Textdaten
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Autor: Johannes Proelß
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Titel: Frau Ajas „Frohnatur“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 112–115
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Frau Ajas „Frohnatur“.

Goethes Mutter nach neueren Quellen
Von Johannes Proelß.

Frau Aja Wohlgemuth“ pflegte sich die Mutter Goethes in ihrem Alter gern zu nennen, wenn sie einmal der Heiterkeit ihres Herzens übersprudelnden Ausdruck gegeben hatte. „Liebe Mutter Aja“ – so klang die Anrede, wenn die Freunde ihres Sohnes, die alten wie die jungen, die vornehmen wie die geringen Standes, verwöhnte Fürstlichkeiten und verfahrene Sturm- und Dranggeister, sich an die Frau Rath mit Fragen, Bitten, Grüßen wandten oder es sich wohl sein ließen am „runden Tisch“ in der „blauen Stube“ des stattlichen Hauses „zu den drei Leyern“ auf dem Großen Hirschgraben zu Frankfurt a. M. – Woher diese Bezeichnung „Frau Aja“ für Goethes Mutter?

Goethe selbst, der beim Niederschreibeu der Erinnerungen „Aus meinem Leben“ lebhaft die Ferne beklagte, in welche die goldne Zeit der eigenen Jugend seinem Gedächtniß entrückt war, hat über den Namen eine unverständliche irrthümliche Auskunft gegeben. Wo er im 18. Buch von „Wahrheit und Dichtung“ den Besuch der Grafen Friedrich und Christian Stolberg in seinem Vaterhaus schildert und erzählt, wie die Mutter den jungen Brauseköpfen, als sie im überschäumenden Drang ihres Freiheitsgefühls gar ein Gelüsten nach „Tyrannenblut“ äußerten, den feurigsten und edelsten Wein aus ihrem Keller heraufgeholt habe – nur solches Tyrannenblut dürfe in ihrem Hause fließen! – hat er den Ursprung ihres Namens auf die italienische Bezeichnung für eine Hofmeisterin zurückgeführt. Er wußte nicht mehr, daß die gleiche Vorliebe für „altdeutsche Art und Kunst“, die ihn auf den Stoff des „Götz“, des „Faust“ gelenkt, den jungen Geistern damals diesen Namen in den Sinn gebracht hatte. „Frau Aja“ heißt in dem alten Volksbuch von den Haimonskindern die Mutter der heldenkühnen Neffen Karls des Großen. Als Frau Rath die Freunde ihres Sohnes mit feurigem 1712er bewirthete, da mußte sich ihnen unmittelbar der Vergleich ihrer Lage mit jener Scene in dem Volksbuch aufdrängen, wo die herrliche Haimonsmutter ihre als Pilger verkleideten Söhne mit dem besten Wein aus ihrem Keller bewirthet. Als das Ideal einer Mutter, die ihrem herangewachsenen Sohne die theilnehmendste Freundin, die tapferste Verbündete und eine „Wirthin wundermild“ ist, wurde Frau Rath gepriesen, da sie zum ersten Male „Frau Aja“ genannt ward.

Und als das Ideal einer im Beglücken des Sohnes glückseligen Mutter ist dem Bewußtsein unseres Volkes das Bild dieser Frau eingeprägt, der zu erleben vergönnt war, daß die Grundelemente ihres Wesens, ihre „Frohnatur“ und ihre „Lust zu fabulieren“, in dem Sohne fortwirkten und aufblühten als die bewegenden Kräfte eines weltbewegenden Dichtergeistes. So anziehend und lebensfrisch auch das Bild der jungen Elisabeth Textor war, das später Otto Müller in seinem Roman „Der Stadtschultheiß von Frankfurt“ auf Grund der Angaben in Bettinas „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde“ über die Mädchenzeit der Frau Rath entwarf, im Gedächtniß der Fachwelt lebt sie vor allem fort in der reifen Weiblichkeit einer Mutter. So hat der Sohn ihr Wesen festgehalten: als Dichter in der herrlichen Frauengestalt, die in „Hermann und Dorothea“ als Mutter Hermanns ihr poetisches Abbild ist, als Charakterzeichner in den Kapiteln aus „Wahrheit und Dichtung“, die ihrer ausführlicher erwähnen.

Aber erst seit der Erschließung des Goetheschen Familienarchivs in Weimar, die vor wenigen Jahren nach dem Tod seines überängstlichen Hüters, des letzten Enkels von Goethe, erfolgte, ist uns Frau Aja wieder ganz lebendig geworden, dank den zahlreichen Briefen von ihrer Hand, die dort verborgen waren. Da erschienen 1885 zum ersten Male in authentischer Form ihre Briefe an die Herzogin Anna Amalie, die Mutter Karl Augusts, und vier Jahre später die „Briefe an ihren Sohn, Christiane [113] und August von Goethe“. Im Herbst des vorigen Jahres endlich ist in der auf die Schätze des Goethearchivs gegründeten Neuausgabe der Werke des Dichters eine Schrift zu Tage getreten, welche den stark angezweifelten historischen Werth der oben erwähnten Bettinabriefe in einer Weise außer Zweifel stellte, wie sie kaum noch erhofft und erwartet wurde. Es ist nun erwiesen, daß die Briefe, welche der „Briefwechsel mit einem Kinde“ von und über die Mutter Goethes enthält, echt sind, daß sie wirklich auf Veranlassung des Dichters geschrieben wurden, der, als er an seine Selbstbiographie ging, sich an die junge Frankfurterin Bettina Brentano mit der Bitte um ihre Hilfe wandte, da sie ja der Mutter eigenstes Wesen, ihre Märchen und Geschichten, ihre Eigenheiten und Eigenschaften aus jugendfrischem Gedächtniß darstellen könne.

Diesem Wunsche entsprach das kluge, den Dichter schwärmerisch verehrende Mädchen mit treuem Fleiße und mit der ihr eigenen Begabung lebendig stimmungsvoller Schilderung. Die zahlreichen Blätter unterwarf dann Goethe einer Bearbeitung mit der Absicht, sie im Zusammenhang unter dem Titel „Aristeia der Mutter“ der Selbstbiographie einzufügen. Aristeia – so nannte Homer die Gesänge, welche der besondern Verherrlichung eines Helden galten. So sollte die „Aristeia der Mutter“ Zeugniß geben, „wie die Mutter einst sich herrlich hervorgethan hat unter den Frauen“. Die Ausführung dieses Vorhabens unterblieb. Erst jetzt sind die Kapitel ans Licht getreten. Und nunmehr gewinnt auch neben dem Bild der Mutter Goethes aufs neue das Mädchenbild der Tochter des ehrenfesten Frankfurter Stadtschultheißen Johann Wolfgang Textor bedeutsame Geltung.

Die Familie Goethe.
Nach dem im Besitze von Herman Grimm befindlichen Gemälde von J. K. Seekatz.

Die romantische Liebe der jungen Frankfurter Schulzentochter für den unglücklichen schwermüthig schönen Kaiser Karl VII., dessen Krönung sie als elfjähriges Mädchen mit hatte anwohnen dürfen und der in den folgenden Jahren als ein Flüchtling in seiner getreuen Krönungsstadt weilte, darf nun auch vom Historiker zu ihrer Charakteristik verwandt werden. Und gleichgültig für das Werden des Goetheschen Genius ist es wahrlich nicht, daß seiner Mutter tiefstes Herzenserlebniß eine solche selbstlose Hinneigung zu einem unerreichbar über ihr Stehenden war. Die uneigennützige, muth- und begeisterungsvolle Mädchenliebe, die ihr Sohn später in dem Klärchen seines Egmont gefeiert hat, war als Knospe auch in dem Herzen lebendig, das seinem Gemüthsleben die Eigenart mitgab. Ist es nicht ein diesem Klärchen verwandtes Bild, das vor uns aufersteht, wenn wir bei Bettina und jetzt in der „Aristeia“ als Bekenntniß der alten Frau Rath lesen: „Da er einmal offne Tafel hielt, drängte ich mich durch die Wachen und kam in den Saal anstatt auf die Galerie; es wurde in die Trompeten gestoßen, bei dem dritten Stoß erschien er in einem rothen Mantel, den zwei Kammerherren abnahmen; er ging langsam mit gebeugtem Haupt. Ich war ihm ganz nah und dachte an nichts, noch daß ich auf dem unrechten Platze wäre; seine Gesundheit wurde von allen anwesenden großen Herren getrunken, und die Trompeten schmetterten dazu, da jauchzte ich laut mit, der Kaiser sah mich an und nickte mir.“

„Sie sagte mir,“ schließt Bettina ihren Bericht, „daß sie’s zum ersten Male in ihrem Leben erzähle; das war ihre erste rechte Leidenschaft und auch ihre letzte.“

Das früh entwickelte Mädchen, das von ihren Schwestern schon vorher wegen ihres eigenartigen Wesens, ihrer Vorliebe für Märchenpoesie und künstlerischen Zeitvertreib „die Prinzeß“ genannt wurde, war damals vierzehn Jahre alt. Ein Jahr später starb der Kaiser in München und sein Tod hinterließ ein „weihevolles Gefühl innigster Verehrung und Liebe“ in ihrer Seele. Zwei weitere Jahre gingen hin und Elisabeth reichte die Hand zum Lebensbund dem kaiserlichen Rath Johann Kaspar Goethe, einem fast vierzigjährigen Manne von Charakter und Ansehen und ruhigem Wesen, dem Wunsche der Eltern folgend, „ohne viel nachzudenken“. Und wieder ein Jahr darauf ward ihr Sohn, ihr ältester, der später ihr einziger blieb, Johann Wolfgang Goethe, geboren. Wenn wir lesen, was Frau Aja als Greisin der jungen Brentano von der Entstehung jener frühesten Herzensneigung gebeichtet, die in ihrem Herzen als „etwas Großes“ aufging, wie sie den bleichen Kaiser mit den melancholischen dunklen Augen im Dome hatte beten sehen – so theilt sich uns die Empfindung mit: nicht nur die „Frohnatur“ und die „Lust zu fabulieren“ hat Deutschlands größter Dichter von seiner Mutter geerbt, sondern auch die Großartigkeit des Empfindens, die alles Kleinliche abwies, jenen Zug zur Hingabe an das Bedeutende, welche das Geheimniß seiner Größe als Dichter ist.

Nun da wir neuerdings auch über eine sorgfältige biographische Zusammenstellung all der Zeugnisse über ihr Leben und Wesen verfügen, wie sie auf Grund des gekennzeichneten neuen Materials und kleinerer Beiträge Karl Heinemann in dem Buche „Goethes Mutter“ (Verlag von A. Seemann in Leipzig) hat erscheinen lassen, nun läßt sich leicht nachweisen, wie dieser Zug zum Großen den eigentlichen Grundton der vielgerühmten „Frohnatur“ von Frau Aja gebildet hat. All die kleinlichen Bedenken, welche die Mehrzahl der Menschen verhindern, [114] sich so zu geben, wie sie sind, und in sich das zu entwickeln, was sie als echt und tüchtig empfinden, waren ihrer starken Seele fremd, die in frohem Aufblick zu dem Gotte, der sie geschaffen, auch nur so sich zeigen wollte, wie er sie geschaffen. Frau Aja selbst hat ihre Eigenart auf das „ungefälschte und starke Naturgefühl“ zurückgeführt, „das ihre Seele vor Rost und Fäulniß bewahrt“. „Doch da mir Gott die Gnade angethan, daß meine Seele von Jugend auf keine Schnürbrust angekriegt hat, sondern daß sie nach Herzenslust hat wachsen und gedeihen, ihre Aeste hat weit ausbreiten können und nicht wie die Bäume in den langweiligen Ziergärten zum Sonnenfächer ist verschnitten und verstümmelt worden; so fühle ich alles, was wahr, gut und brav ist, mehr als vielleicht tausend andere meines Geschlechts …“

Derselben einfach großen Auffassung von Gott, Natur und Menschenthum entsprang ihre Fähigkeit, die anderen Menschen zu nehmen wie sie sind und nach ihren guten Eigenschaften zu beurtheilen. „Ich habe die Menschen sehr lieb – und das fühlt alt und jung, gehe ohne Prätension durch diese Welt und das behagt alten Evassöhnen und -töchtern – bemoralisiere niemand – suche immer die gute Seite auszuspähen – überlasse die schlimme dem, der den Menschen schuf und der es am besten versteht, die scharfen Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“

Diese ihre „Methode“ darf aber keineswegs verwechselt werden mit jener bequemen Moral, die voll satten Behagens die Hände im Schoße ruhen und den lieben Herrgott einen guten Mann sein läßt. Als unermüdliche, rüstig überall selbst zugreifende Hausfrau und Mutter hat sie bis ins hohe Alter jeden Tag ein reichlich Tagewerk verrichtet und darüber nie die Kunst verlernt, sich und ihren Lieben, so weit es möglich, „ein hübsches Leben zu zimmern“. Wohlzuthun und mitzutheilen – das war ihr höchster Genuß. „Ordnung und Ruhe,“ schrieb sie an Frau von Stein, „sind die Hauptzüge meines Charakters; daher thu’ ich alles gleich frisch von der Hand weg, das Unangenehmste immer zuerst, und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rath des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lang zu begucken; liegt dann alles wieder in den Falten, ist alles Unebene wieder gleich, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“

Daher ist alles Sorgen und Bangen um das Ungewisse ihr ebenso zuwider wie jedes Heuchlerthum; alle konventionelle Lüge ist ihr eitel „Schnickschnack“ und das ewige Geklage über die Schlechtigkeit der Welt bei so vielen Menschen, „die es ganz gut haben könnten“, ist ihr ein Greuel. „Mit Murren und Knurren bringt’s niemand um ein Haar weiter, und das Schicksal dreht seine Maschinen, ob wir lachen oder weinen,“ das ist so eine echte Frau Aja-Stelle, und der Spruch im „Götz“: „Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden“ ist ihr aus der Seele geschrieben. Darum beklagt sie die Menschen, die sich „das arme Bißchen von Leben so blutsauer machen, ohne daß das Schicksal im geringsten daran schuld ist.“

„In der Ungenügsamkeit, da steckt der ganze Fehler.“ Sie suchte umgekehrt dem Tag, der Stunde zu genügen und war darum befähigt, das Gute, das diese jeweils brachten, dankbar zu genießen. So zeigte sie sich jeder Widerwärtigkeit wie jeder frohen Ueberraschung in gleichem Grade gewachsen. Keine Ehre, womit sie das spätere Leben so reichlich bedachte, brachte sie in Verlegenheit; keine Heimsuchung – und das Schicksal ließ sie von jeder Art kosten – raubte ihrer Seele das Gleichgewicht. Die Herzensfrische, mit der sie an die Herzogin Anna Amalie von ihrem Leben und Treiben schreibt, gewinnt durch die Fassung in gestelzte Wendungen höfischer Höflichkeit nur an Wirkung: so grüßt uns die frische freie Waldesluft, wenn sie uns durch die verwitterten Bogen eines zopfigen Parkthors entgegenströmt. Frau Aja läßt der Fürstin keinen Zweifel, daß es nur der menschliche Werth ist, den sie an ihr verehrt. Als einmal die Herzogin die Vermuthung ausspricht, der Zusammenstrom vieler anderer Fürstlichkeiten in Frankfurt werde ihr kaum noch Interesse übrig lassen für Nachrichten vom Weimarer Hofe, antwortet sie: „Durchlauchtigste Fürstin! 0 Alle Kaiser, Könige, Churfürsten im ganzen Heiligen Römischen Reich können meinetwegen kommen und gehen, bleiben und nicht bleiben, wie’s die Majestäten und Hoheiten für gut finden, das kümmert Frau Aja nicht das geringste, macht ihr Herz nicht schwer – Essen, Trinken, Schlafen geht bei der guten Frau so ordentlich seinen Gang, als ob nichts vorgefallen wäre. Aber dann geht es aus einem ganz andern Ton, wenn so eine Freudenpost (aus Weimar) kommt; ja, da klopft’s Herz ein bißchen anders …“

Umgekehrt, wenn Einsamkeit, Krankheit, Sorge sie quälten, zeigte sie sich keineswegs bereit, vor dem Unglück die Waffen zu strecken. Da kam ihr die „Lust zu fabulieren“ zu Hilfe, die sie in ursprüglicher Kraft besaß; die malte ihr tausend Wege zum Besseren aus. „Doch Geduld, es hat sich in meinem Leben schon so manches Wunderbare zugetragen, das am Ende immer gut war, daß ich gewiß hoffe, man spielt jetzt am 4. Akt, der 5. ist nahe, es entwickelt sich und geht alles brav und gut.“

Es hat sich in neuerer Zeit die Fabel gebildet, Goethe habe es leicht gehabt, in Kunst und Leben voran zu kommen, da er ein reicher Frankfurter Patriziersohn gewesen sei, dem die Laufbahn geebnet war. Und auch seiner glücklichen Mutter wird nachgesagt, daß eine so vom Schicksal bevorzugte Frau keine besondere Kunst nöthig gehabt habe, um sich als Meisterin des Glücks zu bewähren. Das gerade Gegentheil ist aber der Fall. Ihre gesunde Frohnatur hat erst im läuternden Feuer des Unglücks ihre Geschmeidigkeit und Widerstandskraft gewonnen. Ihrer Ehe mit dem viel älteren, ernsten und strengen Rath Goethe fehlte von vornherein das Glück der echten vollen Liebe. Und welche Schmerzen hat sie auch als Mutter durchlebt! Sechs Kindern gab sie das Leben, drei Knaben und drei Mädchen; vier davon starben früh, aber doch nicht eher, als bis ihr herziges Dasein der Mutter ein Besitz geworden war, dessen Verlust sie aufs tiefste erschüttern mußte. Was dann die beiden überlebenden betrifft, Wolfgang und Kornelie, so hat ihr Erstgeborner, ihr „Hätschelhans“, der ihr später so stolzes Glück bereiten durfte, in seiner Kindheit und Studentenzeit ihr unendlich viel Sorgen gemacht, während die Tochter mit früh verdüsterter Seele ihrer Frohnatur den Widerhall versagte, nach dem sie so sehnlich verlangte.

Und in diesem Schicksal spiegelte sich der Zwiespalt, in dem sie sich mit dem Gatten überhaupt befand. „Kinder brauchen Liebe“, dieser schöne Spruch Lessings war Anfang und Ende ihrer Erziehungskunst; Zucht und Strenge war dagegen der leitende Gesichtspunkt des grämlichen Mannes, der mit aller Gewalt die Nutzanwendung eines verfehlten Lebens seinen Kindern zu gute kommen lassen wollte. Der Titularrath Goethe war keineswegs ein Patrizier, sondern eines reichen Handwerkers Sohn. Er hatte sich umsonst um ein städtisches Amt beworben; der kaiserliche Rathstitel war jetzt ein Schild, das nach außen hin ein Leben deckte, dessen reiche Kräfte sich in keinem Amt und Beruf ausleben konnten. Gelehrte Liebhabereien mußten ihm einen Ersatz bieten, und als die Kinder heranwuchsen, erhob er ihre Erziehung zum Beruf. Dabei entwickelte sich jener Gegensatz der Eltern zum ungesunden Extrem; wo der Vater durch Zwang vorgesetzte Ziele zu erreichen trachtete, wollte die Mutter nur dem freien Wachsthum der Natur fördernd und hütend nachhelfen. Er gehörte zu „jenen unfrohen Naturen, die den Genuß des Lebens als etwas Strafbares ansehen“, Frau Aja betrachtete den freudigen Genuß des Lebens als den menschenwürdigsten Gottesdienst. Nach welch pedantisch herzlosen Grundsätzen der alte Rath seinen Sohn erzog, erhellt zur Genüge aus dem einen Beispiel, daß dieser als Student in Leipzig auf Befehl des Vaters seiner Mutter nicht schreiben durfte. Diese Methode, aus der sich auch sein Geiz dem Sohn gegenüber erklärt, brach der Tochter Kornelie den jungen Lebensmuth in seiner ersten Entfaltung; sie wurde ein in sich gekehrtes, altkluges, freudloses Mädchen. Den feurigen Sohn machte sie zum Rebellen im Vaterhaus, und ohne die Mutter wäre es mehr als einmal zum völligen Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen. Als „Götz“ und „Werther“ den Namen Goethe zu einem gefeierten machten, konnte der Sohn die Rechnungen für den Druck dieser Bücher nur mit heimlich geliehenem Gelde bezahlen, und der Vater jammerte, weil er seine Advokatenpraxis vernachlässigte. Was hatte Frau Aja in all den Zeiten zu vermitteln, auszugleichen, mit heiterem Wort und weicher Hand zu glätten und zu mildern! und dann kam das lange Siechthum des früh gealterten, vom Schlage gerührten Mannes!

Wie sehr die Verhältnisse im Goetheschen Vaterhause geeignet waren, den Lebensmuth auch einer starkherzigen Frau zu beugen, das wird uns nun erst recht klar, da wir in Heinemanns Buch alles im Zusammenhang dargestellt finden. Erst jetzt zeigt sich, in welch’ hohem Grade die fröhliche Lebensweisheit der Frau Aja erkämpft, einer Welt schmerzlicher Erfahrungen abgerungen war. Es zeigt sich ferner, daß sie ebenso in der späteren Zeit, in der sie in freier Selbständigkeit ihr Witwenleben gestalten konnte und an den Triumphen und Dichterthaten ihres Sohnes eine Quelle [115] überschwänglichen Glückes hatte, nur einer bewundernswürdigen Selbstbeherrschung den Frohsinn verdankte, der ihr Dasein verklärte. In der langen langen Zeit ihrer Witwenschaft hat sie der Sohn nur dreimal besucht! Und wie hat sich ihr Herz in all diesen Jahren nach ihrem herrlichen Wolf gesehnt, wie ist sie aufgegangen in ihm und eingegangen mit feinstem Verständniß in all sein Thun und Beginnen.

Aber auch diese Wehmuth der Einsamkeit vermochte sie mit ihrer tröstenden Philosophie in die Flucht zu schlagen: „Alle Freuden, die ich jetzt genießen will, muß ich bei Fremden, muß ich außer dem Hause suchen – denn da ist’s so still und öde, wie auf dem Kirchhof – sonst war’s freilich ganz umgekehrt. Doch da in der ganzen Natur nichts an seiner Stelle bleibt, sondern sich in ewigem Kreislauf herumdreht – wie könnte ich mich da zur Ausnahme machen – nein, so absurd denkt Frau Aja nicht. Wer wird sich grämen, daß nicht immer Vollmond ist, und daß die Sonne jetzt nicht so warm macht wie im Julius – nur das Gegenwärtige gut gebraucht und gar nicht dran gedacht, daß es anders sein könnte; so kommt man am besten durch die Welt – und das Durchkommen ist doch (alles wohl überlegt) die Hauptsache.“

Goethes bekannte „Lebensregel“

„Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Mußt dich ums Vergangne nicht bekümmern,
Das Wenigste muß dich verdrießen;
Mußt stets die Gegenwart genießen,
Besonders keinen Menschen hassen
Und die Zukunft Gott überlassen –“

hat nur in Verse gefaßt, was seine Mutter hier und immer aufs neue als ihres Lebens Regel verkündigt hat. Und so finden wir die Frohnatur der Mutter wieder und wieder zu ewigem Leben verdichtet in der frohen Kunst des Sohnes. Aber wäre diese Frau auch nicht die Mutter des großen Dichters gewesen, die Zeugnisse ihres Lebens würden trotzdem ihre bleibende Bedeutung haben. Andere haben sich „lachende Philosophen“ genannt, aber ihr Lachen war ein gezwungenes, vom Verstande erpreßt: Frau Aja wollte keine Philosophin sein, hat keine Bücher über die Kunst zu leben geschrieben und doch war sie voll echter Lebenskunst und Lebensweisheit, eine lachende Philosophin, deren Lachen von Herzen kam und darum auch herzhaft klang, das mit seiner ansteckenden Kraft berufen ist, noch in vielen Seelen widerzuklingen und gute Dinge auszurichten.

Dem reich ausgestatteten Heinemannschen Buche, an welchem nur zu bedauern bleibt, daß der schöne, sorgfältig gesammelte und geordnete Stoff in ihm keine abgerundetere Gestaltung gefunden hat, verdanken wir auch die Kenntniß des Familienbildes, das Rath Goethe im Jahre 1762 von seinem Freunde, dem Darmstädter Seekatz, hat malen lassen. Auch dieses Bild ist durch Bettina von Arnim der Nachwelt erhalten worden und hat erst neuerdings die Beglaubiguug seiner Echtheit erfahren, Bettinas Schwester, Meline von Guaita, erstand es nach dem Tode der Frau Rath für Bettina, aus deren Nachlaß es in den Besitz ihres Schwiegersohnes Herman Grimm überging. Erst seit kurzem besitzen wir Zeugnisse dafür, daß dies Bild wirklich die Familie des Kaiserlichen Rathes Johann Kaspar Goethe darstellt, was die arkadische Tracht und die nach Italien verweisende landschaftliche Staffage zweifelhaft gemacht hatten. Erstere aber entsprach dem Geschmack der Zeit und des Malers, letztere der Vorliebe für Italien, die der junge Goethe ja von seinem Vater geerbt hatte. Auf große Aehnlichkeit hat dies einzige auf uns gekommene Bild der jungen „Frau Rath“ wohl wenig Anspruch zu machen, aber in Haltung, Gebärde und Ausdruck finden wir doch lebensvoll jenen Geist ursprünglicher innerer Sicherheit und Empfindungskraft verkörpert, mit welchem Frau Aja in Glück und Unglück allezeit ihrer Frohnatur die Treue gehalten hat.