« XV Flucht in die Finsternis XVII »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[148]
XVI

Die Mittagsglocken läuteten durch die Stadt, während Robert auf dem kürzesten Weg zu Paula eilte. Sie schien erstaunt, sogar ein wenig erschrocken, als sie ihn zu so ungewohnter Stunde in ihr helles Zimmer treten sah. Der heitere Ausdruck, den er seinen Mienen zu verleihen gewußt hatte, beruhigte sie sichtlich, und er erkannte sofort, daß sie wenigstens noch nicht vor ihm gewarnt worden war. Für diesen Fall war er entschlossen gewesen, ihr sofort zu eröffnen, welch unheilvoller Wahn seines Bruders Geist umfangen hielt; nun durfte er damit noch zuwarten und konnte im übrigen seinen Einfall von gestern für seine Zwecke weiter nutzen. Er umarmte sie zärtlich, und in einem leidenschaftlichen Ton, der ihr nicht ungewohnt war, fragte er sie: „Könntest du dich entschließen, mit mir fortzufahren?“ – „Fort?“ – „Nur für ein paar Tage. Aufs Land.“ – „Aufs Land? Mit – mit dir allein?“ – „Ja, mit mir allein, mit mir ganz allein.“ Er zog sie an sich. – „Ja, was ist denn geschehen?“ fragte sie mit großen Augen. – „Vorläufig nichts. Ich habe dir doch gestern erzählt, daß der Amerikaner hier ist. Heute kann ich dir mehr [149] sagen. Er ist um meinetwillen hier.“ – „Um deinetwillen, was soll das bedeuten?“ – „Nichts anderes, als daß er Schlimmes im Schilde führt.“ – „Schlimmes …? Ich verstehe dich nicht.“ – „Gestern nacht, als ich grade ins Tor meines Gasthofs treten wollte, sah ich ihn gegenüber im Schatten der Kirche umherschleichen. Er hat mir aufgelauert, zweifellos. Du wirst fragen warum? Die Sache ist so einfach wie möglich. Eifersucht. Nachträglich erwachte Eifersucht.“ – „Woraus schließt du aber –? Ist denn auch Alberta hier?“ – „Das – das weiß ich nicht. Ich glaube es nicht recht. Wahrscheinlich ist sie drüben geblieben. Vielleicht hat er sie längst umgebracht.“ – „Umgebracht?“ Sie starrte ihn an. – Er erwiderte sachlich: „Warum nicht? So was kann sich ja ereignen, ohne daß es irgendwer erfährt oder auch nur vermutet. Übrigens kommt das für uns nicht in Betracht. Wir wollen annehmen, daß sie lebt.“ Er lachte. „Für mich, und wie ich hoffen möchte auch ein wenig für dich, ist nur wesentlich, daß er da ist und es auf mich abgesehen hat. Heut nacht bin ich ihm entkommen, es ist mir gelungen, ins Tor hineinzuschlüpfen, ohne daß er mich bemerkt hat. Die halbe Nacht ist er unten hin und her spaziert – vielleicht noch länger, ich weiß nicht, denn ich habe mich endlich schlafen gelegt.“ – „Und heute morgen?“ – „War er nicht zu sehen. Vorläufig. Und er denkt sich, [150] daß ich ihm doch nicht entwischen kann. Aber darin soll er sich irren. Ich reise ab. Und du begleitest mich.“

Er faßte sie ins Auge, sie nickte nur. „Von der Reise aus leite ich alles Weitere ein. Das wird nicht sonderlich schwer sein. Aber auf ein paar Tage oder Wochen will ich von hier verschwinden, denn es wäre doch lächerlich, sich einem Irrsinnigen auszuliefern. Oder hältst du das etwa für Feigheit?“ – „Was fällt dir ein.“ – „Und du mußt mit, Paula, du mußt mit mir kommen. Deiner Mutter darfst du es natürlich nicht vorher sagen. Du schreibst ihr ein Wort vom Bahnhof aus, das genügt. – Nun, Paula, warum antwortest du nicht? Reut es dich doch –?“ – „Was sollte mich reuen?“ – „Daß du mir versprochen hast, mit mir zu reisen. Sprich nur, gesteh. Jetzt regen sich doch gewisse bürgerliche Bedenken –?“ – „Was fällt dir ein, Robert! Ich denke nur –“ – „Was denkst du?“ – „Ob es nicht klüger wäre, richtiger meine ich, wenn man versuchte, die Sache hier, an Ort und Stelle, in Ordnung zu bringen.“ – „In Ordnung bringen? Wie stellst du dir das vor? Ich habe keine Zeit zu verlieren, und von dem, was ich dir jetzt anvertraut habe, darf niemand ein Wort erfahren, das könnte uns beiden das Leben kosten. Ja, dir auch. Verlaß dich nur ganz auf mich. Es ist alles wohlerwogen. Ich erwarte dich auf dem Westbahnhof. [151] Punkt sechs Uhr fährt unser Zug. Du mußt nicht viel mitnehmen. Um zehn Uhr abends kommen wir in dem Ort an, den ich vorläufig als Zuflucht gewählt habe.“ – „An welchem Ort?“ – „Sei nicht böse, wenn ich ihn nicht nenne. In der Zerstreutheit könntest du dich verraten. Vielleicht ist es auch Aberglaube. Du mußt es mir zugute halten, Paula. Schwör mir nur, daß du zur festgesetzten Stunde auf der Bahn bist, sonst ist alles umsonst. Ohne dich bin ich verloren. Auf jeden Fall. Das ist mein untrügliches Gefühl. Wenn du nicht dort bist, ist alles aus. Und – wenn du nicht allein kommst, auch. Versteh mich gut. – Also du bist auf der Bahn und wirst keiner Menschenseele eine Silbe verraten. Niemandem, Paula, niemandem.“

Er wollte hinzufügen: auch meinem Bruder nicht – aber er ließ es sein. „Also, wirst du dort sein?“ – „Natürlich werde ich dort sein.“ Sie stand vor ihm, totenblaß und mit einem verzerrten Lächeln. Aber er merkte nicht, daß ihre Züge sich so seltsam verändert hatten.

„Nun, so ist alles gut“, sagte er. „Und nun will ich fort, mein Geliebtes.“ – „Schon fort?“ wiederholte sie mit schwankender Stimme. – „Ich habe doch noch allerlei zu besorgen“, meinte er, „wenn es sich auch nur um eine Reise von ein paar Tagen handelt – also du mußt mich entschuldigen.“ Er erhob sich, [152] sie hielt seine Hände fest. „Soll ich dich nicht ein Stück Wegs begleiten?“ – „Ich danke dir, Liebste, bleib nur daheim und benutze die Zeit lieber, um deine Sachen zusammenzurichten. Viel brauchst du natürlich nicht mitzunehmen auf die Reise; auf die Hochzeitsreise“, fügte er leise hinzu, sie heftig an sich ziehend. Er fühlte sie in seinen Armen ein wenig zittern und nahm es für bräutliche Erregung. „Auf Wiedersehen“, sagte er dann, küßte ihre kühlen Lippen, und mit einem vergnügten Nicken, als wäre das Ganze ein Spaß gewesen, verließ er das Zimmer.

Er eilte die Treppen hinunter, in Angst, daß sie ihm nachrufen könnte; und auch auf der Straße schlug er einen raschen Schritt ein. Wird es wirklich nur auf Tage sein? fragte er sich. Halte ich es denn für möglich, daß Otto einfach durch die Tatsache meines Verschwindens wieder zur Vernunft kommen könnte? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß er meine Abreise als ein neues Zeichen in seinem Sinn deutet, daß er meinen Aufenthalt zu entdecken sucht, mich verfolgt oder verfolgen läßt und am Ende – findet?! Nein, das wird er nicht. Ich werde schlauer sein als er. Finden sollen sie mich nicht! Wie wär’s, wenn ich einen Selbstmord vorspiegelte? Kein übler Einfall. Doppelselbstmord. Ich und Paula. Wir lassen einen Brief zurück … wie man es in solchen Fällen zu tun pflegt. Man würde sich nicht [153] einmal sonderlich wundern. Niemand. Der Baron Prantner gewiß nicht. Auch Herr Kahnberg nicht. Und Otto am wenigsten. Er würde seine fixe Idee nur bestätigt finden. Ich hätte ihm eine Mühe erspart. So würde er sich die Sache zurechtlegen. Und er wäre der Sieger. Der Sieger? Ist es denn ein Kampf? Wollen wir einander denn überlisten? Ich muß es anders anstellen. Beweisen, ja beweisen muß ich seinen Wahnsinn. Ja. Darauf kommt es an. Sonst habe ich ja keine Ruhe mehr in der Welt. Wir können uns nicht auf Lebenszeit verstecken, Paula und ich. Das wäre freilich das Schönste. Verschwinden, ein neues Leben beginnen, anderswo, unter einem anderen Namen womöglich – als ein anderer Mensch. Ja, wenn das durchzuführen wäre!

Er stand vor dem Bankgebäude, wo der Rest seines kleinen Vermögens verwahrt lag, trat ein, ließ sich eine größere Summe ausfolgen und redete zu dem Beamten, der ihm persönlich bekannt war, in humoristisch-geheimnisvoller Weise von einer finanziellen Transaktion, die er vorzunehmen gesonnen sei. Er steckte das Geld zu sich, nahm eilig das Mittagmahl in einem kleinen Wirtshaus, das er vorher niemals betreten hatte, und vor zwei Uhr nachmittags war er in seinem Gasthof. Der Portier teilte ihm mit, daß ein Herr nach ihm gefragt habe, ohne eine Karte zu hinterlassen. Die oberflächliche Schilderung [154] paßte am ehesten auf August Langer; auffallend war, daß, nach dem Bericht des Portiers, in einiger Entfernung ein zweiter Herr in einem Wagen gewartet hatte. War es so weit –? Er eilte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Er zweifelte nicht daran, daß alles vorbereitet war, ihn zu vorläufiger Beobachtung in eine Anstalt zu bringen. Damit wäre sein Schicksal natürlich besiegelt. Jedenfalls war es Torheit, noch eine Viertelstunde länger hier zu verweilen, wo er seiner Freiheit, vielleicht seines Lebens nicht mehr sicher war. Er mußte den Gasthof sofort verlassen, wie zu einem Spaziergang, und mit einem früheren Zug abreisen, als er mit Paula verabredet hatte. Er steckte die allerwichtigsten Papiere zu sich, verschloß seine Schränke, verließ das Zimmer zehn Minuten, nachdem er es betreten, zündete sich in der Toreinfahrt eine Zigarette an und schlenderte langsam davon.

In einer entfernteren Straße nahm er einen Wagen, besorgte auf dem Weg zur Bahn allerlei, was er für die nächsten Tage benötigte, auch eine Reisetasche, in die er das Eingekaufte packte, und war eine Viertelstunde vor Abgang des Dreiuhrzuges auf dem Bahnhof angelangt. Im Wartesaal warf er einige Zeilen für Paula aufs Papier. Aus Gründen, die er ihr erst mündlich auseinandersetzen könne, sei er schon einige Stunden früher abgefahren. Sie aber solle zur [155] verabredeten Zeit Wien verlassen. Er wolle sie um zehn Uhr abends in der Station, die er ihr nun nenne und die sie bei Gefahr des Lebens niemandem verraten dürfe, erwarten. Er schloß mit den Worten: „Ich habe nicht Zeit, mehr zu schreiben. Du weißt alles. Laß mich nicht vergeblich warten. Geliebte, ich beschwöre dich nur, sei verschwiegen, mein, unser Leben steht auf dem Spiel.“ Durch den Kutscher, der ihn an die Bahn geführt hatte, ließ er den Brief an Paula befördern. Und ein paar Minuten darauf saß er im Zug.

« XV Flucht in die Finsternis XVII »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.