Friedrich Oetker. Blätter der Erinnerung

Textdaten
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Autor: Karl Braun-Wiesbaden
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Titel: Friedrich Oetker. Blätter der Erinnerung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 174–176
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf zum Tode Friedrich Oetker’s
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Friedrich Oetker.

Blätter der Erinnerung von Karl Braun-Wiesbaden.

Am 17. Februar 1881 morgens in der Frühe ist im Alter von beinahe zweiundsiebenzig Jahren Friedrich Oetker gestorben, bekannt als kurhessischer, preußischer und deutscher Abgeordneter, seit länger als einem Menschenalter im öffentlichen, sowohl im literarischen wie im politischen Leben thätig, vor Allem aber geachtet als kluger, unermüdlicher und erfolgreicher Vertheidiger der hessischen Verfassung gegen den letzten Kurfürsten und seine Leute.

Ich glaube, es ist selten, daß der Geist, der Charakter und die Willenskraft eines einzelnen Mannes in einem deutschen Kleinstaate sogar gegenüber einer in ihren Mitteln nicht sehr wählerischen Regierung, welche an dem Bundestage einen sicheren Rückhalt hatte – solche Erfolge erzielt hat. Denn so weit der Streit sich auf dem Gebiete des hessischen Landes und des hessischen Rechtes bewegte, war Oetker Sieger geblieben gegen den Kurfürsten und gegen Hassenpflug, den thatkräftigsten und rabulistischsten aller kleinstaatlichen Minister.

Erst als der Kurfürst sich entschloß, österreichische und baierische Kriegsvölker in sein Ländchen zu rufen, gelang es, die Verfassung vorübergehend zu Boden zu werfen, aber zugleich auch den kurfürstlichen Thron zu erschüttern. Als im Jahre 1866 preußische Truppen in das Kurfürstenthum einmarschirten, da war es zu Ende mit der hessischen Particular-Verfassung, aber auch mit dem Kurfürsten selber. Er wurde nach Stettin in Kriegsgefangenschaft abgeführt, zwar bald wieder freigegeben, aber er ist nie wieder zurückgekehrt auf kattischen Boden. Er ging nach Prag, weil Einer seiner Ahnen dort auch in der Verbannung gelebt hatte und nach sieben Jahren im Triumph zurückgekehrt war zu seinen biederen Katten, die ihn empfingen mit dem von Dahlmann bezeugten Wahlspruch: „Ein alter Esel ist er zwar, aber wiederhaben müssen wir ihn dennoch.“ Kurfürst Friedrich Wilhelm ist in der Fremde gestorben, ohne thronfolgefähige Nachkommenschaft zu hinterlassen.

In seinen „Lebenserinnerungen“ (zweiter Band S. 199) hat Friedrich Oetker, der sein Leben der Vertheidigung der Verfassung gewidmet, sich selbst zum Schutz, denen aber, welche über das Elend solcher Verfassungen sich in Spöttereien ergingen, zum Trutz die treffende Bemerkung niedergelegt:

„Nicht der Constitutionalismus hat sich bei uns unzureichend erwiesen, sondern die Kleinstaaterei war unser Verderben. Hassenpflug und dem Kurfürsten gegenüber wären wir (die Verfassungsstreiter) Sieger geblieben, aber gegen österreichische und baierische Heerschaaren vermochte das kleine Hessenland sich nicht zu wehren.“

Wäre Friedrich Oetker, statt in Kurhessen, in der amerikanischen Union geboren gewesen, vielleicht würde er die Rolle eines Washington gespielt haben. In Ungarn wäre er gleich einem Franz Deák gefeiert worden. In Kurhessen sind es nur die Auserwählten, welche seiner Verdienste stets dankbar gedenken.

Oetker ist, gleich dem Kurfürsten, nicht auf kattischem Boden gestorben, aber – und das verdiente er reichlich – auf deutscher Erde, in der Reichshauptstadt.

„Ist er nicht im Hospital gestorben? Ein solcher Mann im Hospital! So Etwas kann nur in Deutschland vorkommen.“

So schrieb mir gleich nach Oetker’s Tode ein Freund voll sittlicher Entrüstung. Aber der Mann hatte Unrecht, trotz seiner guten Gesinnung; denn es ist wahr: zwar ist es ein Hospital, in welchem Oetker gestorben, aber ein so vortreffliches, daß ich sehr zweifle, ob er, der alte Junggeselle, der so wenig Bedürfnisse hatte und doch so streng auf Ordnung und Reinlichkeit hielt, irgendwo eine seinen Wünschen mehr entsprechende Verpflegung und so vortreffliche Krankenwärterdienste gefunden haben würde, wie dort. Jedenfalls aber hatte er da eine vorzügliche ärztliche Behandlung. Er starb nämlich in dem Augusta-Hospital in Berlin, in der Scharnhorst-Straße, am Invaliden-Park gelegen. Dieses Hospital steht unter der besonderen Protection der Kaiserin und ist so gut eingerichtet und verwaltet, daß 1870 und 1871 die verwundeten und gefangenen französischen Officiere, welche dort lagen, vielfach um ihr Schicksal beneidet wurden und sich nicht beklagen konnten, daß sie hinter die einheimischen Officiere zurückgesetzt wurden. Jedenfalls war es nicht Noth, was ihn in das Spital trieb. Seine Einkünfte reichten hin, um ihm jeden anderen Aufenthalt zu gestatten. Die Dotation freilich, welche ihm seine politischen Freunde um seiner großen Verdienste willen und zum geringen Ersatz für die Unbilden und Verfolgungen, die er durch die kürhessische Regierung erlitten, zugewandt hatten und die eine ziemlich ansehnliche Summe erreichte, hatte er mit gewohnter opferwilliger Uneigennützigkeit gemeinnützigen Zwecken und Stiftungen gewidmet.

Oetker war so recht das Gegentheil von alledem, was sich leider noch so viele Menschen, wenn nicht als das Ideal, so doch wenigstens als den Typus des Volksvertreters vorstellen. Er war nicht der Mann der großen Gesten und der großen, unaufhörlichen, häufigen und unablässig-unermüdlichen Reden.

Wie oft, wenn die Zeitungen melden, in der abgelaufenen Session habe der Abgeordnete Windthorst 427 Mal und der Abgeordnete Lasker 321 Mal gesprochen, fragt nicht mancher Wähler mit gerunzelter Stirn:

„Warum spricht denn nicht auch unser Vertreter? 300 oder 400 Mal, das kann man wohl nicht von Jedem verlangen, aber von Zeit zu Zeit einmal könnte er sich doch auch hören lassen.“

Nun, Friedrich Oetker, der sein Mandat so gewissenhaft ausübte, wie nur Einer, hat während der dreizehn Jahre, die ich mit ihm in dem preußischen Abgeordnetenhause und in dem deutschen Reichstage gesessen, auch nicht eine Silbe öffentlich gesprochen, und doch war er einer der fleißigsten und einflußreichsten Abgeordneten – einflußreich namentlich in Sachen seiner Provinz. Er hatte den Geist und die Gabe, zu sprechen, aber ihm versagte die Stimme. Nur in kleinem Kreise wußte er sich Gehör zu verschaffen, aber da sprach er desto überzeugender.

[175] Desto besser verstand er zu hören. Wenn er nicht krank war, versäumte er keine Sitzung. Da sah man den klugen, alten, kränklichen Kopf mit dem großen weißen, in sarmatischer Weise herabhängenden Schnurrbart und den glatt nach hinten gestrichenen schneeweißen Haaren, stets etwas vorgeneigt lauschen und nur zuweilen ein wenig lächeln, und als eines Tages in dem höchst provisorischen Reichstagsgebäude, das immer noch nicht einem der Würde der Nation entsprechenden Parlamentshause Platz machen will, von den ebenfalls höchst provisorischen Decken sich einige Balken loslösten und mit einer Gewalt, die einen Ochsen hätte tödten können, dicht neben Oetker’s Sitz niederschlugen, sah man am andern Morgen das verehrliche Mitglied für Schaumburg wieder auf der nämlichen Stelle sitzen, still, freundlich, aufmerksam, als wenn nichts geschehen wäre und nichts wieder geschehen könnte - der Fleisch gewordene Ausdruck des „Impavidum ferient ruinae“, des „Unerschrockenen im Welt-Einsturze“.

Ich kannte Oetker seit beinahe vierzig Jahren. Er hatte in seiner Jugend eine schwere Krankheit durchgemacht und war seitdem nie wieder ganz genesen. Man sagt, Niemand habe eine lebenslange Krankheit mit mehr Gottergebenheit ertragen, als der fromme Dichter und Magister Christian Fürchtegott Gellert in Leipzig; hat er doch auch das schöne Buch „Von den Trostgründen wider ein sieches Leben“ geschrieben, von welchem ich - das spricht freilich nur für die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur - indessen, beiläufig bemerkt, noch niemals gehört habe, daß es irgendwann einem wirklich Kranken in der That zum Troste verholfen.

Aber von Friedrich Oetker kann ich behaupten, daß er durch die Kraft seines Willens seine Krankheit, ohne sie aufheben zu können, doch förmlich unterjocht hat. Weit entfernt von der vielberufenen Schopenhauer’schen „Verneinung des Willens zum Dasein“, war er stets beseelt von dem Entschluß der That und des Wirkens. Ich habe ihn gesehen, wie er unter den heftigsten Schmerzen zu Bett lag, aber da am andern Tag eine für weiland Kurhessen wichtige Frage zur Entscheidung kam, so hatte er seine Landsleute, die hessischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, um sich versammelt und gab ihnen die minutiösesten Instructionen, wie es der Feldherr vor der Schlacht thut, immer freundlich, immer sorgfältig und geduldig, während ein Anderer hätte aus der Haut fahren mögen.

In Folge dieser bewundernswürdigen Selbstbeherrschung wollte gar Mancher an seine Krankheit nicht so recht glauben, obgleich sie nur zu sehr eine traurige Wahrheit war. Ich glaube, es war im Jahre 1859 – da saßen wir in Frankfurt am Main zusammen, und Einer unserer politischen Freunde, von der Statur des Hercules und von so brennendrothen Wangen, daß Oetker sagte, man könne sich eine Cigarre daran anstecken, schrie in seinem Uebermuthe:

„Ja, da sitzen wir nun, wir jungen und kräftigen Leute, und doch wird da dieser alte kranke Oetker uns alle überleben.“

Und in der That hat ihn Oetker um sechszehn Jahre überlebt. Ein Anderer von unserer damaligen politischen Tafelrunde dagegen schrieb mir dieser Tage:

„Möge die Erde leicht sein für unseren tapferen alten Kattenhäuptling! Man darf sich kaum wundern, daß er gestorben. Man kann vielmehr kaum begreifen, wie er so alt werden konnte. Aber der starke Geist hat den schwachen Körper aufrecht erhalten.“

Er selbst schrieb 1878 in seine „Erinnerungen“:

„Durch einige Flugblätter, die, wie man sagt, den Nagel auf den Kopf trafen, war ich im Sommer 1848 schnell ein ‚einflußreicher‘ Mann geworden. Auch in die Ständeversammlung wollte man mich bringen, doch lehnte ich dies vorläufig ab. Erst im Herbst 1848 nahm ich eine Wahl der Schaumburger Städte an und begann am 29. November meine parlamentarische Thätigkeit, indem ich sogleich in den ‚Legitimations-Prüfungs-Ausschuß‘, später auch in andere Ausschüsse gewählt wurde.

Da ich wegen fortwährender Heiserkeit nur mit großer Anstrengung einige Sätze zu reden vermocht, so war meine Wirksamkeit meist auf die Theilnahme an Ausschußberathungen, auf kurze Bemerkungen und stille Beeinflussungen, sowie auf Befürwortungen und Bekämpfungen in der Presse beschränkt. Auch später, bis auf die neueste Zeit, hat sich dies niemals wesentlich geändert.“

Die zwei Bände „Erinnerungen“ von Oetker sind ein wahres Schatzkästlein. Der erste Band ist 1877 erschienen. Oetker schickte ihn mir mit einem freundlichen Billet, das ihn in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigt. Es datirt vom 23. Juni 1877 und lautet:

„Vor geraumer Zeit, hochmögender Freund, sandte ich eine Frage an Sie ab, wo Sie demnächst zu erreichen sein möchten. Da ich darauf keine Antwort erhalten, so nehme ich an, daß Sie entweder ‚hinten weit in der Türkei‘ oder anderswo weit sich befinden. Ich lasse daher hierneben mein Jüngstes einfach in Ihrem Hause (in Berlin) abgeben, selbiges dem Schutze Ihrer Penaten so lange empfehlend, bis Sie es selbst in Ihre freundliche Obhut und Fürsorge nehmen und mir dann zugleich sagen werden, ob ein Allerjüngstes wünschenswerth ist oder nicht?

Rosen auf Ihr Haupt! Das meinige ist sorgenschwer.
Fr. O.“ 

Er hatte mit seiner Vermuthung nicht Unrecht. Zur Zeit, als sein Billet und Buch in meiner Wohnung in Berlin abgegeben wurden, weilte ich zufällig in Vathy, der Hauptstadt der Insel Ithaka, der Heimath des göttlichen Dulders Odysseus. Ich brachte von da einen prachtvollen Wein mit, einen echt griechischen Muscato, den ich denn auch meinem Freunde Oetker vorführte; der alte Katten-Häuptling kostete ihn mit Geschmack und Verstand und meinte lächelnd:

„Doch ein dummer Kerl, dieser Odysseus, daß er sich an die zwanzig Jahre nutzlos in der Welt umhertrieb, während er zu Hause einen solchen Wein in seinem Keller hatte.“

Wenn Oetker damals schrieb, „sein Haupt sei sorgenschwer“, so hatte das seinen Grund darin, daß er glaubte, Bismarck sei im Begriff, gegen den Liberalismus eine feindselige Stellung einzunehmen und sich ganz den Russen in die Arme zu werfen. Letzteres war bekanntlich ein Irrthum.

Ich ermunterte Oetker sehr lebhaft, „ein Allerjüngstes“, das heißt einen zweiten Band „Erinnerungen“ folgen zu lassen (er sagte mir, er habe Stoff für vier Bände), denn der erste war prachtvoll, namentlich die Erzählung von „Elternhaus und Dorfschulzeit“. Der zweite ist 1878 erschienen.

Oetker ist eigentlich gar kein Katte, sonderm ein richtiger niedersächsischer Bauer. Er ist in Rehren (nicht Kehren, wie augenblicklich die Zeitungen, in geographisch-topographischer Unwissenheit mit einander wetteifernd, berichten) geboren, einem kleinen Dorf in der (jetzt zur preußischen Provinz Hessen-Nassau gehörenden) Grafschaft Schaumburg, an der Straße von Rinteln nach Rodenberg gelegen. Es ist ein Ländchen von großen landschaftlichen Reizen, eine Niederung, welche im Süden die Weserberge, in das schöne Weserthal steil abfallend, im Norden der „Bückeberg“ begrenzen - ein zwei Meilen langer Bergrücken, der hier das norddeutsche Flachland von dem Hügelgelände Mitteldeutschlands trennt. Zugleich hat hier die Kleinstaaterei seltsame territoriale Gestaltungen geschaffen, namentlich an der Grenze zwischen Hessen, jetzt Preußen, und Bückeburg, wo früher eine Art Gemeinschaft bestand, welche an den berüchtigten Communionharz erinnert. Hier existiren auch werthvolle Steinkohlen-Bergwerke. Der berühmte Obernkircher Sandstein - ein feinkörniger, fester, hellgrauer Stein, davon in Berlin die Siegessäule aufgebaut ist – wird hier gebrochen. Dieses Schaumburger Ländchen hat Oetker bis zum letzten Hauch in treuem Herzen getragen, und die braven Schaumburger wußten das und haben es ihm mit aufrichtiger Gegenliebe ehrlich vergolten. Wenn er sich dort sehen ließ, wurde er geehrt und gefeiert, und wenn dort gewählt wurde, wählte man Oetker, ohne daß von einer ernsthaften Gegencandidatur auch nur einmal die Rede gewesen wäre. Man wählte ihn nach Kassel in den hessischen Landtag, nach Berlin in das Abgeordnetenhaus, in den norddeutschen und in den deutschen Reichstag.

Ich lege großen Werth auf diese Herkunft Oetker’s. Er hatte die Zähigkeit, die Bauernklugheit und die Eisenköpfigkeit des Niedersachsen, und dies machte ihn zum Führer der streitbaren und tapferen Katten in den kurhessischen Verfassungskämpfen. Dies charakterisirt seine Stellung in Hessen.

Zugleich aber war er geboren auf der Grenze zwischen Ober- und Niederdeutschland, und dies kennzeichnet seine Stellung in der deutschen Politik. Er war der geborene Vermittler zwischen norddeutschen und süddeutschen Naturen und, trotz seines Heimathsgefühles, himmelweit entfernt von allem Particularismus.

Dieses sein schönes Schaumburger Ländchen hat Oetker reizend geschildert. Einmal in dem ersten Bande seiner „Erinnerungen“, dann aber in dem erst vor wenigen Wochen bei Gebrüder Paetel in Berlin erschienenen Buche „Aus dem norddeutschen Bauernleben“.

[176] Wer Oetker’s Heimath kennt, der wird nicht nur angeheimelt, sondern tief ergriffen werden von der Wahrheit dieser bäuerlichen Erzählungen. Man könnte das Buch auch „Fritz Oetker und die Seinen“ nennen, und dadurch gewinnt es heute einen doppelten Werth. Oetker’s Vater war dort ein kleiner Bauer und zugleich Besitzer einer kleinen Klappermühle, die von einem vom Bückeberg herabkommenden Bächlein gespeist wird. Dieser Müller und die Seinen sind die Helden der Oetker’schen „Schildereien“. Der „Müller“, das ist Oetker’s Vater; der „Berg“, den er und seine Familie (in der zweiten Erzählung) übersteigen, das ist der Bückeberg; der „Fritz“, das ist Oetker selbst; der „Christian“, das ist sein Bruder Karl. Sie sind herauszukennen, obgleich die Namen geändert oder unterdrückt sind. Es ist ein Buch voll Menschenkenntniß und Natursinn, voll Leben und Wahrheit.

Aber mit derselben Liebe, mit welcher er sich in das intime Leben seiner kleinen Heimath vertiefte, studirte er auch das germanische Leben im Auslande, so lange ihm die politische Verfolgung den Aufenthalt in Deutschland unmöglich machte. In Belgien trat er ein für die Vlamingen gegen die Fransquillons. Seine „Belgischen Studien“ (Stuttgart, 1876) enthalten Schilderungen ersten Ranges.

Sein Buch „Helgoland“ (Berlin, 1855) ist weitaus das Gediegenste unter den zahlreichen Publicationen über diese unter englischer Herrschaft stehende deutsche Insel. Es enthält die gründlichsten rechts- und culturhistorischen Studien, und die darin enthaltenen sprachwissenschaftlichen Forschungen wurden von Jacob Grimm des lebhaftesten Beifalls gewürdigt.

Noch kurz vor seinem Tode hat Oetker wiederholt in öffentlichen Blättern, englischen wie deutschen, das Wort ergriffen, um die Helgoländer gegen gewisse englische Experimente zu schützen.

Doch kehren wir zurück zu dem Anfange seiner öffentlichen Laufbahn! Er machte 1835 sein juristisches Staatsexamen, allein er mußte einige Zeit warten, bevor man ihn provisorisch zur Anwaltschaft zuließ. Erst das Jahr Achtundvierzig ließ ihn endgültig dazu gelangen. Gleichzeitig wurde Oetker Stadtrath in Kassel, Mitglied der Ständeversammlung und Begründer der „Neuen hessischen Zeitung“. In diesen Stellungen führte er unerschrocken den Kampf wider die kurfürstliche Mißregierung und die Hassenpflug’sche Willkür. Dieser Kampf gestaltete sich immer ernsthafter. Im Herbste 1850 wurde Oetker verhaftet, ohne Urtheil und Recht Wochen lang gefangen gehalten und dann von den „Strafbaiern“ über die Grenze getrieben. Aber selbst im „deutschen Auslande“ war er nicht sicher. Nach Göttingen, nach Braunschweig, nach Wangeroge folgte ihm die kurfürstliche Verfolgung. Er mußte nach dem englischen Helgoland flüchten, um sich vor den liebenswürdigen Zudringlichkeiten seines theuern Landesvaters zu retten. Auf diesem kleinen Eilande, welches statt der Wälder nur die berühmte „Kartoffelallee“ aufzuweisen hat, saß er drei lange Jahre, wie Iphigenie „das Land der Katten mit der Seele suchend“. Auch Krankheit hielt ihn da fest; erst im Herbste 1854 gelang es ihm, nach dem Festlande zurückzukehren. Er wohnte von 1854 bis 1859 in Brüssel und an anderen Orten von Belgien. Aber er mochte wohnen wo er wollte, nach allen Orten trug er den kurhessischen Boden an den Schuhsohlen mit sich: auch in der Fremde beherrschte die Sorge für die Verfassung und das Wohl seiner Heimath sein Dichten und Trachten. Auch von Helgoland, von Ostende, Brüssel, Brügge, Gent und Mecheln aus war er für die Schwachen eine Stütze, für die Rathlosen, für die Verzagten ein Tröster.

Kaum gestattete ihm die „neue Aera“ die Rückkehr, so erschien er 1859 wieder in Kassel. An der Stelle des früheren Blattes, das ebenfalls der kriegszuständlich-polizeilichen Willkür erlegen, gründete er die „Hessische Morgenzeitung“, in welcher er die sogenannten „Nachthessen“ unbarmherzig bekämpfte. Er, der kranke Verbannte, wurde die Seele und das Haupt der ganzen hessischen Verfassungspartei. Ohne ihn war der Kampf überhaupt nicht denkbar. Er führte ihn mit einer Sorgfalt, von der man in größeren Verhältnissen gar keinen Begriff hat. Er war Höchstcommandirender und Chef des Generalstabs in einer Person. Damit nicht genug, exercirte er die Wahlkörperschaften ein, und er drillte auch die Rekruten in dem Landtage, welcher sich mehr durch Standhaftigkeit als durch Intelligenz auszeichnete. Oetker formulirte die Anträge; er verfaßte gar Manches, das ein Anderer vortrug. Er setzte den Landtag in Scene und besang ihn dann in der Zeitung, Homer und Achilles in einer Person. Wider seine kranke Brust richteten sich alle Geschosse der Gegner, und diese Geschosse waren nicht immer sehr reinlich. Aber nicht einmal den Humor wußte ihm Alles das zu verderben. Er hat ihn bewahrt bis zur letzten Stunde seines Lebens.

Ich hatte ihm am 7. December 1880 geschrieben, um ihm meinen Beifall auszusprechen für seine prachtvollen niedersächsischen Bauerngeschichten, die soeben erschienen und von mir an einem einzigen Tage verschlungen worden waren. Auch hatte ich ihm eine Kritik der Geschichten „angedroht“. Da ich nicht wußte, wo er sich aufhielt, hatte ich den Brief an die Herren Gebrüder Paetel in Berlin, die Verleger des Buches, adressirt. Ich erhielt von Oetker wörtlich folgende, offenbar im Bette und unter Anstrengung, mit Blei geschriebene Antwort per Postkarte:

 NW Berlin, Augusta-Hospital, 8. December 1880.

Daß Euer Liebden mich den Berlinern gegenüber, die meine Bücher todt zu schweigen pflegen, rächen wollen, finde ich sehr edel. Wollen Sie dabei sagen, daß ich keine ‚Dorfgeschichten‘ im gewöhnlichen Sinne des Wortes geschrieben habe, sondern blanke, volle Wirklichkeit, wenn auch hier und da etwas umgruppirt, so habe ich nichts dagegen. Ich selbst kam nicht mehr dazu, es in der Vorrede zu sagen. Ein furchtbares Leiden kam mir auf den Hals, oder vielmehr in den rechten Arm, wovon ich noch nicht genesen bin – nach sechs Monaten! Wenn mich Jemand fragt, was es sei, so sage ich: ‚Neuralgia humero-brachialis obscura perplexa‘. Gewöhnlich giebt man sich dann mit einem ‚Ach so!‘ zufrieden, was mit einem deutschen Worte nicht zu erreichen steht.

Möge Ihr Schatten ein geringer werden!
Fr. O.“ 

Ich wollte also das treffliche Büchlein in einer Zeitschrift besprechen und darin alles Gute, was ich darüber auf dem Herzen habe (und wovon Obiges nur ein ganz kleiner Theil ist) vollständig sagen. Aber es kam mir allerlei Arbeit dazwischen.

Am 11. Januar (1881) erhielt ich eine zweite Postkarte von Oetker, die also lautete:

 „Hochmögende Liebden!

Im Stande der Unschuld lebend (d. i. entfernt von Menschen, Zeitschriften und Büchern), weiß ich nicht, ob Euere Liebden Bedrohung vom 7. December vorigen Jahres ausgeführt worden ist.

Wenn ja, so wollte ich mir einen Abdruck erbitten – in’s Augusta-Hospital zu Berlin NW, woselbst ich elendiglich, aber schönstens grüßend, verharre.
Fr. O.“ 

Ich machte mich nun an die Arbeit, war aber mit derselben noch nicht fertig, als ich am 18. Februar die Nachricht von seinem Tode erhielt.

Ach, dachte ich, ist doch das zu rascher Ausführung guter Entschließung mahnende englische Sprüchwort: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ so richtig. Mein Vorsatz, dem lieben, alten Freund mit einer öffentlichen Besprechung seines Buches eine so wohlverdiente Freude auf dem Krankenlager zu machen, ist durch mein Zögern vereitelt.

So will ich wenigstens dieses Blatt niederlegen auf dem Grabe des Tapfern.