Textdaten
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Autor: J. Chop.
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Titel: Frau Werther
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 558–560
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Frau Werther.

Die „Gartenlaube“ ist durch den nachstehenden Artikel mit einer ebenso seltenen wie tiefernsten Bestimmung betraut worden: sie soll, möglicherweise, ein junges Menschenleben vor dem Fallbeil des Scharfrichters retten. Es gilt Geheimnisse an das Licht zu ziehen, welche vielleicht im Schooße einer einzigen Familie, vielleicht in einer einzigen Menschenbrust verborgen sind, und weil die „Gartenlaube“ an dem Heerde von Tausenden von Familien heimisch ist, bis zu welchen oft nur wenig andere öffentliche Blätter vordringen, so hat ein Beamter der Oberstaatsanwaltschaft von Sachsen-Weimar es für seine Pflicht gehalten, in unserem Blatte noch einen Versuch zum Herbeiruf eines Zeugnisses zu machen, das allein dem Richterspruch nach Geschworenen-Urtheil über ein verwirktes Leben entgegentreten, eine vielleicht Unschuldige aus der Todesnoth erlösen und die deutsche Rechtspflege vor einem Justizmord bewahren kann.




Am 22. Mai d. J. wurde vor dem Schwurgerichte zu Eisenach eine Untersuchung zu Ende geführt, für deren mannigfache Räthsel und Geheimnisse der Wahrspruch der Geschworenen selbstverständlich nur eine Entscheidung, aber keine Lösung zu bieten vermochte.

Des Mordes angeklagt, stand Amalie Wechsung aus Oldisleben vor Gericht; aber sie leugnete beharrlich ihre Schuld, Niemand war da, welcher Zeuge der dunklen That gewesen wäre, und so mußte denn der Beweis durch Indicien geführt werden, d. h. durch eine geeignete Zusammenstellung von einzelnen Umständen, Ereignissen und Beobachtungen, welche in ihrer Vereinigung und Gesammtwirkung keinen Zweifel mehr an der Schuld des Verbrechens übrig lassen können. Ein solcher Beweis ist schwer, und doppelt schwer da, wo ein drohendes Todesurtheil, dessen Folgen nie getilgt werden können, zur höchsten Vorsicht ermahnt: aber er wirkt auch dann, wenn er durchgeführt wird, ergreifender und tiefer, als jede andere Art der Ueberführung. Zeugen können sich täuschen, oder sich zum Verderben eines Unschuldigen vereinigen, Angeklagte können sich aus Lebensüberdruß, oder um Andere in ihr eigenes Schicksal mit zu verstricken, für schuldig bekennen, ohne es zu sein: wo aber an den verschiedensten Orten und unter den verschiedensten Umständen Tausende von sonst kaum beachteten Kleinigkeiten sich vereinigen, um unter ihrer Gesammtlast den Schuldigen zu erdrücken, wo die stillen Fluthen Sprache gewinnen, einzelne Blutstropfen, wie im Märchen, vernehmlich reden, und Steine selbst nach Rache schreien, da fühlt man schauernd die Nähe einer höheren, vergeltenden Macht, welche den verborgenen Verbrecher an das Tageslicht zieht und ihm seinen Richtern überliefert.

Einen Beweis dieser Art galt es gegen die Wechsung zu führen.

Die Angeklagte ist jetzt dreißig Jahre alt, von mittlerer Größe und schlankem Wuchse, die Züge ihres mageren, etwas gebräunten Gesichtes verrathen noch jetzt, daß sie einst hübsch war, ihre Stimme klingt sanft und gewinnend, ihr Haar ist dunkel, um den hübschen Mund lagert sich der Ausdruck der Sinnlichkeit, während aus den hellblauen Augen ein leichter oberflächlicher Geist oder aber eine wohlmaskirte Heuchelei zu sprechen scheint. Obwohl den unteren Volksclassen angehörig, weiß sie doch ihre Worte gut zu setzen und führte während der langen Verhandlung die Vertheidigung für ihr Leben mit so viel Ruhe, Umsicht und Kaltblütigkeit, daß sie einem erprobten Krieger zum Muster hätte dienen und einen Advocaten der englischen Schule zur Begeisterung hätte entflammen können.

Im Jahre 1853 gebar Amalie Wechsung ein Mädchen, und im Jahre 1857 Zwillinge, beide ebenfalls Mädchen. Alle diese Kinder starben auffallend schnell: das eine nach drei Wochen, das andere nach sieben Wochen, das dritte nach einem und drei Vierteljahren. Haftet auch schon ihr Blut an den Händen der Angeklagten? Der öffentliche Ankläger lieh diesem Verdachte klare Worte, allein die kleinen Leichen sind längst wieder zu Erde geworden; versuchen wir es daher nicht, diesen Schleier zu lüften, und lassen wir der Angeklagten ihr düsteres Geheimniß! Im Jahr 1859 stand dieselbe abermals im Verdacht, heimlich geboren zu haben; man hatte eine Kindesleiche in einem Baum gefunden, aber es fehlte an Beweisen, und die Untersuchung mußte auf sich beruhen bleiben.

Am 20. April 1864 mußte Amalie, die zuletzt bei dem Gastwirth Wolf in der Theaterstraße in Leipzig als Köchin in Diensten gestanden hatte, in das Trier’sche Entbindungsinstitut daselbst gebracht werden und gab hier, obschon sie gegen Jedermann ihren Zustand verleugnet hatte, am 26. April 1864 einem Knaben das Leben, welcher in der Taufe die Namen Johann Ludwig Wilhelm erhielt und im Leipziger Kirchenbuche als nach Oldisleben gehörig eingetragen wurde.

Noch vierzehn Tage verweilte sie in dem Institute, dann verließ sie mit ihrem Kinde dasselbe am 11. Mai 1864 und trat Tags darauf, am 12. Mai, früh um fünf Uhr bei der ihr befreundeten Familie des Arbeitsmannes Bertram zu Halle, wo sie vor ihrem Leipziger Aufenthalte gelebt hatte, in’s Zimmer, jedoch – ohne ihr Kind. Ihr leidendes Aussehen fiel den Bertram’schen Eheleuten sofort auf, allein sie suchte dasselbe durch kranke Füße zu entschuldigen. Am Nachmittag des 13. Mai verließ sie die Bertram’sche Wohnung wieder mit der Aeußerung, daß sie nun nach Stadtsulza zu ihren Großeltern fahren wolle; statt aber diesen Vorsatz auszuführen, erschien sie am 14. Mai Abends um dreiviertel acht Uhr bei der Frau des Schmiedegesellen Fuchs in Halle und versicherte dieser, daß sie soeben mit der Eisenbahn von Leipzig gekommen sei, um ihren Geliebten zu besuchen. Bei der Fuchs erkrankte sie nach wenigen Tagen und blieb fünf Wochen lang krank, immer indeß ohne das Geringste von dem in Leipzig Vorgefallenen zu erzählen.

So breitete sich denn allmählich Schweigen über die ganze Angelegenheit und diese schien bereits vollkommen der Vergessenheit anheimgefallen zu sein, als die Wechsung zu Anfang des Septembers 1864 in ihrem Heimathsorte Oldisleben wieder eintraf und von dem dortigen Gemeindevorstande – welcher durch das Leipziger Polizeiamt von ihrer Entbindung benachrichtigt worden war – nach dem Verbleiben ihres Kindes gefragt wurde. Jetzt erst räumt sie das Geschehene ein, und es taucht nun in ihren Erzählungen eine Person auf, deren Verhalten offenbar räthselhaft und geheimnißvoll, deren Vorhandensein zwar zweifelhaft, aber nicht unmöglich ist und an deren Existenz das Leben der Angeklagten hängt. Fassen wir Alles zusammen, was die Wechsung über jene Person anzugeben vermag, denn es gilt vielleicht, eine Unschuldige zu retten und das Henkerbeil aufzuhalten, welches bereits drohend über ihrem Haupte schwebt.

Acht Tage vor ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Entbindungsinstitut, so erzählt die Angeklagte, fand sich daselbst eine anständig gekleidete Frau in einem Alter von etwas über dreißig Jahren ein, welche sich den Namen „Frau Werther“ beilegte und sich gegen sie erbot, ihr Kind an sich zu nehmen und aufzuziehen; mehrere weibliche Patienten des Institutes sollen diese Unterredung mit angehört haben, ohne daß die Angeklagte deren Namen anfänglich zu nennen vermochte. Erst in der Hauptverhandlung behauptete die Wechsung, daß ihr nunmehr die Namen dieser Personen eingefallen seien, aber sowohl sie, als ihr Vertheidiger versäumten es, die Ermittelung und nachträgliche Vernehmung derselben ausdrücklich zu beantragen. Es steht ferner durch die Aussage der Hebamme Richter, welche die Wechsung unter ihrer Obhut hatte, fest, daß Jene an den ihrer Entlassung aus dem Institute vorhergehenden Tagen mehrmals sich unter dem Vorwande entfernte, daß sie noch ihr Dienstbuch und den rückständigen Lohn von ihrem Dienstherrn zu holen habe. Am Tage ihrer Entlassung wurde sie mit ihrem Kinde angeblich von der Frau Werther am Eingange des Trier’schen Institutes in Empfang genommen: die Straßen, durch welche Beide gingen, vermag sie nicht mehr anzugeben, denn sie hat, wie erwiesen ist, die Wohnung ihrer Dienstherrschaft fast nie verlassen und kennt deshalb Leipzig nicht; nur soviel ist sie im Stande mitzutheilen, daß die Frau Werther mit ihr erst eine Strecke geradeaus und dann „links um die Ecke herum“ gegangen und daß sie bei ihrer großen Erschöpfung ziemlich eine halbe Stunde gebraucht habe, ehe sie zur Wohnung der Frau Werther gelangt sei. Letztere habe in einem anständigen Hause drei Treppen hoch gewohnt und sei recht gut eingerichtet [559] gewesen. Sie habe ihr erzählt, daß sie schon früher ein Kind in Pflege gehabt habe, welches aber im fünften Jahre gestorben sei, und daß sie dessen Kleider noch besitze. Die bisherige Kleidung des Wechsung’schen Kindes sei ihr zu schlecht gewesen, da sie „mit demselben habe Staat machen wollen“; sie habe der Angeklagten daher diese Kleidungsstücke zurückgegeben und diese habe noch an demselben Tage dem Kinde einen neuen Anzug von der Farbe des bisherigen gekauft. Obwohl die Frau Werther sich sogar bereit erklärt habe, das Kind ohne alle Entschädigung zu ihrem puren Vergnügen“ bei sich zu behalten, so sei doch schließlich verabredet worden, daß die Angeklagte ihr für’s erste Jahr zwanzig Thaler Ziehgeld geben solle, und Letztere habe sofort fünf Thaler abschläglich bezahlt. Dagegen habe sich die Frau Werther verpflichtet, sie regelmäßig am ersten Sonntage jeden Monats in Halle aufzusuchen und ihr das Kind zu zeigen; auch habe dieselbe die Angeklagte, welche noch an demselben Abende (11. Mai) um ein halb sechs Uhr nach Halle abreiste, bis zum Bahnhofe begleitet, ihr aber schon unter dem 21. oder 22. Mai, während die Wechsung bei der Frau Fuchs krank lag, brieflich gemeldet, daß das Kind an Krämpfen gestorben sei. Die Wechsung selbst bezweifelt die Richtigkeit dieser Meldung und spricht die Vermuthung aus, daß jene Frau Werther das Kind nur ganz in ihre Gewalt habe bekommen und ihr durch die Todesnachricht die Lust zu weiteren Nachforschungen habe benehmen wollen.

Existirt nun eine Frau der bezeichneten Art in der That? Heißt sie wirklich Werther? Lebt sie noch in Leipzig? Kennt sie die entsetzliche Lage der Angeklagten? Ist es ihr möglich, offen aufzutreten und die Unschuld derselben darzuthun?

Die Leipziger Polizei hat unter der Leitung des Actuar Richter die umfassendsten und sorgfältigsten Nachforschungen nach der Frau Werther angestellt; aber sie hat überall diesen, möglicherweise falschen Namen zu ihrer Richtschnur genommen. Die Seelenlisten Leipzigs weisen nur zwei Frauen mit Namen Werther auf; allein von diesen ist die eine schon ziemlich bejahrt, die andere ist eine junge Musiklehrerin, die Stellung Beider aber ist von einer Art, daß die Polizeibeamten es für unnöthig befunden haben, sie auch nur mit einem Worte nach dem Wechsung’schen Kinde zu befragen. Außerdem hat nach der Fremdenliste damals auch eine Schauspielerin Werther sich „zur Cur“ in Leipzig aufgehalten, über welche es an weiteren Nachrichten fehlt. Auch in den benachbarten Ortschaften hält sich keine Frau Werther auf und hier, wie in Leipzig, geben auch die Sterbelisten keine Nachricht über das Wechsung’sche Kind. Daß Gaukler oder Seiltänzer das Kind an sich genommen haben sollten, ist unwahrscheinlich, denn Leute dieser Art befassen sich nicht mit Kindern von so jugendlichem Alter.

Alle jene polizeilichen Nachforschungen jedoch gehen von der Voraussetzung aus, daß die angebliche Frau Werther in guter Absicht gehandelt habe und deshalb auch der Polizei gegenüber vollkommen gesetzmäßig verfahren sei. Wie nun aber, wenn es sich darum handelte, das Kind zu einem Verbrechen zu verwenden? Nicht blos in Romanen, sondern auch im wirklichen Leben verschwinden Kinder und tauchen in angesehenen Familien wieder auf. Man vergesse nicht, daß das verschwundene Kind ein Knabe war und daß bei vielen Familien Vermögen, Ansehen und häuslicher Friede von der Geburt eines Knaben abhängen; wie nun, wenn auch der Wechsung’sche Knabe das, was die Natur verweigerte, ersetzen, oder an die Stelle eines kurz nach der Geburt verschiedenen Kindes eintreten sollte, da, wo vielleicht keine Aussicht mehr auf einen gesetzlichen männlichen Erben vorhanden war? Würde dann wohl die angebliche Frau Werther, wenn sie, um einen solchen Betrug zu unterstützen, nach Leipzig kam, die geringe Geldstrafe gescheut haben, welche auf die unterbliebene Anmeldung bei dem Polizeiamt gesetzt ist? oder würde sie wohl der Angeklagten denselben Namen genannt haben, welcher in den polizeilichen Listen stand, um so den Nachforschungen mißtrauischer Verwandten Thor und Thür zu öffnen? War es dann nicht am Gerathensten, das Kind einer Person zu wählen, welche, nicht in Leipzig wohnhaft, nicht einmal mit den Straßen Leipzigs bekannt, schwerlich dorthin zurückkehrte, und diese Person dann durch die Meldung von dem Tode des Kindes von allen weiteren Nachfragen abzuhalten? Konnte sie eine solche Person wohl anderswo leichter finden, als in einer öffentlichen Entbindungsanstalt, deren Bewohnerinnen ihre Mutterschaft als ein Unglück zu betrachten pflegen? und sollte es ihr, einen solchen Zweck vor Augen, so ganz unmöglich gewesen sein, die Wachsamkeit des Thürhüters und des Dienstpersonals im Trier’schen Institute zu täuschen, um mit der Wechsung in Verkehr zu treten? Natürlich würde der weitere Verlauf des beabsichtigten Betruges schwerlich in Leipzigs unmittelbarer Nähe stattgefunden haben, und so ließe es sich wohl auch leicht erklären, daß die öffentlichen Aufrufe in den Leipziger Localblättern den Mitschuldigen des Betruges nicht zu Augen gekommen sind, selbst wenn dieselben geneigt sein sollten, sich selbst und die Ehre ihrer Familie der öffentlichen Schande preiszugeben, um eine unschuldig Angeklagte vom Tode zu erretten.

Freilich dürfen wir uns auch nicht das schwere Gewicht der Thatsachen verhehlen, welche gegen die Angeschuldigte sprechen. Sie hat in Leipzig gegen Niemand geäußert, daß sie ihr Kind dort zu lassen gedenke, sondern vielmehr erklärt, sie nehme dasselbe mit sich, um es ihrem Geliebten zu zeigen; aber mußte nicht gerade eine solche Erklärung den Absichten der geheimnißvollen Frau Werther entsprechen, welche ihr dieselbe vielleicht erst eingeflüstert hatte? Sie reiste am Abend des 11. Mai von Leipzig ab und behauptet, noch an demselben Abend bei den Bertram’schen Eheleuten in’s Zimmer getreten sein, um sich aus ihrem dorthin vorausgeschickten Koffer ein Nachtkleid zu holen; während Jene eidlich versichern, daß sie erst am 12. Mai früh um fünf Uhr bei ihnen sich eingestellt habe, zu einer Zeit, zu welcher noch kein Frühzug von Leipzig angekommen sein konnte. Nur in jener Nacht vom 11. zum 12. Mai kann sie ihr Kind getödtet haben, wenn sie es überhaupt getödtet hat, weil nur für diese Zeit es an einem Nachweis über ihren Aufenthalt fehlt und weil erst von da an ihr Kind verschwunden ist. Als sie bei Bertram’s eintrat, trug sie ein Bündel unter ihrem Arme und verschloß dasselbe in ihrem Koffer. Dieses Bündel enthielt bei späterer Prüfung die Kleider ihres Kindes in beschmutztem Zustande, als seien sie soeben erst einem Kinde vom Leibe genommen worden. Es waren die einzigen Kindersachen, welche die Hebamme Richter für sie angeschafft und welche sie im Trier’schen Institute überhaupt besessen hatte; aber stimmt dies nicht mit ihrer Angabe, daß die Frau Werther ihr die alten Kleider des Kindes zurückgegeben und nur den nach ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Institute neu angeschafften Anzug behalten habe? Die Frau Fuchs bezeugt ferner, daß die Wechsung, während sie bei ihr krank gelegen, zwar mehrere Briefe erhalten habe, jedoch keinen aus Leipzig; reicht aber wohl diese Aussage hin, um zu bestreiten, daß jene Frau Werther existirt und der Angeschuldigten den Tod ihres Kindes gemeldet hat?

Die Angeklagte hat in Halle ihren Zustand und ihre erfolgte Niederkunft geleugnet; aber welchen Grund hätte sie auch dafür gehabt, jedem Unbetheiligten offen ihre Schande zu bekennen? Sie hat überhaupt mannigfach gelogen, selbst da, wo es durch ihre Vertheidigung nicht unbedingt geboten war, wie z. B. damals, als sie der Fuchs erzählte, sie sei erst am Abend des 14. Mai in Halle angekommen; allein hieraus geht nur hervor, daß sie eine gewohnheitsmäßige Lügnerin ist und nicht etwa erst zur Lüge ihre Zuflucht genommen hat, als es galt ein Verbrechen zu verheimlichen.

Das schwerste Moment, welches freilich die Angeklagte zu erdrücken droht, ist folgendes. Am 16. Mai 1864 wurde bei Halle unterhalb der Gasanstalt ein nackter Kindesleichnam männlichen Geschlechtes in der Saale gefunden. Die Länge dieses Leichnams stimmt annähernd mit dem Maße, welches im Trier’schen Institute von dem Wechsung’schen Kinde genommen wurde, überein, und die geringe Differenz sucht die Anklage mit der Schwierigkeit, welche die Messung eines lebenden Kindes darbietet, zu erklären. Die Kindesleiche wog fünfzehn Loth schwerer als das vermißte Kind, und auch dieser Umstand wird durch das eingedrungene Wasser zu erläutern gesucht; die Augen der Leiche waren weiter in der Verwesung vorgeschritten, als andere Körpertheile, und es wurde allerdings festgestellt, daß die Augen des Wechsung’schen Kindes geschwürig gewesen waren; die Haare der Leiche waren blond und spärlich, gerade wie beim Wechsung’schen Kinde, und die Physikatspersonen gaben ihr Gutachten dahin ab, daß das fragliche Kind bei seinem Tode ungefähr vierzehn Tage alt gewesen und durch Ertrinken um’s Leben gekommen sei. Von entfernteren Orten her konnte die Leiche auch nicht herbeigeschwommen sein, denn es war gerade niedriger Wasserstand, und ein Wehr, kurz über der Stelle, wo man die Leiche fand, würde dieselbe damals nicht durchgelassen haben. Das Kind mußte daher erst unterhalb des Wehres in das [560] Wasser geworfen worden sein, und die Vermuthung sprach dafür, daß dieses eben da geschehen, wo die Leiche gefunden wurde, weil hier gerade ein Wirbel in der Saale war, welcher einen einmal erfaßten Gegenstand nicht leicht wieder entließ. Hierzu kam noch, daß die Angeklagte zweimal in der Nähe dieses Platzes gedient hatte, und daß dicht dabei eine Brücke über die Saale nach mehreren Vergnügungsorten führt, über welche die Angeklagte häufig gekommen sein mußte.

Unter der Leitung des Polizeirathes Albrecht in Halle sind nun in der Stadt und in deren Umgegend die sorgfältigsten Nachforschungen nach verschwundenen Kindern angestellt worden: man hat von allen Küstern und Hebammen Verzeichnisse der in der Zeit vom 15. April bis zum 5. Mai 1864 in Halle und Umgegend geborenen Kinder eingezogen und deren Verbleib mit bewundernswerther Genauigkeit festgestellt. Auch öffentliche Aufrufe sind ohne Erfolg geblieben. Das ertrunkene Kind kann daher unmöglich eines von denjenigen sein, deren Geburt zur vorschriftsmäßigen Kenntniß der Hebammen und Küster gelangt war. Aber mußte es darum gerade das Kind der Angeklagten sein? Konnte es nicht von einem anderen unglücklichen Geschöpfe herrühren, welches sich zu dem verzweifelten Entschlusse gedrängt sah, den Zeugen seiner Schande für immer in den Fluthen zu begraben? Konnte das Kind nicht von einer durchreisenden Person herrühren? Pflegen nicht bei Kindern dieses Alters Gewicht und Maß ziemlich gleich zu sein? Sind Augenkrankheiten nicht bei neugeborenen Kindern eine ziemlich häufige Erscheinung? Sind blonde spärliche Haare bei Kindern so selten zu finden? Muß es nicht auffallen, daß jener Wasserwirbel die Kindesleiche vom 11. bis zum 16. Mai herumtrieb, ohne daß eine der zahlreichen auf der Brücke vorübergehenden Personen dieselbe bis dahin bemerkt haben sollte? Und vor Allem muß doch auch hervorgehoben werden, daß nicht der geringste Beweis dafür vorliegt, daß die Angeklagte überhaupt ihr Kind mit nach Halle gebracht hat.

Die Anklage lautete auf Mord; denn das Strafgesetz nimmt lediglich da einen nur mit zeitlicher Zuchthausstrafe bedrohten Kindesmord an, wo eine Mutter ihr nicht legitimes Kind entweder während der Geburt oder innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach derselben vorsätzlich um’s Leben bringt, weil es im letzteren Falle voraussetzt, daß die Mutter in Folge von Schmerz, Aufregung und Furcht vor Schande nicht bei voller Zurechnungsfähigkeit gewesen sei.

Es ist ein ergreifender Anblick, zu sehen, wie ein einzelner Mensch vor ernsten zweifelnden Richtern und gegenüber einer Beweislast, zu deren Aufbringung der Staat alle Kräfte aufgeboten bat, um sein Leben kämpft, und doppelt ergreifend ist dieser Kampf da, wo ein schwaches Weib ihn führt. Die Angeklagte führte ihn, wie schon erwähnt, mit einer Ruhe und Umsicht, welche in Erstaunen setzten. Beiläufig sei bemerkt, daß der Vertheidiger sich fast nur darauf beschränkte, einen kürzlich vorgekommenen Fall aus der englischen Schwurgerichtspraxis ausführlich mitzutheilen und im Allgemeinen die Behauptung aufzustellen, daß ein Schuldig überall da nicht ausgesprochen werden dürfe, wo sich doch möglicherweise die Sache noch anders verhalten könne, ohne daß er aber nach Maßgabe dieses Grundsatzes die Einzelnheiten des Falles der Reihe nach einer tiefer gehenden Prüfung unterzog. Nach kurzer Berathung sprachen die Geschworenen mit elf Stimmen gegen eine über die Angeklagte das Schuldig aus, und selbst bei dieser einen Stimme ist es zweifelhaft, ob sie aus principieller Abneigung gegen die drohende Todesstrafe oder aus Ueberzeugung von der Unschuld der Angeklagten zu deren Gunsten ausfiel. Jedenfalls ist dieses Stimmenverhältniß indeß ein Beweis für die Schwere der Verdachtsmomente, welche sich über ihrem Haupte zusammengethürmt hatten. Aber weder jetzt, noch als der Gerichtshof das Todesurtheil über sie aussprach, verlor die Angeklagte ihre Fassung; ohne ein Geständniß abgelegt zu haben, folgte sie ihrem Wärter in das Gefängniß und wird dieses nur verlassen, um entweder das Schaffot zu besteigen, oder, im günstigsten Falle eines Gnadenactes, auf Lebenszeit hinter Zuchthausmauern zu verschwinden.

Haben wir es nun hier mit einer betrogenen Unglücklichen oder mit einer verlogenen Mörderin zu thun? Ist der Beweis wirklich so vollständig erbracht, daß es die Frau Werther nicht giebt und nicht geben kann? Es sei fern von uns, den Händen der Justiz eine ihr verfallene Schuldige wieder entreißen zu wollen; aber es kommt uns darauf an, das Geheimniß aufzuklären, welches über der Sache zu schweben scheint. Noch lebt, noch athmet die Angeschuldigte; noch hat das Henkerbeil seine grausige Arbeit nicht gethan. Noch ist die Möglichkeit gegeben, vielleicht eine Unschuldige zu retten, vielleicht aber auch die Schuld einer Verbrecherin so klar hinzustellen, daß selbst der geringste Zweifel, welcher etwa in der Brust eines ihrer Richter bei der Abstimmung der Geschworenen sich regt, schwinden muß. Scheuen wir diesen letzten Versuch nicht! An der Existenz der geheimnißvollen Frau Werther hängt das Leben der Angeklagten; das Erscheinen derselben giebt der Angeklagten Leben und Freiheit wieder! Wohlan denn, dehnen wir die Nachforschungen, welche bisher nur auf den kleinen Umkreis von Leipzig und Halle beschränkt waren, über ganz Deutschland aus. Es war dies bis zur Urtheilsfällung unmöglich, weil die Gesetze es verbieten, bis zu diesem Augenblick den Inhalt von Untersuchungsacten zu veröffentlichen. Lebt eine Frau Werther, sei es auch unter anderem Namen, so wird unser Ruf sie sicher erreichen. Die „Gartenlaube“, welche in der Hütte des schlichten Arbeiters ein ebenso willkommener Gast ist wie in den Sälen der Reichen, wird diese Frau ausfindig zu machen wissen, wenn dieselbe nicht überhaupt blos die schlaue Erfindung einer durchtriebenen Verbrecherin ist; sie wird dann auch diejenige Mutter erreichen, deren Kind in den Wellen der Saale todt gefunden wurde, wenn diese nicht mit der Angeklagten eine und dieselbe Person ist. Mögen diese Frauen der Wahrheit die Ehre geben! Mögen sie offen auftreten und für die Angeklagte Zeugniß ablegen! Möge Jeder, welcher Auskunft zu geben vermag, dieses thun!

Es gilt ein Menschenleben!
J. Chop.