die schon eine Cajüte eingerichtet wäre, und diese Frau heiße, so Gott ihm gnädig sei und Menschen seine Wünsche erhörten, Nanna. Der Deichgraf lächelte bei den Worten so wohlgefällig, daß ich gleich wußte, Herr Arnulf Braderöp würde von ihm willkommen geheißen, wenn er den größten Schatz des Hauses entführen wolle; die Hauptperson, Nanna, wurde aber grad so roth, wie der Seekrebs, der da auf dem Heerde kocht, und gestern Abend, da ging sie dem Vater so lang um den Bart, bis der Alte versprach, heut seine Schwester auf Föhr zu besuchen, welche die Tante des Capitains Arnulf ist. Ich denke mir nun, sie werden so lange ausbleiben, bis alles Nähere von wegen – der nächsten Seereise verabredet ist.“

Wie wenig küssenswerth auch Jungfrau Stine Brömmer, der dienstbare Geist des deichgräflichen Hauses, aussah, Oscar Fordenskiöld schien, nach dem Ausdruck seines Gesichts zu urtheilen, das lebhafteste Verlangen zu tragen, sie in seine Arme zu schließen. Selbst sein ernster Onkel blickte die Berichterstatterin freundlich an und schritt mit freierer Stirn und hellerm Auge aus dem Hause, als er in dasselbe eingetreten.

Als beide Herren einige Schritte gegangen, sagte der Baron: „That ich Dir Unrecht, Oscar, so wird Niemand glücklicher sein, als ich, und ich Dich frohen Herzens um Verzeihung bitten.“

„Lieber Onkel,“ entgegnete der junge Mann mit geschmeidiger Unterwürfigkeit, „ein Irrthum war von Ihrer Seite nur zu natürlich, nach den seltsamen Worten des Mädchens. Wollten Sie mir nun aber auch gestern Abend nicht glauben, daß die schöne Deichgräfin immer etwas aufgeregt und voll überspannter Ideen sei, jetzt sind Sie hoffentlich überzeugt, daß in ihrem Ausruf kein Hinterhalt gegen mich lag. Fräulein Nanna –“

„Lassen wir das, Oscar! Ich sagte Dir bereits, ich glaubte seit lange keinen Worten mehr und mir genügten zu Ueberzeugungen einzig Beweise. Aus diesem Grunde begab ich mich zu dem Mädchen; da ich indeß durch Nanna’s Abwesenheit verhindert wurde, ihr die Fragen vorzulegen, die ich beantwortet wünschte und über welche Du mir keine mich befriedigende Auskunft gegeben hast –“

„Sie genügte aber doch Ingeborg – Ingeborg, meiner Braut!“

„Ingeborg ist ein Kind! sie kennt weder Herz noch Welt, sie war erschreckt durch Wort und Wesen ihrer Freundin, Du beruhigtest sie und sie ist zufrieden. Anders mit mir, dem Manne, der die dunklen Wege des Lebens kennt und die Tiefen der Seele ergründete, der aus bitterer Erfahrung weiß, wohin sich der Wogenschlag des Schicksals wenden kann. Laß also Ingeborg aus dem Spiele! Du hast’s jetzt nur mit mir, dem Vater, zu thun, der sein Kind vor dem Jammer bewahren möchte, welcher einst über mich, den fest Vertrauenden, hereinbrach. So werde ich denn an Nanna schreiben. Ich bitte Dich, so lange nach Westerland zu gehen, bis ich Antwort bekommen, und sei fest überzeugt, daß ich diese Dir keine Stunde vorenthalten werde.“

[113] In Oscar Fordenskiöld’s Antlitz wechselten Gluth und Blässe, er preßte die Lippen fest aufeinander, wie wenn er den heftigen Worten, die er so gern entgegnet hätte, den Weg abschneiden wollte. Erst als er ruhiger geworden, fragte er kurz: „Darf ich den Inhalt Ihres Schreibens erfahren?“

Ein Zug kalter Verachtung zuckte um die Lippen des ältern Mannes. „Du kannst um so eher wissen, was ich an Nanna schreibe,“ entgegnete er, „als es nichts Anderes sein wird, als was ich sie in Deiner Gegenwart fragen wollte.“

„Und im Fall es Fräulein Hansen beliebt, Ansprüche an mich zu erheben, da ich das Glück genieße, ein Freiherr zu sein, während Arnulf Braderöp nur Schiffscapitain ist?“

„In dem Fall löse ich Ingeborg’s Verlobung – und Du wirst hoffentlich so ehrenhaft sein, den Ansprüchen gerecht zu werden, die sie macht, denn wie ich das Mädchen kenne, und das ist seit langer Zeit, würde Nanna Hansen selbst um eine Fürstenkrone nicht Etwas verlangen und thun, wozu sie nicht volle Berechtigung hätte.“

„Onkel, ich bitte Sie, schreiben Sie einen solchen Brief nicht! Greifen Sie nicht zerstörend ein in mein – in Ingeborg’s Schicksal!“

„Ich unterlasse nie etwas von dem. was ich zu thun als meine Pflicht erkannte! Ich sagte Dir, ich könne und wolle Ingeborg nicht als Weib eines Mannes sehen, an den eine Andere Ansprüche habe. Erhebt solche die Tochter des Deichgrafen Hansen – so besser jetzt, als später! Ich theile in dem Fall mein Vermögen zwischen Dir und Ingeborg, behalte mein Kind, das ich, aus Gründen, die Du kennst, vor dem Elend zu bewahren suche, welches mich ereilte und mein Glück, mein Leben zerstörte.“

Oscar Fordenskiöld wollte Einwendungen machen, da fiel sein Blick auf das strenge, entschlossene Gesicht seines Onkels und er schwieg.

Nach Verlauf von acht Tagen, die der junge Mann fern von Ingeborg und dem Hause seiner Verwandten verlebt, trat Baron Fordenskiöld vor seinen Neffen hin, mit den nämlichen, wie aus Erz gegossenen Zügen, unbeugsamen Willens, überreichte ihm einen Brief und sagte ernst:

„Seitdem ich das da gelesen, glaube ich, daß ich Recht und Nanna Hansen einst Ansprüche an Deine Treue hatte. Wie dem aber auch ist, sie weist Deine Hand zurück und Ingeborg kann ich nicht von Deiner Schuld überzeugen. Sie glaubt nicht, daß Du Dich Jener und ihrer unwerth benommen. Ist ihre Liebe nun wirklich so tief und stark, so wird sie die Probe bestehen, die ich für Dich ansetzen muß, um Beweise Deiner Treue und Standhaftigkeit zu erhalten, ohne welche Bürgschaft mir das Loos meines Kindes zu unsicher dünken würde. Drei Jahre sollst Du nach meinem Willen, nach meiner festen, unumstößlichen Bestimmung Ingeborg nicht sehen, nicht an sie schreiben, überhaupt in gar keiner Verbindung mit uns stehen. Kannst du nach drei Jahren Ingeborg’s Hand von mir mit dem guten Gewissen verlangen, das ich bei einem Sprossen des Fordenskiöld’schen Geschlechts voraussetze – so will ich nicht allein des Mädchens Worte auf dem Boikenhügel und diesen Brief hier vergessen, sondern dann auch nicht zögern, Dir Ingeborg zu übergeben.“

„Onkel, Onkel, Erbarmen!“ rief der junge Mann flehend, „kürzen Sie die Probezeit ab!“

„Um keinen Tag! Erst nach Ablauf dieser drei Jahre werde ich von Neuem auf Deine Treue bauen können, wenn in der Zeit Deine Liebe sich bewährt hat.“

Baron Fordenskiöld verließ das Zimmer, sein Neffe aber knitterte den kleinen Brief Nanna Hansen's zusammen und rief verzweifelnd:

„Und würf’ ich mich ihm auch zu Füßen, läge flehend, bettelnd im Staube vor ihm, von jetzt ab bis an’s Ende der Frist mir nur eine Minute zu erlassen – vergebens! Alles vergebens bei ihm, der nicht Gnade noch Erbarmen kennt, sondern mit unerbittlicher Strenge richtet.“

„Wo sich’s um eine Schuld handelt!“ setzte eine andere Stimme hinzu.

Der junge Mann blickte empor und sah in die dunkeln, traurigen Augen der Gräfin Adlersparre, die vor ihm stand.

„Tante, Du hier?!“

„Ich soll bei Dir bleiben, bis Knud Larsson’s Schiff in See geht, auf dem sich bereits Dein Gepäck befindet.“

„Wann ist das?“ fuhr Oscar Fordenskiöld in heftigem Schmerze auf.

„In vielleicht einer Stunde, lieber Oscar; es ist darum Zeit, aufzubrechen!“

„O Tante, kannst Du nicht für mich bitten?“

„Ich that’s, Oscar, aber – vergebens!“




Am Abend desselben Tages schien der Mond hell auf den kleinen Garten am Hause der „Gestrandeten“, der jetzt so verödet, so verwildert im einsamen Dünenthale liegt. Der Silberschein drang in eine dunkle Mooshütte, die, jetzt völlig verfallen, einst ein lauschig Plätzchen bildete, das Erich Larsson der kleinen Ingeborg erbaut und wo sie Beide als fröhliche Kinder ihre harmlosen [114] Spiele gespielt. Hier hatten sie Robinson, hier Paul und Virginie zusammen gelesen, und hier war’s auch gewesen, wo Ingeborg so glänzenden Freudenschimmer in Erich’s Leben geworfen, als sie ihm gesagt hatte, sie würde sterben vor Angst, wenn er wieder zur See ginge. – –

So klein die Hütte, so groß und reich der Schatz der Erinnerungen, der sich für Den daran knüpfte, der mit verschränkten Armen am Pfeiler des Einganges lehnte und düstern Auges auf die lichte Gestalt schaute, welche hell und klar das Mondlicht umfloß. Es war Ingeborg, Ingeborg, die auf dem engen Schauplatz ihrer Kinderspiele im ersten Schmerz ihres Lebens mit heißen Thränen weinte.

Ingeborg Fordenskiöld war vor acht Tagen siebenzehn Jahre alt geworden, sie kannte außer dem einsamen Eiland, auf dem sie lebte, nichts von der Welt, war, was ihr Vater gesagt, ein Kind, ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug genommen. Wie das Kind auf den Weihnachtsbaum, so hatte Ingeborg sich alljährlich auf den Besuch ihres fröhlichen Onkels und des ewig heitern Oscar gefreut. Wie jener Baum Licht in dunkle Abende bringt, so hatte die Anwesenheit ihrer Verwandten Freude in ihr stilles Leben getragen. Beider Besuch brachte Ingeborg Abwechselung, brachte Anderes, als der tagtäglich im ruhigen Geleise sich abspinnende Lauf des Lebens, und welches Kind begrüßt eine heitere Abwechselung nicht mit Jubel und Entzücken?

Wenn Baron Fordenskiöld seiner Tochter vor vier Wochen gesagt hätte, sie solle ihren Onkel heirathen, Ingeborg würde der Vorschlag vielleicht ebenso behagt haben, wie der andere, Oscar’s Frau zu werden und mit ihm über das Meer hinüber in die Welt zu ziehen, nach der sie so heißes Verlangen trug. Die Eroberung dieses Mädchenherzens, dessen Gefühle alle noch ungeprüft, war keine schwierige, wenn sie auch Oscar in Anbetracht ihres Reichthums eine glänzende erschien. Nur wenige Wochen hatte ihr stilles Glück gedauert, dann hatte Ingeborg es den Freundinnen verkünden dürfen, und, wie so oft im Leben, war mit dem ersten lauten Wort auch dem „stillen Glück“ des ruhig freudigen Genusses das Grablied angestimmt!

Während dieser ersten grellen Schmerzensklänge in Ingeborg’s bisher so harmonischem Leben war sie eine Andere geworden, und was noch vor Wochen nicht einmal ein leiser Wunsch ihres Herzens gewesen, das hatte binnen Tagen sich zum glühenden Verlangen ihrer Seele gesteigert. Fort und fort lauschte sie auf die verhallten Töne ihres reinen Glücks, immer schmerzlicher sehnte sie sich zurück nach dem reichen Melodienschatz des alten Liedes, das da ewig neu bleibt, das auch an ihr seine überwältigende Macht und Kraft bewährt, als sie es zum ersten Male gehört, so kurze Zeit gehört!

Ob es nun nach Ansicht Anderer ein Unwürdiger war, der jenen Zaubergesang des Herzens angestimmt – was wußte sie davon! Er hatte ihr gesagt, er liebe sie, und was auch ihr Vater von seinem Verrathe gesprochen – sie glaubte es nicht! Wo ist in so geschützten und behüteten Verhältnissen das Mädchen zu finden, das von derartigem Unrecht nur einen Begriff hätte; wo das Mädchen zu finden, das, wenn es wahrhaft liebt, nicht für den Geliebten gegen eine ganze Welt in die Schranken treten würde?

Ingeborg glaubte zu lieben, zu lieben wie eine Heloise, zu dulden um einen Abälard! – – –

Wie schnitt diese Liebe, dieser Schmerz aber tief und tiefer in das Herz des Mannes, der, ein stummer Zeuge ihres Jammers, am Eingange der Mooshütte lehnte und in lautlosem Schweigen ihr Schluchzen anhörte! Sie sah ihn nicht. Sie saß auf der Moosbank im Hintergrunde des Häuschens, den Kopf gestützt auf die Arme, welche auf dem Tische vor ihr einen Halt gefunden, das Gesicht war vergraben in ihren Händen, unter der Fülle ihrer Locken, die aufgelöst in wirrem Durcheinander über Nacken und Schultern, über Hände und Arme flossen.

„Ingeborg!“ rief endlich der Mann am Eingang weich und leise, als neues, heftiges Schluchzen ihren zarten Körper immer mehr erschütterte.

Sie sprang empor, sah durch Thränen auf die Gestalt, sank zurück und sprach tonlos: „Ach, Du Erich, Du bist’s!“ – –

„Du dachtest, er sei’s, er, der diesen Jammer über Dich gebracht?“ rief er heftig. „O nein, Gott sei Dank! Dank Deinem Vater, der Elende ist fort, und so der Himmel die Gebete treuer Herzen erhört, setzt der Bube seinen Fuß nicht wieder auf unsere Insel, wo die Treue kein Wahn ist und mit der Liebe nicht Spott getrieben wird.“

„Erich, Erich, bist Du von Sinnen, mir das zu sagen?“

„Wer soll Dir’s anders sagen, wer hätte den Muth, Dir armem Kinde die Augen vollends zu öffnen und Dich anzuflehen: weine nicht um den, der Deiner Trauer unwerth ist!“

„Erich, um Gottes Barmherzigkeit willen halte ein, Du zerreißest mir das Herz, wenn Du so von meinem Verlobten, meinem künftigen Gatten sprichst!“

Das junge Mädchen stand bei den Worten plötzlich dicht vor Erich Larsson. Das Mondlicht fiel hell in die durch Thränen aufblitzenden Augen, beleuchtete ihr farbloses Antlitz, das jetzt langsam sich zu röthen begann unter der Gluth auflodernder Empörung.

„Ingeborg!“ rief er heftiger, „laß ab von dem, was nur ein Wahn erhitzter Phantasie ist. Wie kannst Du einen Mann als Deinen Gatten denken, der noch vor wenigen Wochen –“

„Halt ein! ich weiß, was Du sagen willst. Ueber Deine Lippen soll jene Lüge nicht kommen, die meinen Vater veblendet hat. Glaub mir, Erich, sie hat Unwahrheit gesprochen in ihrem unseligen Briefe.“

„Nein, nein, Ingeborg, sie sprach die Wahrheit!“

„Waren ihre Ansprüche begründet, warum dann nahm sie seine Hand nicht an, die mein Vater ihr in seinem Namen antrug?“

„Nanna Hansen ist eine Friesin, Ingeborg. Wer diesen einmal das Wort gebrochen, ist auch ihrer Liebe verlustig! Eine Friesin ist zu stolz, das Weib eines Mannes zu werden, der ein falsches Herz, kein rein Gewissen und seine Ehre befleckt hat.“

Mit lautem Aufschrei wich das Mädchen zurück, mit weitaufgerissenem, glanzlosem Auge starrte sie auf den unbarmberzigen Sprecher, dann ergriff sie in wild aufbrausender Heftigkeit seinen Arm und sagte zornig: „Wie kannst Du mir das anthun?“ Ihre Hand sank, unter seinem trüben ernsten Auge, das fest auf ihr ruhte. „Wie kannst Du mir das anthun, Erich?“ wiederholte sie leise.

„Weil ich Dich retten möchte, weil ich Dich liebe, Ingeborg!“

„Erich! Erich!“ rief sie zurückweichend.

Er stürzte zu ihren Füßen, ergriff ihr Gewand und flüsterte in leisen, gebrochenen Tönen: „Ja, Ingeborg, weil ich Dich liebe, weil ich Dich retten muß.“

Wie abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn aus, den Blick abkehrend von diesen von Schmerz und Leidenschaft zerrissenen Zügen, die sie nur mild, nur ruhig kannte, obwohl sie wußte, wie kühn, wie trotzig sein Herz war.

Wild, stürmisch war auch jetzt sein Ton, als er leidenschaftlich hinzusetzte: „Heiß’ mich nicht gehen, wende Dich nicht ab! höre mich an! Ich, Ingeborg, liebe Dich, wie Du geliebt zu werden verdienst, liebe Dich, wie Du geliebt sein mußt, um dauernd glücklich zu sein.“

„Erich!“ flehte sie, „besinne Dich, komm zu Dir, bedenk, mit wem Du redest, zu wem Du so sprichst! Erich!“ setzte sie weich hinzu, „thu’ Dir’s selbst nicht an, Dich so zu vergessen, so Deine arme Schwester –“

„O, nicht dies Wort, Ingeborg! es hat mein Herz schon oft wie mit tausend Dolchen durchbohrt, hat mich schon manchmal an den Rand des Wahnsinns getrieben! Du bist mir Alles, nur nicht Schwester, Du bist der Abgott meiner Seele, das Idol meines Herzens, bist –“

„Kein Wort weiter!“ rief das Mädchen in aufflammendem Stolze mit strengem Ton.

Sie hätte aber eben so gut den tobenden Meereswogen gebieten können: „fließet rückwärts!“ wenn die Gewalt des Sturmes sie hinfort getrieben, weit über das Ufer ihres Bettes, weit über alle von Menschenhand künstlich erhobenen Dämme. Ihn riß jetzt die Gewalt der Leidenschaft hin, fort über alle Schranken trieb ihn der Sturm wild aufgeregter Gefühle, die Venunft, Ueberlegung, fester Wille und Macht der bestehenden Verhältnisse zurückgedrängt und lange im stummen Grabe gehalten hatte.

„Mein, mein wirst Du sein, wenn Du Dich losgerissen von dem Unwürdigen!“ antwortete er in höchster Leidenschaft.

Da übermannte sie der Zorn; mit einer Heftigkeit und Bitterkeit, die ihrem Wesen und Charakter bis zu dem Augenblick völlig [115] fremd gewesen, sprach sie: „Schmach über Dich, der Du den Abwesenden verleumdest, um seine Stelle zu erringen! Schande über Dich, der Du ihn der Untreue beschuldigst und mich zur Meineidigen machen möchtest! Wo ist jetzt das Erbtheil Eueres edeln Volksstammes, Herr Larsson, jenes Herz, das von keinem Falsch weiß, jenes Gewissen, das rein wie der Schnee ist, und jene friesische Ehre, die kein Flecken trübt? In Worten, in glatten, glänzenden Worten besteht Euer Ruhm, edler Friese! Euere Thaten sind schwarz, dunkel wie die Nacht, und darum fort von hier, mir aus den Augen für immer und ewig!“

Erich Larsson war aufgesprungen. Wie ein verwundeter Löwe stand er vor dem Mädchen – dem Kinde, und als sie geendet, zeigten ihr seine flammenden Augen zu ihrem Entsetzen, was sie im aufwallenden Zorne gethan.

„Erich!“ rief sie bebend, kaum hörbar.

Er schreckte zusammen.

„Verzeih!“ bat sie innig und versuchte seine Hand zu fassen.

Wäre ihm die giftigste Natter zu nahe gekommen, erschrockener hätte er nicht zurückweichen können. Noch einmal sah er sie an, eine kurze, eine flüchtige Minute, sah sie an mit Augen, in denen eine Welt von Gefühlen und Gedanken, aber kein Blick von Verzeihung lag, dann wandte er sich ab und hatte in der nächsten Secunde den Schauplatz seiner kurzen Schmach, den Ort, der einst der Schauplatz all seiner Freuden gewesen, verlassen, verlassen auf immer.

„Erich! Erich!“ rief Ingeborg ihm flehend nach. Es war vergebens, er kehrte nicht zurück!




Drei Jahre sind vergangen. Es ist ein heißer Sommertag und über Sylt wölbt sich der Himmel in wolkenloser Bläue. Die Luft ist schwül, wie sie die Insel selten kennt. Von der Küste stößt ein kleines Boot ab, in dem rudernd zwei Personen sitzen. Sie schaukeln auf den nur leicht bewegten Wogen des Meeres, welches das reine Blau des Himmels wiederspiegelt. Hell schimmert das weiße Segel in der Sonne und an der Spitze des schlanken Mastes flattert ein purpurrothes Wimpel. So gleitet das Schiffchen dahin, der Meeresküste entlang. Die Beiden, die ihr Leben diesem schwankenden Fahrzeug und ihrer schwachen Kraft anvertraut, reden mit einander und scheinen den duftigen Wolkenschleier nicht zu bemerken, der jetzt im fernen Westen, über dem Meere wie aus den Wogen aufsteigt, das Blau des Himmels und das Blau des Wassers in schmalem Bande durchschneidend.

„Gott sei Dank, Ingeborg!“ ruft der Mann im Boote aus, „nun ist’s endlich wie einst, der Verbannte hat zurückkehren dürfen und Du bist ihm von Neuem geschenkt; aber furchtbar, entsetzlich war diese Zeit, diese Trennung von Dir!“

Der leichte Schatten, der über dem einst so sonnigen Antlitze Ingeborg’s lag, wurde dunkler.

„Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Oscar,“ entgegnete sie hastig, „leben wir einzig der Gegenwart! Sieh, wie schön Meer und Himmel sind.“

„Licht! Licht wie unser Leben sein wird, wenn Du Geliebte nun endlich ganz die Meine bist!“

Ihr Ruder schlug rascher und heftiger in die blaue Fluth, und der Stoß trieb sie weiter ab von der Küste.

„Halten wir uns näher am Lande!“ rief der junge Mann mit deutlich erkennbarer Besorgniß.

„Fürchtest Du Dich?“ fragte sie ernst und richtete das blaue Auge fest auf ihn.

„Fürchten?“ wiederholte er lachend, wenn auch ein wenig gezwungen, „o nein! ich habe blos Deiner Tante fest versprochen, uns nicht von der Küste zu entfernen, im Fall Petersen nicht mit uns fahre. Wir sind allein, und darum muß ich mein Wort halten.“

Was war’s für ein Lächeln, das jetzt Ingeborg’s Mund umspielte? Verschieden, ach ganz verschieden von jenem süßen, jenem lieben und unschuldigen Lächeln, das einst die vollen Lippen kräuselte, das wir an jenem Tage an ihr kennen lernten, wo ihr Glück schattenlos war und der Geliebte noch keine Proben seiner Treue abgelegt hatte!

Die starke Anstrengung Oscar’s, das Boot in die Linie zurückzubringen, die er seinem Versprechen angemessen fand, erzielte das Gegentheil, weil er in der Aufregung Steuer und Ruder falsch gebrauchte. Sie schnellten eine Strecke weiter in’s Meer hinaus. Aus seinem Gesichte schwand die Farbe; Ingeborg lachte hell auf, verstummte aber in der nächsten Secunde und fragte erschrocken: „Bist Du unwohl oder in der That so furchtsam? Ich bitte Dich, laß uns landen,“ setzte sie rasch hinzu, „Du bist todtenbleich.“

Der Verlobte wollte um jeden Preis seine Ehre retten. Er blickte seine Braut mit möglichster Ruhe an und sprach lächelnd: „Ich muß mein Wort schon brechen, um der muthigen Ingeborg nur zu beweisen, daß ich weder furchtsam bin, noch krank werde von einem bischen Wellenschlag.“

Er steuerte weiter in’s Meer, und sie ließ es, in Gedanken verloren, geschehen, denn ihr Blick hatte oben auf dem Kamm der Düne eine Gestalt getroffen, die unbeweglich dort stand und sich in scharfen dunkeln Umrissen vom lichten Horizonte abhob, und schaute starr nach ihr hin. Nach einigen Minuten war die Gestalt verschwunden. Sie war aber nicht gegangen. Den Blick auf das Meer geheftet, lag sie auf ihren Knieen; doch kein Gebet, nur die Frage brach sich Bahn über die bebenden Lippen: „Kannst Du es zulassen in Deiner Gerechtigkeit, daß er triumphirt und ich leide?“

„Nanna, bist Du das?“ fragte eine Stimme am Fuß der Dünen. „Was machst Du dort?“

„Ich raste ein wenig hier oben!“ entgegnete Nanna Hansen ruhig und saß wirklich ruhig in einer Höhlung der Düne, als die Fragerin den wellenförmigen Hügel erkletterte. Auch sie war eine unserer Bekannten, eins der Seemannskinder, jene muntere Alfhilde, nun seit zwei Jahren die Frau eines Schiffscapitains und zwar die des Arnulf Braderöp von Föhr, den Nanna nicht erhört und der sich mit Alfhilde getröstet hatte.

„Wie kommst Du nach Sylt?“ fragte Nanna.

„Um diesen Schatz, diesen prächtigen Knaben endlich meiner Mutter zu zeigen. Sieh ihn Dir an, dies Wunder von Geschöpfchen!“

Sie legte bei den Worten ein schlafendes Kind in Nanna’s Schooß, wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm neben ihr Platz und sagte ernst: „Ich war bei Larssons. Gott, wie krank die arme Frau ist! Der alte Knud meinte, sie erlebe den Abend nicht.“

„Sahst Du Erich?“

„Ja, und wie er drein schaut! dazu verfallen, daß man ihn für eine Leiche halten könnte, tobte er nicht so wild umher.“

„Sein ganzes Herz hängt an der Mutter, Alfhilde, an dieser armen Mutter, die ihren Sohn drei volle Jahre nicht gesehen.“

„Sein ganzes? Höre, Nanna, ich glaube, was Erich Larsson von Herz besitzt, und Alle sagen, viel sei das nicht, hängt an Ingeborg Fordenskiöld.“

„Wer Erich Larsson das Herz abspricht, versteht sich wenig auf’s Urtheilen. Wir, wir, Alfhilde, die wir ihn kennen, seit den Kindertagen, wissen besser, was hinter seiner rauhen Außenseite verborgen schlägt. Wie kommst Du übrigens auf den Unverstand zu denken, daß er Ingeborg liebt?“

„Weil ich ihn eben, wie Du sagst, seit den Kindertagen kenne; weil ich weiß, wie sehr er sich gegen sonst verändert hat.“

Nanna beugte sich auf das Kind herab und sagte ernst: „Ich denke, Du irrst!“ leise hinzusetzend: „fast glaub’ ich, er haßt sie!“

„Irren?“ rief Alfhilde, „nein, Nanna, sein Großvater denkt’s auch, er sagt sogar, diese Liebe habe Erich ganz verdreht gemacht, habe ihm die tolle Idee in den Kopf gesetzt, zu den Preußen überzugehen und Soldat zu werden, jetzt wo gerade sein Onkel gestorben war und ihn zum alleinigen Erben seines Vermögens eingesetzt hatte.“

„Nun eben, weil er Geld hatte, konnte er thun, was er wollte: Kaufmann war er nie gern; Soldat oder Seemann, dahin ging von jeher stets sein Streben.“

„Aber der Grund, Nanna, der Grund, der ihn bewogen …“

„Wird kein anderer sein, als daß Erich hofft und denkt, mit den Preußen noch einmal gegen Dänemark in’s Feld zu ziehen und für die Rechte Schleswig-Holsteins zu kämpfen.“

„So!“ sprach die junge Frau gedehnt, „Knud Larsson meint, es sei einzig Hochmuth. Erich habe Oscar Fordenskiöld immer um seine glänzende Uniform beneidet und habe dasselbe werden wollen, was der ist.“

„Gott bewahr’ ihn, das zu werden, was Jener ist! Uebrigens scheint Knud Larsson bei Dir von seiner Schweigsamkeit abzuweichen und Dir volles Vertrauen zu schenken.“

[116] „Ja, Andere macht der Schmerz stumm, ihn redselig. Er sprach viel; so erzählte er mir auch, daß in acht Tagen nun endlich Ingeborg’s Hochzeit sei.“

Nanna Hansen schnellte bei den Worten so lebhaft empor, daß das Kind erwachte und die junge Mutter mit einem Aufschrei den Liebling an sich riß, der vom Schooß des Mädchens zu fallen drohte.

Während Alfhilde das weinende Kind zu beschwichtigen strebte, hatte Nanna beide Hände vor das bleiche Antlitz gedrückt und hauchte tonlos: „In acht Tagen!“

„In acht Tagen! in acht Tagen!“ wiederholte sie im leidenschaftlichsten Schmerze, als Alhbilde ein paar Minuten darauf sie verlassen hatte und sie allein, das starre Auge zu Boden geheftet, auf kahler Düne stand.

Mit dem Ausruf: „In acht Tagen!“ warf sie sich dann auf die Kniee, den Blick wild gen Himmel gekehrt. Die Augen, denen langsam Thräne um Thräne entrollte, konnten aber lange nicht aufsehen zum scharfen, blendenden Sonnenlichte. Sie senkte das Haupt, tief und tiefer neigte es sich herab unter ihrem inbrünstigen Gebete und bald berührte ihre Stirn den Boden. Weinend, schluchzend lag sie lange an öder Stätte und immer und wieder rang sich aus ihrer von Haß und Rache erfüllten Seele der Ausruf heraus:

„O Gott, erhöre mich! Laß nicht vergebens sein all mein heißes Bitten!“

Schaaren von Möven umkreisten ihr Haupt und in der Ferne grollte dumpf der Donner – sie hörte es nicht! Am Himmel sammelten sich Wolken über Wolken schwarz und schwärzer – sie sah sie nicht! Ein Windstoß erhob sich, wuchs und wuchs, wirbelte den Sand der Düne auf und jagte einen dichten Staubregen über sie hin – sie fühlte ihn nicht! sie empfand einzig und allein die Qual der drei Worte: „In acht Tagen!“




Mit dem untergehenden Licht der Sonne schwand ein müdes Leben. Wild, furchtbar aber, wie der Ausbruch entfesselter Naturgewalten in diesem Momente war, wo das Gewitter sich über der Insel entlud, so wild, so furchtbar war auch der Schmerzesausbruch Erich Larsson’s, als die Stimme der Ewigkeit mahnend an sein Herz tönte und der grelle Blitz der Erkenntniß: „Deine Mutter stirbt!“ durch seine Seele zuckte.

Der alte Knud Larsson, der so oft ruhig dem Tode in’s Auge geschaut, saß jetzt bleich, zitternd, unfern des Lagers, wo ein siecher Leib mit den letzten Erdenschmerzen kämpfte, und blickte verwirrten Auges, mit pochendem Herzen, auf das langsame, aber sichere Vorschreiten dessen, dem kein Entrinnen möglich! Wie hoffnungslos er selbst war, die Hoffnungslosigkeit seines gebeugten, verzweifelnden Enkels konnte er nicht ertragen.

„Vielleicht hilft ein Gott, Erich,“ tröstete er, „und Du irrst, wenn Du glaubst, sie stirbt.“

Erich Larsson irrte indessen nicht; seine Mutter, die er drei lange Jahre verlassen und die ihn endlich zum letzten Lebewohl herbeigerufen, lag im Sterben. Erst Tags zuvor war er nach Sylt gekommen, einige Stunden hatte sie sich noch ihres geliebten Kindes erfreut; dann war es schlimmer und schlimmer mit ihr geworden und jetzt leuchtete das todesumflorte Auge nur hin und wieder noch einmal heller auf, wenn ihr Sohn, der an ihrem Bette kniete, verzweifelnd sprach: „Verlaß mich nicht, Mutter!“

„Verlaß mich nicht, bleibe bei mir!“ rief er dringender, als sie die Augen schloß, und betheuernd fügte er hinzu: „Ich will und werde Dir ein besserer Sohn sein, als bisher!“

Ein Lächeln himmlischen Erbarmens verklärte bei diesem Gelübde ihre milden Züge; sie erhob die schwache Hand, die sich schwer, immer schwerer auf sein gebeugtes Haupt legte.

Da riß plötzlich jemand mit lautem Schrei die Thür des Sterbezimmers auf, da stürzte, wie von wildem Orkan gejagt, der draußen tobte, eine Gestalt in das stille Gemach, in dem der ernste Tod weilte. Erich Larsson sprang empor und blickte entsetzt um sich; der alte Seemann richtete sich langsam auf und schaute drohend auf die, welche mit verwildertem Haar, mit wildem Blicke inmitten der kleinen Stube stand, und selbst der entweichende Geist war durch den Lärm fortgerissen von der Schwelle des Todes und schaute noch einmal zurück in’s unruhvolle Leben.

„Sie liegt im Sterben!“ sagten beide Männer zu gleicher Zeit.

„Und er stirbt! O Erich, er stirbt!“ schrie wehklagend das Weib, das herein gestürzt war. „Er stirbt, dort auf dem Meere, wenn Du ihn nicht rettest!“ rief sie dringend, warf sich dem jungen Mann zu Füßen und setzte in athemloser Hast hinzu: „Immer von Neuem wird das kleine Boot zurückgeschleudert in die Wogen, nur ein Wunder erhält’s über dem Wasser. O hilf, o rette, denn Du bist stark, kühn und muthig!“

„Nanna!“ sprach Erich entsetzt, „wer ist jetzt auf dem Meere? wer stirbt und wen soll ich retten?“

„Oscar Fordenskiöld! – und Erich, Du mußt ihn retten, denn meine Gebete haben ihn in den Tod gejagt! Ich werde wahnsinnig, geht das Boot unter.“

„Ihn?– ihn retten und meine sterbende Mutter verlassen? unmöglich!“

„Erich, thust Du es nicht, dann stürz’ auch ich mich in’s Meer. Ich muß sie sühnen, diese Schuld! Kaum noch war der Himmel blau und leicht tanzte das Boot auf den Wellen; da betete ich, betete und betete! Als ich aufsah, war der Himmel schwarz, ein Blitzstrahl zeigt mir sein Schiff, das vergebens die Küste zu erreichen sucht; da dröhnt der Donner, und durch sein Dröbnen, mit dem sich neue Blitze mischen, ruft eine Stimme: ,Dies ist Dein Werk!’ und, Erich, ,dies ist Dein Werk!’ so sagt mir noch lauter das endlich erwachte Gewissen!“

Die Sterbende richtete sich auf, sie sah auf den Himmel, sah das Unwetter und betete leise: „Herr, erbarme dich Aller!“

„Herr, erbarme dich Aller!“ wie war das oft ihr Angstruf gewesen, wenn der Sturm sich erhoben und sie die Ihrigen draußen auf der tückischen See wußte, die nur Gottes Erbarmen zu sicherem Boden machen kann.

Erich’s Mutter sank in die Kissen zurück, der Sohn wollte zu ihr stürzen, aber Nanna’s starke Hand hielt ihn fest. Sie umklammerte seine Kniee und flehte: „Erich, erbarme Dich mein, denn Gott wag’ ich nicht ferner zu bitten!“

„Laß der Mutter den Sohn!“ sprach zwischen Beide tretend der alte Seemann, „ich werde gehen. Mein Arm ist auch noch stark und gut mein Wille. Reicht Beides nicht – so lebt wohl!“

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und bleich, wie man ihn nie gesehen, trat Ingeborg’s Vater ein. Ohne die Scene zu beachten, sprach er, die Hand des jungen Mannes ergreifend: „Erich, nah am Strande ringt mein Kind mit Sturm und Wellen – rette, rette Ingeborg!“

Mit weitaufgerissenem Auge, leblos, wie eine Statue, starrte Erich auf den Sprecher, und Nanna, die plötzlich einsah, welchen Haupthebel sie in ihrer Herzensangst in Bewegung zu setzen vergessen hatte, rief bastig: „Ja, Erich, Ingeborg ist mit im Boote. Ich sah sie ringen mit den Wogen. Während Oscar am kleinen Mast sich anklammerte, versuchte sie immer und immer wieder das Schiff der Küste zu nähern. O, eile, ihr zu helfen – suche Beide zu retten!“

Glanzloser fiel Erich’s Blick auf die Mutter, die tief und schwer aufathmete und sich ruhelos hin- und herwarf.

„Wir bleiben bei ihr!“ rief Nanna, und Baron Fordenskiöld trat leise zum Lager. Erich stieß ihn bei Seite, warf sich über die gelieble Gestalt und stürzte dann aus dem Zimmer, seinem Großvater nach, der bereits nach dem Strande eilte. Als ihre Augen über die schwarzen Wogenberge streiften, sahen sie, wie sich in der Ferne über den Wellen ein weißer flatternder Streifen erbob. Es war das vom Sturm zerrissene Segel. Auf diesen weißen Punkt steuerten beide Männer los. – – – –

Immer leiser ging der Athem der Sterbenden, immer lauter beteten die Beiden, die im stillen Gemache bei ihr zurückgeblieben, immer ärger heulte der Sturm, immer wilder brauste die See; Blitz um Blitz spaltete die schwarzen Wolken, Schlag auf Schlag grollte der Donner. Nach vielleicht einer Stunde trat Erich Larsson, mit Schweiß bedeckt, triefend von Regen, aber todtenbleich, in das kleine Zimmer, in dem jetzt lautlose Stille herrschte.

Er sah nur seine Mutter – sie war todt. Da erfaßten kalte Hände seine Hände, da blickten glühende Augen starr in seine starren Augen und ungefragt gab er mit klangloser Stimme die kurze inhaltschwere Antwort: „Beide leben!“

[129] Was ist der Leere, der Oede vergleichbar, die ein Raum auf uns macht, aus dem auf ewig die Gestalt geschieden, welche ihn einst belebte, wo Jedes und Alles nicht allein in Zusammenhang mit ihr stand, sondern einzig Halt und Werth durch sie erhielt? Diese traurige Leere, diese gräßliche Oede lag mit Centnerschwere auf Erich Larsson’s Herzen und in dem ausgestorbenen Hause seiner Mutter war ihm zu Muthe, wie wenn die Welt selbst ausgestorben sei. –

Es war der letzte Tag, den Erich auf Sylt zubringen sollte; gesenkten Hauptes trat er in das Gemach, das der Dämmerschein des Abends umhüllte. Wie schrak er aber zusammen, als aus diesem ungewissen Licht sich plötzlich eine Frauengestalt hervorhob und leise seinen Namen rief.

„Wer ist da?“ rief er wild.

„Ich! Ingeborg Fordenskiöld!“

Wie gebannt blieb er stehen, und trotz des Dunkels sah sie das Funkeln seiner Augen, noch mehr aber fühlte sie die Schärfe dieses Blickes. Nach kurzer Pause fragte er mit schneidender Kälte: „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Baroneß Fordenskiöld?“

„Um Gott – Erich, nicht so, nicht so!“

„Nicht so?“ wiederholte er scharf, „ah, ich verstehe, gestern war der Hochzeitstag des gnädigen Fräuleins, und ich habe demnach die Ehre, die Frau Baronin nach ihren Befehlen zu fragen.“

„Um des Himmels Barmherzigkeit, Erich, sei anders!“ rief sie schmerzlich, und sich an die Lehne des Stuhles klammernd, setzte sie hinzu: „hättest Du mir einmal aufgemacht in den langen acht Tagen, wo ich so oft an Deine Thüre klopfte, oder hättest Du die Briefe angenommen, die ich und mein Vater Dir sandten, dann, Erich, dann würdest Du wissen, daß man in unserm Hause nicht an Hochzeit dachte!“

„Nicht? Dann haben der Herr Bräutigam sich wohl erkältet? Ich spreche mein innigstes Mitleid aus, gnädigstes Fräulein, den frohen Tag hinausgeschoben zu sehen.“

Sie rang einen Moment die Hände, erfaßte dann seinen Arm und fragte leidenschaftlich, während sie ihm fest in die Augen sah: „Wolltest Du so gegen mich sein, Erich, o, warum ließest Du mich dann nicht sterben?“

„Ihr Herr Vater, Baroneß Fordenskiöld, bat mich, Sie zu retten; ich würde mir sonst schwerlich erlaubt haben, in Ihr Schicksal einzugreifen, nachdem ich einmal so unglücklich gewesen, es in ungeschicktester Weise zu thun.“

„Da Du mir nun aber das Leben gerettet –“

„Verzeihung, gnädigstes Fräulein, daß ich sie unterbreche: mein Großvater ist wohl vielmehr der Glückliche, dem’s gelang, Ihr Boot zu erreichen.“

„Nun gut, Erich, hat Dein Großvater mir das Leben geschenkt, so gieb Du mir – nicht den Tod!“

Er machte einen Gang durch das Zimmer, blieb in ihrer Nähe stehen und sagte kühl:

„Sie kamen wohl nicht, um Derartiges mir zu sagen. Darf ich daher noch einmal fragen: was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“

„Allmächtiger Gott!“ stieß sie mühsam heraus, „so, so bist Du geworden?!“

„Ich habe drei Jahre in der Residenz gelebt, Baroneß Fordenskiöld, und die Zeit benutzt, mir einige Formen anzueignen, um nicht abermals Fiasco zu machen, wenn mich mein Glücksstern noch einmal wieder in Berührung mit Damen der vornehmen Welt bringen sollte. Es würde mich freuen, wenn Sie mir das Zeugniß geben wollten, daß ich mindestens Etwas gelernt und nun weiß, was man einer Tochter aus so edlem Hause schuldig ist, wie das der Fordenskiöld’s sich rühmen kann zu sein.“

„Erich!“ sagte Ingeborg langsam, „hast Du gelernt, das Wort zum Pfeile zu spitzen und diesen in Gift zu tauchen – dann ist Dein Studium von glänzendem Erfolg begleitet worden. Hab’ ich, Dir einst mit einem Wort das Herz zerrissen – Du hast mir's reichlich heimgezahlt. Laß es genug sein, Erich!“

Er schwieg eine Secunde, dann lachte er bitter auf. „War das ein Wort,“ fragte er spottend, „als Sie Schmach und Schande über mich riefen? War’s nicht das Gift der Gifte, als Sie mein Herz falsch, mein Gewissen belastet, meine Ehre befleckt nannten und mir die furchtbarste aller Beleidigungen zuschleuderten, indem Sie sagten, der Ruhm unseres Volkes bestände in falschen, glatten Worten?“

„Alles das habe ich gethan, Erich, ja! Aber Erich, willst Du gerecht sein, so hab’ ich wiederum nichts von dem Allen gethan, denn ich wußte nicht, was ich sprach, ich war aufgeregt und heftig. Du, Erich, Du bist aber jetzt kalt, ruhig, leidenschaftslos und häufst Hohn auf Hohn.“

Sie wandte sich traurig ab, sah nicht das tiefe, dunkle Roth sein bleiches Gesicht überströmen, sah nicht die Leidenschaft, die in dem Antlitz dessen aufflammte, den sie kalt, leidenschaftslos nannte. Er preßte die Hand über Stirn und Augen, die kurze, aber gewaltige Aufregung war vorüber. Ruhig kühl war sein Ton, verbindlich wie das eines Weltmannes sein Wesen, als er mit unbefangenem [130] Lächeln sprach: „Sie vergessen eine Hauptbeschuldigung, gnädiges Fräulein, die der Unhöflichkeit! Bot ich Ihnen doch noch nicht einmal einen Stuhl, holte ich nicht einmal Licht, obschon ich dadurch der Freude beraubt werde, Sie, die Jugendgespielin, wiederzusehen. Unsere Begegnung auf dem Meere war zu tragischer Art, als daß sie Zuspruch auf den Namen ‚Wiedersehen‘ machen könnte, und als Zeit war, Sie zu begrüßen, wir festen Boden unter unsern Füßen hatten, mußte ich eilen, hierher zu kommen.“

Er stockte, überwältigt von einer Erinnerung, und sie rief bewegt:

„Du rettetest mich, während Deine Mutter starb, und ich habe Dir noch nicht einmal danken können.“

„Gnädigstes Fräulein,“ sagte er rauh, „ich bemerkte Ihnen schon einmal, Ihr Herr Vater veranlaßte mich zu der That, er dankte mir auch, und ich gehöre nicht zu den Menschen, die übermäßige Ansprüche machen, bin demnach vollkommen befriedigt! – Erlauben Sie mir, jetzt Licht zu holen.“

Erich Larsson verließ das Zimmer. Ein genauer Beobachter der Zeit würde vielleicht gefunden haben, daß er ungewöhnlich lange ausblieb, ehe er mit der Lampe zurückkehrte.

Als er eintrat, sah er Ingeborg auf den Knieen am Boden liegen, das zarte Antlitz weißer denn der Schnee, die Augen auf den letzten bleichen Schimmer des Abendroths gerichtet, das durch das dunkle Grün der Taxusbäume zitterte; in ihren lieblichen Zügen, die einst so freudig geleuchtet, lag ein Schmerz, ein an tiefste Seelenqual grenzendes Weh, daß die Eisrinde geschmolzen sein würde, die sich in den drei Jahren bittern Grames um sein Herz gelegt, wenn Erich sie ein wenig länger betrachtet hätte. Er that das aber nicht, er wandte sich an das entgegengesetzte Fenster, das die Aussicht nach der schäumenden See bot, starrte düster auf die dichten Nebelmassen, die aus dem Meere aufstiegen, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, während in seinen wie aus Granit gemeißelten Zügen sich einzig Ruhe, entsetzliche Ruhe und kalte, strenge Entschiedenheit ausprägten. Er regte sich auch nicht, als Ingeborg sich erhob; bewegte sich nicht, als sie leise, wie ein Geist, durch’s Zimmer glitt; sah sie fest, unverwandt an, ohne daß eine Muskel seines Gesichts zuckte, als sie die gefalteten Hände auf seine Arme legte, mit trüben, verweinten Augen flehend zu ihm emporblickte und flehend sagte:

„Um der alten Zeiten willen, sei anders, sei wieder gut, Erich!“

Wie dehnte sich jede Secunde, die sie, seiner Antwort bang entgegenharrend, dastand, zu Ewigkeiten!

Hätte sie aber auch so bis an’s Ende der Welt vor ihm gestanden – er würde ihr keine Antwort auf diese Bitte gegeben haben, denn gerade die alten Zeiten machten ihn zu Dem, der er heute war. Die lange, furchtbare, qualvolle Pause unterbrach endlich seine ernste Mahnung:

„Gehen Sie nach Hause, Baroneß Fordenskiöld!“

Sie schüttelte verneinend den Kopf, es war, wie wenn sie nicht sprechen könnte, dann rief sie plötzlich:

„Ich kann so nicht fort! Ich muß Dir erst Alles sagen!“

Er näherte sich dem Tische, aber nichts als Ungeduld lag in seinem Blicke, als er kurz und gleichgültig sagte, wie Jemand, der sich in sein Schicksal zu ergeben hat:

„So nehmen Sie mindestens Platz, Baroneß Fordenskiöld.“

Ob sie ihn nicht hörte? fast schien’s so. Den Kopf gesenkt, die schlaff herabhängenden Hände ineinander faltend, schritt sie im Zimmer auf und nieder und bemerkte nicht, wie er ihr aus dem Wege trat, den vorgeschobenen Stuhl bei Seite stellte und sich selbst aus dem Bereich ihres Ganges brachte, indem er in der entferntesten Ecke des Gemachs, sich an den Kachelofen lehnend, seine alte Stellung wieder einnahm, die Arme über der Brust verschränkt. Sein Blick mied sie, der ihre suchte ihn, und zu ihm tretend, sagte sie, wie in Gedanken verloren:

„Das Leben ist so lang, wenn man unglücklich ist! Die Tage dehnen sich zu Jahren und die Nächte – o, die sind entsetzlich!“

„Seit wann machten Sie diese trüben Erfahrungen, gnädigstes Fräulein?“

Sie sah ihn ernst an und antwortete ruhig: „Seit jenem Abend, Erich, wo Du mich im Groll an der Mooshütte verließest und auf meinen Flehensruf nicht zurückkehrtest!“

Alle Ruhe wich ihm aus Blick und Zügen, hastig wandte er sich ab und durchmaß rastlos das Zimmer. Sie lehnte sich bleich und erschöpft an die Wand. Aber wiederum hatte er die flüchtige Aufregung schnell beherrscht, seine Stimme war nur weniger hart, als er ernst sprach:

„Was Sie auch thun und sagen – es ist vergebens! Hier, hier, Ingeborg, wo einst ein Herz für Sie schlug, ist’s todt! Darum genug und – leben Sie wohl.“

„Dein Herz todt!“ rief sie mit aufleuchtendem Blick, „o nein, Erich! Meinst Du, ich hätte Deine Augen vergessen, als Du mir neulich die Hand entgegenstrecktest, um Dein rettend Boot zu betreten; als uns im selben Moment die Wogen wieder auseinander rissen, wo kaum unsere Schiffe sich genähert und der Sturm von Neuem mit unserem Leben spielte? Meinst Du, Erich, ich hätte jenen Blick vergessen, als, endlich vereint, Du mich umfaßtest und schützend hieltest im Toben der Wogen? O nein, Erich, vergessen hab’ ich das nicht und nie wird es aus meiner Erinnerung schwinden! Du nimmst mir auch nicht den Strahl dieses Lichts, den nach drei endlos langen Jahren voll Nacht und Finsterniß ein Gott mir sandte in seinem Erbarmen, den Strahl dieses Lichts, der mir auch als Stern leuchtet im bangen Dunkel dieser Stunde.“

Auch bei diesen Worten des Mädchens blitzte es in ihm auf; es war ein anderer Blick, als vorhin, aber rasch verglomm der Schein.

„Sie täuschen sich, Baroneß Fordenskiöld,“ entgegnete er kühl, „wenn Sie in meinem Blick Etwas lasen, wovon das Herz nichts weiß. Bewundert, ja, bewundert hab’ ich Sie, von der Minute ab, wo wir, Ihrem Boote nah, Sie so muthig mit Wog’ und Welle am Steuer ringen sahen, während der Mann neben Ihnen, dem Ihre Stelle gebührt hätte, in Todesangst und Verzweiflung den Mast umklammert hielt, den der Sturm schon gebrochen hatte. Doch, ich will dessen nicht spotten, den Sie lieben, da ja möglich, daß die Rücksicht auf die beglückende Erkenntniß, wie theuer Ihnen sein Leben ist, ihn zu all den angewendeten Vorsichtsmaßregeln getrieben hat und –“

„Still, Erich!“ rief Ingeborg leise und wie von heftigem Frost geschüttelt, „was an ihm ist, das habe ich nicht erst neulich im Kampfe mit den Elementen gesehen, das weiß ich schon lange; jetzt aber, Erich, wollen wir ihn einzig Dem überlassen, vor dessen Richterstuhl er nun steht und der die Fehler der schwach gebornen Menschheit milder beurtheilt, als wir.“

„Wie hab’ ich das zu verstehen? Was geschah?“

„Oscar Fordenskiöld ist gestern Abend, am achten Tage nach unserer unsel’gen Meeresfahrt, am Nervenfieber gestorben.“

„Jene wahnsinnige Angst trieb ihn in den Tod!“ rief Erich rasch; „doch, um Gott – wo ist Nanna?“

„Sie war bei ihm bis zum Tode! Sie hoffte von Stunde zu Stunde auf einen Moment erwachenden Bewußtseins, um seine Verzeihung anzuflehen, vergebens! er starb besinnungslos, wie er die ganze Zeit gewesen.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Noch immer bei uns.“

„Was macht sie?“

„Sie sitzt still da und sagt nur: ,In acht Tagen!‘“

„So ist sie irrsinnig?“

„Der Doctor fürchtet es.“

„Entsetzlich!“ rief er schaudernd.

„Erich, trage ich Schuld daran?“ rief sie bebend.

„Welcher Gedanke, welch’ unseliger Gedanke!“

„So meinst Du nein, und Gott sei Dank dafür!“

„Tausendmal nein, Ingeborg!“ rief Erich lebhaft und voll warmen Eifers. „Du warst ja schuldlos, denn Niemand von uns hatte eine Ahnung von dem Verhältnisse der Beiden.“

„Doch als – ich’s wußte, Erich?“ fragte sie bange.

„Da hatte sie ihn bereits aufgegeben, Ingeborg! Das weiß ich genau.“

„Sie schlug mindestens meinem Vater gegenüber seine Hand aus.“

„Ich weiß, ich weiß; doch darum eben ist’s mir so unfaßlich, daß sie nach alledem, was geschehen, ihn noch lieben konnte und so in Verzweiflung gerathen, als sie ihn in Gefahr auf dem Meere wußte.“

„Ja, siehst Du, Erich! Die starren Friesinnen sind auch nicht anders, als jedes andere Weib. Wo Eine einmal erst tief und innig liebt, ist’s mit dem Hasse nicht weit her.“

[131] Wie ein Lächeln wollte es um seinen Mund gleiten, doch der finstere Geist in ihm behielt die Oberhand..

„Ja, das weiß Gott!“ sprach er bitter, „und Sie, Baroneß Fordenskiöld, gaben in Wahrheit den ausgiebigsten Beweis, was tiefe, innige Liebe nicht Alles zu ertragen vermag! In plötzlicher Erinnerung all dessen erlauben Sie mir jetzt, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern über das traurige Ende Ihrer so bewährten Liebe auszudrücken!“

Sie sah ihn ruhig an und sprach dann ernst: „Ja, Du hast Recht, Erich; ich gebe den Beweis, was wahre Liebe erträgt. Trotz Allem, was Du mir heute angethan an Hohn und Bitterkeit, an bösem Wort und harter Rede, liebe ich Dich doch! lieb’ Dich so heiß, wie all die langen, langen Jahre!“

„Ingeborg!“ schrie er wild, drohend, voll Zorn und Leidenschaft.

„Ja, Erich, ich liebe Dich! Die Probezeit Oscar’s war auch die meine, für jene Liebe zu Dir, die in mir erwachte an dem Abend, wo Du die Deine mir vergebens bekanntest. Nie, Erich, nie wär’ ich Oscar’s Weib geworden! Dem Vater sagt ich’s, eh’ dieser kam, und er bat mich, noch seine Rückkehr abzuwarten. Am Tage, eh’ wir auf’s Meer fuhren, fragte er mich, wie’s nun sei, nachdem ich Oscar wiedergesehen, und war nicht böse, als ich sagte, ich sei entschlossener denn zuvor, mit ihm zu brechen, und würde nach der Wasserfahrt noch am nämlichen Abend mit ihm sprechen. Als ich von ihm schied, rief er mir zu: ,Geh’ mit Gott!’ und, Erich, ,Geh’ mit Gott!’ waren auch vorhin meines Vaters Worte, als ich ihm eröffnete, daß ich Dich aufsuchen, mit Dir reden wolle.“

Erich Larsson schwieg, schwieg zu Ingeborg’s Jammer auch jetzt. Gesenkten Blicks sah er zu Boden, sah sie erst wieder an, als sie leise zu seinen Füßen niederglitt und angsterfüllt fragte: „Ging ich mit Gott, oder – kam ich vergebens?“

Wie anders war das Schicksal dieser beiden Menschen, hätte sie vor drei Jahren nur den tausendsten Theil dessen empfunden, was jetzt so mächtig ihr ganzes Wesen durchströmte! Spurlos, mindestens äußerlich spurlos gingen jetzt die Worte an ihm vorüber, die einst ihn in den Himmel erhoben haben würden.

„Ingeborg!“ sagte er, „fern sei’s von mir, Dich mit solchen harten Worten zu entlassen, wie Du sie einst, in gleicher Lage, für mich hattest; aber dringend, inständig bitte ich Dich, steh auf! Du kamst vergebens! Verlaß ein Haus, Ingeborg, das so verödet, leer und ausgestorben ist, wie das Herz, das Du einst zermalmtest.“

„Kannst Du denn nicht vergessen, Erich?“

„Nein! doch um dieser Stunde willen – werde ich versuchen, Dir zu verzeihen, was Du in jener Stunde thatest.“

„Erich, eine letzte Bitte: laß mich in Jahren wiederkehren, vielleicht hast Du den Groll besiegt, vielleicht lernst Du vergessen im Vergeben.“

„Nie! und kämst Du tausend Mal, es wär’ vergebens!“

Sie schauderte, sah ihn an mit erloschnem Auge, mit schmerzzerrissenen Zügen, fühlte die trostlose Wahrheit dessen, was er gesagt, nur noch tiefer beim Anblick seines strengen, fest entschlossenen Gesichts und verließ langsam das Zimmer. – –

Sehr langsam durchschritt Ingeborg auch den kleinen Hof, den hübschen Garten und immer und wieder hielt sie inne, stand, mit angehaltenem Athem wartend, lauschend da.

Auch diese Hoffnung vergebens! Auch hier bitterste Enttäuschung. Sie vernahm nicht, was sie von Moment zu Moment mit immer lauterem, immer bangerem Herzschlag ersehnte: den Ruf ihres Namens von seiner Stimme!




Sechs Jahre sind vergangen. Der letzte Krieg in Schleswig-Holstein hatte seine ersten schweren Opfer bei Missunde gefordert. Zu den schwer Verwundeten, die wochenlang wenig Hoffnung gegeben hatten, gehörte Erich Larsson. Er hatte gekämpft, wie Einer, der unter dem Donner der Kanonen aufgewachsen, nicht wie ein Neuling, dem dieser Krieg erst die Feuertaufe des Soldaten gegeben hatte.

Vorsichtig war der Verwundete von einigen jungen Kieler Studenten aus dem heftigen Feuer getragen, wohin diese sich während des ganzen Kampfes mit Aufopferung ihres eigenen Lebens gewagt, um jene stillen Heldenthaten der Menschenliebe zu vollbringen, die so schwer wiegen, wie die tapfersten Thaten auf dem Schlachtfelde. Gleich allen andern Verwundeten wurde Erich so schnell wie möglich von dem ersten, nur provisorisch errichteten Verbandplatz im Schulhause zu Kosel fortgeschafft und für seine Pflege alle jene Sorge getragen, die Pflicht und Menschenliebe nur denkbar machten.

Wochen waren vergangen. Er hatte lange im Fieber gelegen, endlich erwachte er nach glücklich überstandener Krisis zum ersten Male wieder zu vollem klarem Bewußtsein. Aufmerksam blickte er die ernste Nonne an, die an seinem Bette saß und zu der Anzahl jener barmherzigen Schwestern gehörte, die aus weiter Ferne zum Kriegsschauplatz geeilt waren und dort in Lazarethen und Privathäusern zur Pflege der verwundeten Krieger verwendet wurden. Der Doctor bemühte sich augenscheinlich, seinen nachdenkenden Patienten vom Anblick der frommen Schwester abzuziehen, sprach von den Kriegsereignissen mit großer Lebendigkeit, verstummte aber völlig, als Erich Larsson ruhig, klar und ernst fragte: „Wo ist die Andere, die mich während der vergangenen Wochen gepflegt hat?“

Eine tiefe Pause trat ein, Arzt und Nonne wechselten inhaltschwere Blicke, Erich Larsson wartete scheinbar sehr geduldig; doch als der Doctor anfing die anwesende Krankenpflegerin als ganz vorzüglich anzupreisen, rief er laut und heftig:

„Wo ist jene Andere, die mich pflegte?“

„Nun, Gott sei Dank, Brust und Lungen wären wieder gesund!“ sprach lachend der Arzt, „und regten Sie sich nicht auf, so könnten Sie bald ganz genesen sein.“

„Wollen Sie mir auf meine Frage antworten?“

„Wenn Sie gesund genug zum Reden sind, ja! jetzt sind Sie krank.“

„Ich will aber jetzt Antwort haben, jetzt! und sage Ihnen, daß, fürchten Sie von Aufregung für mein Leben, mir eben an diesem Leben ohne Nachricht von ihr Nichts liegt.“

„Diese Versicherung ist überflüssig nach Ihrem Benehmen, bester Herr Larsson; denn schreien Sie noch zehn Minuten so fort, so sind Sie vielleicht schon morgen aller Erdensorgen überhoben.“

„Und wenn ich gleich nach Ihrer Antwort sterben sollte, so frage ich doch nur wieder: Wo ist sie?“

„Von wem reden Sie denn eigentlich?“

„Von der, von welcher Sie nicht reden wollen.“

„So – nun – hm – es waren so Manche bei Ihnen.“

„Ich meine nur Jene, die ich zuerst hier sah, die ich immer und wieder erblickte, ob ich am Tage oder in der Nacht erwachte.“

Erich Larsson hatte sich aufgerichtet und sah den Arzt mit solchen Blicken an, daß dieser hastig entgegnete:

„Sie ist hier im Hause.“

„Wird sie wieder kommen?“ fragte er leise und kraftlos in die Kissen zurücksinkend.

„Ja, ja! Doch nun – Ruhe!“

„Ruhe? Ruhe werde ich erst haben, wenn ich sie gesprochen. Sagen Sie ihr das!“

Der Doctor ging; der Kranke wandte seine großen dunkeln Augen mit allen Anzeichen heftigster Spannung nach dem Eingang. Seine Züge nahmen mehr und mehr den Ausdruck banger Erwartung an und die bleichen Wangen begannen sich tief und dunkel zu röthen. Die, auf welche er harrte, trat nicht ein, und nach kaum drei Stunden lag er von Neuem im Delirium.

Während seiner wilden Fieberphantasien beugte sich ein anderes Antlitz über ihn, als das der ernsten Nonne, ein Gesicht mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes und dazu völlig farblos.

Der Arzt, der sinnend am Bette stand, sagte, nachdem der Kranke immer und wieder den Namen „Ingeborg“ gerufen:

„Wollen Sie sein Leben vollends retten, so bleiben Sie bei ihm, wenn das Bewußtsein zurückkehrt.“

Ein Ausdruck höchster Seelenpein glitt über das bleiche Gesicht der Angeredeten und erst nach langer Pause entgegnete sie ernst: „So werde ich denn bleiben.“

Der Arzt verordnete Verschiedenes und setzte hinzu: „Will er sprechen, so lassen Sie ihn reden. Ermahnungen helfen bei dem Nichts und er scheint einen Kopf von Eisen, einen aus Ez gegossenen Sinn zu haben.“

Die schlanke Gestalt am Bett des Kranken erzitterte bei den Worten, die lichten Augen wurden dunkel und über das durchsichtig zarte Antlitz verbreitete sich ein schwacher Schein von Farbe.

„Gott mit Ihnen!“ rief der davoneilende Arzt herzlich.

[132] „O dieses Wort!“ murmelte die Zurückbleibende.

Sie faltete die Hände, blieb so, den Blick auf den Kranken gerichtet, stehen und schreckte nur zusammen, wenn durch die wilden Fieberphantasien der Ruf: „Ingeborg! Ingeborg!“ als tiefster Klagelaut ertönte. – – –

Dies „Ingeborg“, einst vergebens erwartet, wurde es jetzt vergebens gehört?

Fast schien es so, als Erich Larsson endlich den Namen mit Bewußtsein aussprach und angsterfüllt auf die Gestalt an seinem Lager schaute, die bewegungslos gleich einer Statue am Bette saß und ihm kein Zeichen von Leben, von Liebe gab.

„Ingeborg, ich danke Dir, daß Du gekommen bist!“ rief er warm und herzlich.

Wie tonlos und wie trostlos klangen Stimme und Wort, als sie darauf entgegnete: „Der Arzt sagte mir, es sei Pflicht zu kommen.“

Trotz dieser äußeren Ruhe schlug ihr Herz laut und stürmisch, zitterte jede Fiber ihres Wesens, und um zu verbergen, was in ihr vorging, beeilte sie sich ihm den verordneten Trank zu bereiten. Als sie ihm den Becher reichte, wies er ihn zurück und sprach ernst:

„Wie ich auch nach diesem Trnnke schmachte, Ingeborg, noch mehr lechze ich nach dem einen Wort, um das ich Dich schon seit Jahren gebeten haben würde, wenn ich gewußt hätte, wo Dich finden! Sprich jetzt diese Wort aus, Ingeborg! sei der Engel der Milde, der Du einst warst, sage, daß Du mir vergeben hast, was ich in blinder Rache Dir und, ach, noch mehr mir selbst angethan! Gieb mir Ruhe, Frieden, Glück, gieb mir Leben durch Deine Verzeihung!“

„Ich vergab Dir lange, Erich! vergab Dir Alles, als ich aus dem Leben schied und – dies Gewand anlegte.“

Er sah sie starr, entsetzt an, sah erst jetzt, daß sie eine ihm bekannte geistliche Ordenstracht trug, und fragte tonlos: „Wann geschah das?“

„Nach meines Vaters Tode.“

„Ingeborg, wenige Monate nach seinem Tode war ich an der Pforte Eueres Gartens! ich fand sie verschlossen, Läden und Thüren des Hauses verriegelt und erloschen auch jenes kleine Licht, den Stern meiner Kinderjahre!“

„Es verlöschte in dem Augenblick, Erich, als ich das stille Asyl ,der Gestrandeten’ verließ, um in einem andern Bekenntniß – im Hafen des Klosters die Ruhe zu suchen.“

Beide schwiegen lange Zeit. Sie saß still an seinem Lager, er blickte unverwandt auf sie.

Wie klagte diese stumme Gestalt ihn so laut an! Welche tiefe Reue empfand er beim Anblick dieses farblosen Gesichts mit den verweinten Augen, mit jenem bittern Schmerzeszuge um die feinen Lippen, die einst so fröhlich gelacht, einst so flehend gebeten: „Laß mich wiederkehren!“

Nicht, wie Nanna Hansen, rief der laute Donner inmitten des Tobens der Elemente ihm zu: „Dies ist Dein Werk!“ nein, in stiller einsamer Nacht legte sich das drückende Bewußtsein: „Dies ist Dein Werk!“ immer furchtbarer um seine Seele und immer entsetzlicher wurde ihm der Gedanke, nicht ändern zu können, was einmal ohne Gnade und Erbarmen geschehen.

„Ingeborg!“ rief er plötzlich lebhaft, „wie ich mich auch darnach gesehnt, von Deinen Lippen das Wort der Vergebung zu hören, fast glaub’ ich, ich trüge es leichter, wenn Du mir grolltest.“

Sie schrak zusammen: sie heftete einen andern, seltsamen Blick auf ihn, in dem Nichts von Erbarmen lag, und griff, immer heftiger erbebend, nach dem am Gürtel befestigten Rosenkranze. In tiefes Sinnen verloren, ließ sie eine Perle nach der andern durch die schlanken Finger gleiten, da kam sie an’s Kreuz! Wieder auf Erich blickend, hob sie das Sinnbild des Christenthums empor und sprach feierlich: „Erich, ich will Dir beichten, was ich so oft meinem Gotte gebeichtet habe: wohl legte ich einst das Gewand stillen Friedens an, aber Frieden fand ich bis jetzt nicht! Tagtäglich betete ich vor dem Crucifix, an dem die Gestalt Dessen sich uns zeigt, der sterbend am Krenz noch voll Erbarmen gerufen: ‚Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ und trotzdem lernte ich kein Erbarmen! Ich verzieh Dir nur der Form nach, Nichts drang in’s tiefinnerste Wesen; ich grolle Dir fort und fort, klage Dich an, Tag und Nacht!“

Erich Larsson bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und rief trostlos: „So ist’s denn gekommen, wie ich es stets gefürchtet!“

Dann noch einmal auf sie blickend, die in dem dunkeln Nonnenschleier so ernst, so düster vor ihm stand, setzte er leise hinzu: „Nein, schlimmer noch, als ich gefürchtet, weit schlimmer, als ich gedacht!“




In den nächstfolgenden Wochen hatte die Kunst der Aerzte Erich Larsson wieder hergestellt und seine gesunde Natur ihre Bemühungen wirksam unterstützt. War er auch noch bleich und noch schwach, im Vergleich zur frühern vollen, ungebrochnen Körperkraft, so sehnte er sich doch fort und hinaus auf den Tummelplatz des Kampfes, wo er leichter und besser die rastlosen Kämpfe seiner Seele zu besiegen hoffte. Ingeborg hatte er nicht wieder gesehen. Der Arzt hatte ihm gesagt, sie sei krank, was er indessen keinen Augenblick geglaubt. Gern hätte er sie noch einmal gesprochen und ihr ein letztes Lebewohl gesagt, wagte aber nicht darum zu bitten.

Alles war zu seiner Abreise gerüstet, denn er stand im Begriff, zu seinem Regimente zurückzukehren, das in den Laufgräben vor Düppel arbeitete. Jetzt hatte er auch die letzten Vorbereitungen vollendet und stand, des Wagens harrend, am Fenster, als Ingeborg zu ihm eintrat. Auf den ersten Blick sah er, wie krank sie gewesen sein mußte, um sich so verändern zu können. Die feinen Augenbrauen schienen jetzt wie auf Marmor gemalt, die Schatten unter den Augen waren tiefer und dunkler geworden, jedoch aus ihren lieblichen Zügen war jener erschütternde Ausdruck von Schmerz und Seelenpein gewichen.

„Du hast’s nicht geglaubt, daß ich krank bin,“ sprach sie freundlich, „doch sieh, man kann auch ohne Kugeln und Säbelhieb auf’s Krankenlager geworfen werden. Wär’ es nicht der Fall gewesen, so war ich längst wieder bei Dir, nicht allein, um Dir zu sagen, wie froh ich bin, Dich wiedergesehen zu haben, sondern auch, um einen Auftrag meines Vaters an Dich zu bestellen und Dir einen Brief von ihm zu geben. Hast Du Zeit mich anzuhören, so nimm Platz.“

Er setzte sich ihr gegenüber. Seine Hand ihr reichend, sprach er bewegt: „Könnte ich doch Etwas für Dich thun, Ingeborg!“

Ein zarter Anflug von Farbe überhauchte ihr klares, fast durchsichtiges Antlitz und sie sprach lebhafter: „O, Du thatest viel, Erich, ich fühlte es neulich nur nicht so tief. Du hast ja gethan, was Du einst verweigertest: vergeben und vergessen, und ich bin darüber so glücklich.“

„Ingeborg, Erbarmen! Mahne mich nicht an den Wahnsinn jenes Abends!“

„Ich thu es jetzt ohne Groll!“ entgegnete sie mit flüchtigem Lächeln.

„So grollst Du nicht mehr?“

„Nein, Erich, nun endlich habe ich Frieden.“

Er sprang auf und durcheilte das Zimmer. Dann blieb er vor ihr stehen und rief heftig: „Was ist Frieden? ein langsamer Tod! Ich aber möchte Dir so gern den vollen Pulsschlag des Lebens – Glück – geben und vermag’s nicht!“

Sie verbarg ihr mehr und mehr erglühendes Antlitz in den Händen. Rasch aufblickend, sagte sie danach mit feuchten Augen: „Sei jetzt zufrieden, Erich, denn Du hast mir jetzt Glück gegeben!“

„O Ingeborg!“ rief er erschüttert und wollte zu ihren Füßen hinsinken, da fiel sein Blick, der an dem Antlitz des geliebten Mädchens gehangen, auf das Gewand der Nonne und er wich zurück.

„O Leben! o Schicksal!“ rief er düster.

„Erich, es war licht und wir, wir haben es dunkel gemacht; doch traure darüber nicht also, schaue wieder froher in das Leben und, Erich, erfülle meine Bitte: schone jetzt Dein Leben mehr!“

„Wozu? und für wen?“ fragte er bitter.

Sie schwieg einige Secunden und sagte dann ruhig: „Willst Du mich jetzt anhören, Erich?“

Er nahm seinen Platz wieder ein, und sie fuhr fort:

„Mein Vater trug mir auf, Dir sein Schicksal zu erzählen, ehe Du den Brief hier liesest. – Als junger Mann kam er in das Haus des Grafen Adlersparre, um die ihm von seinem Vater zugedachte Braut, meine Tante Alma, kennen zu lernen. Diese hatte eine jüngere Schwester, Ulrike Eleonore, die so reizend, wie Alma schön, so liebenswürdig war, wie Jene klug und gebildet. [134] Graf Adlersparre hatte Alma für meinen Vater, der als geistig sehr bedeutend galt, ausbilden und erziehen lassen, während die heitere Ulrike Eleonore alles Wissen nur für Plunder erklärte, der frühzeitig alt mache. Sie war seit Kurzem heimlich, ohne Vorwissen ihres Vaters, mit einem armen dänischen Officier verlobt, der aber Aussicht auf die Erbschaft eines reichen Onkels besaß. Trotz dieser Verlobung nahm Ulrike Eleonore mit Freuden die Huldigungen meines Vaters an, der sich ihr anstatt der ernsten Schwester zuwandte. Es stachelte ihre Eitelkeit, einen solchen Triumph zu erringen und einen Mann zu besiegen, dessen Name ein so geachteter, dessen Ruf tadellos und der mit Reichthum und Schönheit Liebenswürdigkeit und Herzensgüte einte. Sie feierte diesen Triumph. Mein Vater liebte, vergötterte sie, und an dem Tage, wo sie sein Weib wurde, bat sie ihre Schwester Alma, die ebenfalls nichts von ihrer heimlichen Verlobung wußte, den ihr ursprünglich bestimmten Bräutigam davon in Kenntniß zu setzen, daß sie Baron Fordenskiöld geheirathet habe. Alma that Alles für die Schwester. Sie beschwichtigte den Zorn des Verrathenen und bewog ihn, Abstand zu nehmen von dem unglücklichen Gedanken, den jungen Ehemann über die Thaten und den Charakter der angebeteten Gemahlin aufzuklären. – Ein Jahr ging Alles gut; da starb der reiche Onkel des Officiers, dieser kam nach Schweden und trat seiner frühern Braut überall entgegen. Sie schwach, er leichtsinnig, verriethen Beide meinen armen Vater. Wenige Monate nach meiner Geburt verließ meine verblendete Mutter Gatten und Kind, um sich in die Arme dessen zu werfen, den sie einst aufgegeben. Von dem Schmerz und Jammer, den ihre Untreue, ihr schmählicher Verrath über meinen unglücklichen Vater gebracht, brauche ich Dir wohl nichts zu sagen, Du hast ja die Spuren seiner Leiden in den gramdurchfurchten Zügen gesehen! Nach der erfolgten Scheidung verließ er sein Heimathland und kam nach Sylt; ihm folgte Alma Adlersparre, die ihn angefleht, mir Mutter, ihm Freundin sein zu dürfen. Beider Leben kennst Du auch. Du weißt, welch ein Engel meine Tante war und wie sie treu ausgeharrt an der Seite des unglücklichen Einsiedlers.“

„Sie hat Deinen Vater geliebt?“ rief Erich.

„Ja, seit dem Tage, wo sie ihn zuerst gesehen, bis zur letzten Stunde ihres Lebens! Diese treue, tiefe Liebe hätte wohl andern Lohn verdient, als fort und fort zu sehen, wie seine Liebe fest an die gekettet blieb, die ihn verrathen und verlassen.“

„So liebte er Deine Mutter noch?“

„Ja, trotz des Hasses, mit der er stets von ihr gesprochen. Und hätt’ er sie nicht geliebt, würde er dann nicht ein neues Leben an Tante Almas Seite begonnen haben? Sein Bruder, auch Graf Adlersparre beschwor ihn, Alma’s Treue mit Liebe zu lohnen, vergebens! In starrem, unbeugsamem Willen hat er dabei beharrt, der die Treue zu halten, die sie ihm gebrochen, mit eben solcher Starrheit verharrte er auch in seinem Groll über ihren Verrath, und kein Flehensbrief, kein Flehenswort hat ihm Vergebung abgerungen.“

Erich Larsson dachte an eine Scene aus seiner Kindheit und sprach nachdenklich:

„Ich höre noch immer sein hartes ,Nie‘, als Deine Tante ihm einmal sagte, er würde vergeben und vergessen.“

„Und es hat sich erfüllt, denn noch auf dem Sterbebette hat er Tante Alma die Bitte abgeschlagen, endlich der zu verzeihen, die so bitter bereut.“

„So hat sie also bereut?“ fragte Erich leise.

„Ja, doch spät! Lange Jahre war sie glücklich und lebte ohne Reue und Buße, und Du wirst Dich noch der Worte meines Vaters gegen Nanna Hansen erinnern, als er sagte: ,Am Schuldigen rächt sich nicht immer das Unrecht!‘ Damals lebte meine Mutter noch in Glanz und Freuden, erst später sollen Armuth, Tod ihrer Kinder und anderes Mißgeschick sie einsichtsvoller und besser gemacht haben.“

„Lebt sie noch?“

„Nein!“

„Wie verlassen und allein Du in der Welt stehst!“

„Standest!“ sagte Ingeborg sanft; „denn im Kloster hab’ ich mir Viele zu Freunden gewonnen.“

Sie sah ihn mild an und gab ihm das Schreiben ihres Vaters. Es enthielt nur folgende Worte:

„Führt Euch die Gnade eines Gottes noch einmal zusammen, so laßt die Fügung des Geschicks nicht vergebens an Euch herantreten! Laßt ab von Haß und Groll – eint Euch in Liebe – wahrt Euch die Treue und seid meines Segens gewiß.“

Tief erschüttert las Erich die ernste Mahnung. Er gab sie Ingeborg zurück und sprach mit feuchtem Auge: „O Ingeborg, Ingeborg, hättest Du nicht gewaltsam in das Walten des Schicksals eingegriffen, wir konnten auf Erden noch glücklich sein!“

Sie las den Brief, sie hörte die Worte des Geliebten, Gluth und Blässe wechselten in ihrem Antlitz, und kaum hörbar waren ihre Worte, als sie sagte:

„Ich gelobte meinem Vater, nicht eher mein Noviziat im Kloster zu beenden, bis ich Dich noch einmal gesprochen hätte, und Erich – ich habe Wort gehalten!“

„So bist Du noch nicht Nonne?“

„Nein!“

Wie war dies eine „Nein“ ein tausendfaches „Ja“ für die Bestätigung des heißersehnten Wunsches – der lang genährten Hoffnung! – Kurz, nur sehr kurz war für jetzt das Glück der endlich Vereinigten, es war aber so groß, daß seine Momente ihnen die Jahre des Leids aufwogen. Wie schwer, wie bitter auch jetzt die unvermeidliche Trennung, nicht den tausendsten Theil so schwer, so bitter, wie einst, denn Beide schieden in Glück und in Hoffnung!

Diese Hoffnung, die mit Sonnenglanze Ingeborg’s Zukunft durchwob und selbst verklärend über dem Dunkel ihrer Vergangenheit zitterte – dieses Licht, dieses neue Leben, das mächtig ihr ganzes Sein durchströmte, umnachtete sich noch einmal. Es war in jenen verhängnißvollen Tagen, wo der Donner der Kanonen nicht nur vernichtend über dem festen Bollwerk der Düppler Schanzen dahinrollte, sondern auch vernichtend in das Leben von Tausenden eingriff, um den schwarzen Boden, auf dem das goldene Banner der Freiheit sich erheben sollte, erst mit dem rothen Blute Derer zu weihen, deren Loos es war, für diese Befreiung, für die heiligen Rechte eines Bruderstammes zu sterben.

Mit Tausenden zitterte Ingeborg in diesen Stunden der Gefahr, in diesen Stunden der Entscheidung; ihre Gebete einten sich mit tausend und aber tausend heißen Gebeten zagender, hoffender Herzen. Wie sie aber auch zu Gott flehte und vertrauend aufblickte zu seiner unendlichen Gnade, in die Hoffnung mischte sich stets von Neuem die Furcht, daß all ihr Bitten vergebens sein, daß sie verlieren könnte, was sie kaum erst gefunden. –

Der Sieg war errungen. Angsterfüllt harrte Ingeborg der vom Geliebten verheißenen Kunde und stand täglich am Fenster – die Straße hinausschauend, auf der er kommen mußte, wenn das Glück mit ihr war. Und eines Nachmittags – schon in der Dämmerungsstunde – rollte ein Wagen dem Städtchen zu, ein weißes Tuch winkte heraus, ein Schrei des Jubels und der Freude entrang sich Ingeborg’s Brust – er kommt – er ist mein, so stürzte sie nach der Thür – –

Wo ist die Feder, die diesen Augenblick schildern möchte!

M. von Humbracht.