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[156]
XVII

An diesem grauumzogenen Dezembertage dunkelte es früh. Kaum war der Zug über die Vorstädte und die kleinen Villenorte hinausgeflogen, so setzte ein leichter, allmählich dichter werdender Schneefall ein, so daß Wald, Hügel, Landstraße und Dächer bald in einem linden, herzberuhigenden Weiß schimmerten. Robert hatte sich Zeitungen gekauft, und allein in seinem Abteil, versenkte er sich in Nachrichten von nah und fern, die ihm so gleichgültig waren, daß er bald über ihnen einschlummerte.

Als er wieder zu sich kam, glitt der Zug durch ein enges Felsental. Der Flockenfall hatte aufgehört, und von dem starren Schnee, der auf den sanfteren Hängen und über dem Nadelholz liegengeblieben war, zeigte der Abend sich wunderbar erhellt. Bald traten die Felsen so eng zusammen, daß das Brausen der Ache aus der Tiefe vielfach verstärkt heraufdrang. Dort, wo die Berge zurücktraten, war der blaue Winterhimmel ausgestirnt und weitgespannt zu erschauen. Als der Zug ein paar Minuten in einer Station hielt, öffnete Robert das Fenster. Die Luft war kalt und erfrischend, die Stille tröstlich und gut. Die Seltsamkeit [157] seiner Reise kam Robert zu Bewußtsein. Ob es am Ende wirklich nur eine Reise war? Ob das, was er als Flucht geplant und unternommen, nicht bestimmt sein konnte, als Vergnügungsfahrt zu enden? Ein letztes Mal regte sich die Hoffnung in ihm, daß er sich vielleicht doch getäuscht hätte, daß sein Bruder nicht wahnsinnig war, daß alles gut enden werde, daß er selbst in die Lage kommen könnte, Paula gegenüber seine Geschichte von dem eifersüchtigen Amerikaner als ein Märchen auszugeben, zu dem Zweck erdacht, um der Geliebten die Zustimmung zu einer vorzeitigen Hochzeitsreise zu entlocken. Doch das dauerte nicht lange. Eine so trügerische Beruhigung, die ihm gewiß nur aus einer Erschlaffung seiner Nerven kam, war er verpflichtet abzuweisen, da sie doch nur eine neue Gefahr bedeutete. Er erinnerte sich des heutigen Morgens, des letzten Blicks aus den Augen seines Bruders, und er wußte, daß er sich auf einer Flucht befand.

Der Zug hielt in dem kleinen Marktflecken, den Robert in der Erinnerung einiger mit Alberta hier verbrachter Sommertage als vorläufigen Aufenthaltsort gewählt hatte. Nun, da er das langgestreckte Dorf, das er sich auch auf der Herreise immer nur im frischen Grün und in Sommerfarben vorzustellen vermocht hatte, winterlich verschneit vor sich liegen sah, war ihm, als empfange ihn eine ganz andere, eine [158] fremde, nie vorher geschaute Gegend. Er überließ einem Lohndiener seine Tasche und folgte ihm über eine Brücke, unter der die Ache rauschte, durch eine längs des Wassers hinführende Allee, deren er sich aus jenem Sommer wie eines hohen, schützenden Baumganges erinnerte, endlich durch einen Torbogen, unter dem aus einer schmiedeeisernen Laterne ein mattes, gelblichrotes Licht schimmerte, auf den verlassenen Hauptplatz mit dem schweigenden Brunnen, zum Gasthof hin. Ein großes Zimmer wurde ihm angewiesen, dessen hohes Bogenfenster dem blaßleuchtenden Gebirge zugewandt war. Über der alten Kommode an der Wand hing in Öldruck lebensgroß ein Madonnenbildnis. Zu beiden Seiten des breiten Bettes sanken bescheidene Kattunvorhänge nieder. Robert erklärte sich mit dem Zimmer einverstanden und bemerkte, daß seine Gattin mit dem nächsten Zug, abends um zehn Uhr, eintreffen werde. Die Glühlampe, die von der Decke herabhing, leuchtete so schwach, daß er sich genötigt sah, Kerzen zu verlangen. Man stellte sie ihm in zwei Messingleuchtern auf den riesigen, wackligen Tisch, dann blieb er allein. Eine Weile sah er durchs Fenster über Dächer, beschneites Ackerland, bewaldete Hänge zu den Felsen hin, zwischen deren verschneiten Rinnen und Rissen das graue Gestein dünnwandig, unkörperlich ihm entgegenstarrte. Als in dem grünlichen [159] Kachelofen nach einiger Zeit die Holzscheite zu glimmen und zu knistern begannen, setzte er sich, noch immer im Pelz, auf den schwarzen, ans Bett gerückten breitlehnigen Lederstuhl. Drei einsame Stunden lagen vor ihm. Sein Vorsatz war, die Zeit zu benutzen, um für alle Fälle in knapper Form die Umstände niederzuschreiben, die ihn zu seiner plötzlichen Abreise bestimmt hatten; ob nun das, was er zu schreiben gedachte, jemals von irgendeinem Menschen gelesen werden oder ob es nur zu seiner eigenen Sammlung und Beruhigung dienen sollte.

Er ließ sich ein paar Bogen Kanzleipapier bringen, setzte sich an den Schreibtisch, und mit einer Sicherheit des Wortes, wie sie ihm sonst nicht zur Verfügung stand, in kurzen, eindringlichen Sätzen, warf er, da er ganz unwillkürlich mit Daten seiner Geburt und frühesten Kindheit begonnen, einen Abriß seines ganzen Lebens bis zum heutigen Tage aufs Papier.

Er schrieb mit fliegender Feder zwei Stunden lang; und die letzten Worte, die er, vorläufig abschließend, hinsetzte, lauteten: „Ahnung eigener Mitschuld an der Wahnidee meines Bruders. Wir beide vielleicht Erscheinungsformen ein und derselben göttlichen Idee? Einer von uns beiden mußte ins Dunkel. Es ward über ihn verhängt, obwohl früher meine Schale hinüberneigte.“ Er verschloß das Geschriebene in [160] der Reisetasche, verließ das Zimmer und begab sich ins Freie.

Hinter den angelaufenen Fenstern der Wirtsstube saß eine kleine Gesellschaft Einheimischer beim Bier, und er hörte ihr lautes Reden auf den Platz heraus. Er spazierte weiter und begegnete nur wenigen, meist bäuerisch gekleideten Menschen. In der Allee am Fluß auf einer Bank saß, der Kälte nicht achtend, in enger Umschlingung ein junges Paar. Und jetzt erst, mit fliegender Glut, kam ihm zum Bewußtsein, daß er die Geliebte erwartete. In einer Stunde wird sie dasein, sagte er sich, und es ist mir bis zu diesem Augenblick nicht recht zu Bewußtsein gekommen. Wie wird alles licht sein, wenn ich sie wiederhabe. Seit ich heute mittag von ihr Abschied nahm, ist doch alles wie ein Traum gewesen – mein ganzes Leben habe ich indes durchgeträumt, und darum scheint es mir auch so unendlich lange her, daß ich Paula verlassen habe, länger fast als seit dem Tag, an dem ich hier in dieser selben Allee mit Alberta spazierenging.

Er überschritt die Brücke, und bald darauf wandelte er auf dem Perron längs der Gleise auf und ab. Weit hinaus ins Dunkel liefen die schwarzen schnurgraden Schienen ihre weiße Bahn. Der Stationschef ging vorbei und grüßte höflich. Irgendwoher kam ein Ton wie von singenden Drähten. Ganz nahe [161] streckten die Felsen sich ins Blau der Nacht. Welch ein Friede hier, dachte Robert. Am Ende kann doch noch alles gut werden? Ob in einem solchen Frieden nicht auch Otto genesen könnte? Er muß wieder gesund werden! Er muß! Hätte ich selber denn noch eine ruhige Stunde, ja, vermöchte ich weiter zu atmen, wenn er nicht wieder gesund würde? Und er wußte, daß kein Mensch auf Erden lebte, der ihm teuerer war als Otto – fühlte wieder einmal, daß es kein Verhältnis von so innerster, naturgewollter Beständigkeit gab als das von Bruder zu Bruder, daß es tiefer mit den Wurzeln alles Seins verschlungen war als das zu Eltern, Kindern und Geliebten; und er war entschlossen, des Verhängnisses Herr zu werden, das diese geheimnisvollsten und zugleich stärksten aller Bande zwischen Mensch und Mensch zu zerreißen drohte.

Ein fernes Pfeifen ertönte, klang immer näher, die Geräusche des herankommenden Zuges verstärkten sich, schwarz, pfauchend fuhr er ein. Ein Herr in kurzem Jagdpelz stieg aus, dann zwei Bauern und eine alte Frau. Ein Träger kam gelaufen, nahm mit devotem Gruß dem Herrn im Jagdpelz das Gepäck ab; ein Pfiff, der Zug setzte sich wieder in Bewegung, fuhr ins Dunkle und verschwand.

Robert stand da, sah ihn verschwinden und verstand nicht recht. Nach einiger Zeit erst verließ er [162] den Bahnhof, äußerlich ruhig und zu seiner eigenen Verwunderung auch innerlich nicht allzusehr enttäuscht. – Langsam ging er nach dem Gasthof zurück und sagte sich: Ich werde ein Telegramm vorfinden, oder es kommt eines im Laufe der nächsten Stunden. Entweder hat Paula den Zug versäumt, oder sie hat triftige Gründe, einen späteren zu nehmen. Und wahrscheinlich wird sie erst morgen mittag kommen, nicht nachts um zwei Uhr. Dies war nämlich die Stunde, in der der nächste Zug eintreffen sollte.

Es war kein Telegramm da. Robert trat in das niedrige gewölbte Gastzimmer, an dessen Fenster noch immer, von Rauchdunst umgeben, jene einheimische, bäuerische Gesellschaft zusammensaß. An einem anderen Tisch, ganz allein, saß ein alter Herr, der seine Pfeife rauchte und mit trüben Augen, offenbar ohne zu lesen, in eine Zeitung starrte. Robert, ohne daß die anderen sich um ihn kümmerten, setzte sich in eine Ecke, bestellte ein Abendessen, das er sich vorzüglich schmecken ließ, und überlegte. Bald kam er zu der Überzeugung, daß seine früheren Vermutungen nichts anderes gewesen waren als Selbstbetrug. Wäre Paula ernstlich gewillt gewesen, ihm zu folgen, nichts hätte sie hindern können, zur rechten Zeit dazusein. Aber sie hatte nicht gewollt, sie war nicht gekommen, sie hatte ihn im Stich gelassen. [163] Und er wußte auch, warum. Seine lächerliche Erzählung von dem eifersüchtigen Amerikaner, sein ganzes Benehmen heute beim Abschied war ihr sonderbar und verdächtig erschienen. Mit der den Frauen eigenen Verstellungskunst hatte sie ihn nichts davon merken lassen, und ihres gegebenen Wortes nicht achtend, in ihrer Erregung hatte sie getan, was sie zuallerletzt hätte tun dürfen, sie war zu Otto geeilt und hatte ihm alles verraten. Ja, so war es. Er konnte nicht daran zweifeln. Paula hatte ihn verraten – und ausgeliefert. Was wird die Folge sein? fragte er sich weiter. Otto hat neue Scheingründe an meine Verrücktheit zu glauben, sein eigener Wahn findet neue Nahrung, und es kostet ihn nicht die geringste Mühe, Paula und jeden beliebigen anderen Menschen von der Berechtigung seines Verdachtes zu überzeugen. Welche Torheit, daß ich Paula aus den Augen gelassen, daß ich sie nicht gleich mit mir genommen habe. Nun steht alles schlimmer als vorher. – Otto weiß, wo ich bin. Er wird mir nachfahren; grade durch meine Flucht hab’ ich ihn auf meine Spur gelockt. Er hält die Stunde für gekommen, in der er verpflichtet ist, sein Wort einzulösen, ich schwebe in der furchtbarsten Gefahr, und das Spiel ist für mich verloren!

Während er all dies erwog, aß und trank er anscheinend in größter Seelenruhe weiter und merkte [164] mit leisem Staunen, daß all seine Gedanken kühl und kaum von Angst betont durch seine Seele zogen. Irgend etwas freilich mußte geschehen. Doch mehr aus natürlichen Verstandesfolgerungen, als aus einem Gefühl von Furcht ergab es sich für ihn, daß er keineswegs hierbleiben, daß er in jedem Falle weiterfliehen müßte. Die Frage war nur – wohin? Wären ihm die Verfolger nicht morgen schon auf der Spur, so würden sie es in wenigen Tagen sein; und selbst wenn es ihm gelänge, das Land, ja den Kontinent zu verlassen und die Neue Welt zu erreichen – vor der fixen Idee eines Wahnsinnigen war er doch nirgends in Sicherheit, und am Ende konnte ihn dieses Bewußtsein dauernder Gefahr und ewigen Verfolgtseins in Wirklichkeit um den Verstand bringen, so daß er die anderen ins Recht gesetzt, seinem Bruder gewissermaßen in die Hände gearbeitet und – ein teuflischer Witz des Schicksals – dessen Wahnidee bestätigt hätte.

Er verließ das Gasthofzimmer und spazierte draußen auf dem menschenleeren beschneiten Marktplatz hin und her, sehr gemächlich, eine Zigarre im Munde, so daß er jedem, der ihn so gesehen, als ein sorgloser Wintertourist hätte erscheinen müssen. Plötzlich fielen ihm die Aufzeichnungen wieder ein, die er am Abend niedergeschrieben hatte. Könnt’ ich’s nicht wagen, mit ihrer Hilfe den Kampf aufzunehmen? [165] fragte er sich. Wer diese Aufzeichnungen liest, kann mich nicht mehr für wahnsinnig halten. Aber ich werde das Ganze noch einmal schreiben, ausführlicher und verständlicher. Morgen mit dem ersten Zug fahre ich weiter, gehe dann an einer Zweigstation auf eine andere Strecke über, irgendwohin, wo mich niemand vermutet, und dort setze ich meine Anklage- oder meine Verteidigungsschrift sorgfältig auf. Anklage oder Verteidigung? Ja, was ist es eigentlich? Und er grübelte nach. Wie ein blasses Gespenst schwebte ihm die Gestalt jener armen Klavierlehrerin durch den Sinn, mit der er seine letzte trübselige Liebesnacht verbracht hatte, und wieder regte sich der seltsame Zweifel in ihm, ob in jener Begegnung sich nicht das Leben zum letztenmal mit einer Frage an ihn gerichtet, die er gedankenlos, ja grausam beantwortet hatte. Er erlebte es noch einmal in der Erinnerung, wie das einsame Geschöpf aus dem davonfahrenden Wagen sich nach ihm umgewandt, ihm traurig-ernst zugenickt und wie er selbst ihr ungerührt und herzenskalt nachgeblickt hatte. Doch sah er sich völlig anders, als er in jenem Augenblick und überhaupt jemals ausgesehen haben konnte. Übergroß und hager stand er da in einem fliegenden dunklen Mantel und warf einen schwarzen Schatten weit vor sich hin. Diesen Schatten aber nahm er jetzt tatsächlich wahr, da er grade an der [166] Laterne vorüberging, deren Licht gelblichtrüb über dem Eingang des Gasthofs schimmerte.

Er trat ins Haustor und fragte für alle Fälle nochmals, ob nicht eine Depesche für ihn gekommen sei. Der Wirt klärte ihn auf, daß es in diesem kleinen Orte von sieben Uhr abends bis sieben Uhr früh keinen Telegraphendienst gäbe. Nun kam Robert auf seine erste Vermutung zurück, daß Paula den Zug versäumt haben könne; und so durfte er noch immer mit der Möglichkeit ihres Eintreffens um zwei Uhr nachts rechnen.

Er suchte sein Zimmer auf und legte sich unausgekleidet aufs Bett. Eine Stunde wollte er ruhen, denn Mitternacht war vorüber, und sich dann wieder an den Bahnhof begeben. Er löschte das Licht nicht aus und starrte von seinem Bett aus durch das gegenüberliegende Fenster in die Nacht. Er sah nur den Himmel und eine einsame Felsenspitze, über der ein Stern schimmerte. Vom Kirchturm schlug es halb eins, und die Klänge tönten lange fort, als wollte die Nacht sie nicht wieder herausgeben; sie wurden lauter, voller und endlich dröhnend wie Orgelklang. In einer riesigen, völlig leeren Kirche wandelte Robert mit Doktor Leinbach umher, und an der Orgel, ungesehen, aber Robert doch bewußt, saß der Pianist aus dem Nachtlokal, während Höhnburg die Register trat und dabei wie ein [167] Hanswurst den Kopf weit über die Brüstung des Chors streckte und immer wieder zurückzog. Leinbach aber erklärte, daß der Mann dort oben nicht etwa eine Fuge von Bach spiele, sondern daß er Lebensgeschichten in Musik setze, wie das bekanntlich alle begabten Pianisten tun. Gleich darauf wanderte Robert zwischen Bahngleisen hin, einer offenen Landschaft zu, mit einer roten Fahne in der Hand, die er ununterbrochen schwenkte und endlich auf einen Erdhügel pflanzte, unter dem Alberta begraben lag. Dann schritt er auf einem schmalen Gebirgskamm hin, Abgründe zu beiden Seiten, mitten durch eine wundervolle, blaue Winternacht. Endlich saß er, erfrischt, mit kühlen Wangen und sich der Arbeit entgegenfreuend, in seinem Büro, als plötzlich sehr heftig an die Tür geklopft wurde. Er wußte sofort, daß dies nur Albertens Gatte sein konnte, der gekommen war, Rechenschaft von ihm zu fordern. Doch er war fest entschlossen, nicht zu öffnen. Vielmehr verließ er den Raum durch die gegenüberliegende Tür und stürmte weiter durch eine ganze Reihe von Zimmern; in jedem standen Tische, an jedem saßen Schreiber, deren Federn mit ungeheurer Eile über das Papier fuhren, mit der freien Hand aber warfen sie die Bogen in offene Reisetaschen, die sich immer selbsttätig auf- und zuschlossen, schnappend wie Krokodilmäuler. Dabei dauerte das [168] Klopfen immer fort und schien sogar stärker und dringender zu werden. Unwillkürlich griff Robert nach dem Revolver, den er nach alter Reisegewohnheit auf das Nachttischchen gelegt hatte, erhob sich rasch, steckte die Waffe in seine Rocktasche, wußte, daß er erwacht war, und dachte: Ein Telegramm. Und er fragte: „Wer ist da?“

„Ich bin’s, Robert“, erwiderte eine Stimme.

Das Blut erstarrte ihm. Es war Ottos Stimme. Schon also war er ihm nachgereist, schon war er da, um sein fürchterliches Werk zu vollbringen. Ein Glück, daß die Tür versperrt war.

„Darf man hinein?“ fragte Otto. Doch ehe Robert noch zu antworten vermochte, öffnete sich die Tür, die Robert zuzusperren vergessen hatte.

„Was willst du?“ fragte Robert mit aufgerissenen Augen, und dabei war er sich wie einer Qual des Umstands bewußt, daß beide Lidspalten gleich weit offen standen.

Otto stand ihm in der Tür gegenüber im Pelz und mit einem dicken Schal um den Hals. Hastig sprach er. „Man hat mir unten gesagt, daß du um zwei Uhr auf die Bahn wolltest, aber du hast verschlafen. Übrigens wäre ich nicht heraufgekommen, wenn ich nicht Licht in deinem Zimmer gesehen hätte.“

„Wo ist Paula?“ fragte Robert heiser.

[169] „Paula kommt morgen. Vorläufig mußt du dich mit ihren Grüßen begnügen.“ Er hatte immerfort ein starres Lächeln um die Lippen.

„Was willst du hier? Warum kommst du?“ Er setzte sich im Bett auf, fühlte das Glühen und Drohen seiner eigenen Blicke.

„Warum ich komme? Nun –“, und ein unterdrücktes Aufschluchzen war in Ottos Stimme – „nun zum Teufel, ich komme, weil es mir so beliebt! Was ist dir denn nur eingefallen, Robert? Was hast du dir denn wieder in den Kopf gesetzt?“

„Warum bist du da? Was willst du von mir? Nimm – nimm deine Hände aus dem Pelz!“

Otto sah ihm starr ins Gesicht. Zuerst schien er nicht recht zu verstehen. Dann aber, mit übertriebener Gebärde, riß er beide Hände aus den Taschen seines Pelzes, schüttelte den Kopf und verzog den Mund, als wenn er lachen wollte, dann biß er sich in die Lippen und sagte: „Du – du träumst offenbar noch. Komm doch zu dir. Ich bin’s, Robert – dein Bruder, dein Freund. Was bildest du dir denn ein? Dein Bruder – Robert. So glaube doch, so wisse doch endlich, es ist doch nicht im Ernst möglich, daß du – denkst –“

Und die Worte versagten ihm. In seinen Augen war Angst, Mitleid und Liebe ohne Maß. Doch dem Bruder bedeutete der feuchte Glanz dieses Blickes [170] Tücke, Drohung und Tod. Otto wieder, von dem Ausdruck des Grauens in des Bruders Antlitz im tiefsten erschüttert, beherrschte sich nicht länger, trat ganz nah an ihn heran, um ihn zu umarmen und ihn durch die rückhaltlose innigste Gebärde seiner brüderlichen Zärtlichkeit zu versichern. Robert aber, des Bruders kühle Hände an seinem Halse fühlend, zweifelte nun nicht mehr, daß der gefürchtete, daß der Augenblick der höchsten, der entsetzlichsten Gefahr gekommen sei, gegen die in jeder Weise sich zu wehren durch menschliche und göttliche Gesetze erlaubt, ja geboten war. In der Rocktasche spannte er vorsichtig den Hahn seiner Waffe, und während der Bruder ihm am Halse hing, setzte er ihre Mündung an Ottos Brust, der jetzt erst merkte, was sich vorbereitete. Aber im Augenblick, da er erkannte, was im Werk war, nach dem Lauf der Waffe greifen, zurückweichen und rufen wollte, war ihm die Kugel mitten ins Herz gedrungen, und er sank lautlos auf den Boden hin.

Robert aber, noch nicht zum Bewußtsein seiner Tat gelangt, nur erst in der Ahnung des Grauenhaften, Unwiderruflichen, das geschehen war, und in einer dumpfen Angst, noch hier an Ort und Stelle zu erfassen, was er getan, stürzte an der Leiche des Bruders vorbei durch den dunklen Gang, die Treppe hinab, über den Flur, durch das seit Ottos Ankunft [171] noch nicht wieder geschlossene Haustor, lief über den menschenleeren Marktplatz, durch die lange Dorfstraße in die freie Landschaft hinaus, stapfte durch den hohen Schnee, warf den Mantel ab, der ihn im Laufen hinderte, stürmte immer fort, immer weiter, nichts in sich als den festen Willen, niemals zur Besinnung zu kommen – durch eine klingende blaue Nacht, die niemals für ihn enden durfte. Und er wußte, daß er diesen gleichen Weg schon tausende Male dahingerast und daß es ihm bestimmt war, ihn noch tausende Male bis in alle Ewigkeit durch klingende blaue Nächte hinzufliehen.

Nicht weniger als sieben volle Wegstunden von dem Ort entfernt, aus dem er geflohen war, an einem steinigen Abhang, der zu der fast vereisten Ache hinabführte, den Kopf nach abwärts gewandt, mit zerschundenen Händen, getrocknetes Blut an Scheitel und Stirn, entdeckte man drei Tage später seinen entseelten Leib.

Die Aufzeichnungen, die man in seiner Reisetasche fand, wurden dem Gericht übergeben und auszugsweise veröffentlicht. Der Fall in all seiner Düsterkeit lag so klar wie möglich: Verfolgungswahn, wer konnte daran zweifeln? Doktor Leinbach aber hatte seine eigenen Gedanken darüber, und er zögerte nicht, sie seinem mit Sorgfalt geführten Tagebuch anzuvertrauen. „Mein armer Freund“, schrieb er, [172] „hat an der fixen Idee gelitten, so heißt es ja wohl, daß er durch seinen Bruder sterben müsse; und der Gang der Ereignisse hat ihm am Ende recht gegeben. Wie es allmählich dahin kommen sollte, hatte er freilich nicht vorauszusehen vermocht. Aber die Ahnung war in ihm gewesen, das läßt sich nicht abstreiten. Und was sind Ahnungen? Doch nur Gedankenfolgen innerhalb des Unbewußten. Die Logik im Metaphysischen, könnte man vielleicht sagen. Wir aber reden von Zwangsvorstellungen! Ob wir dazu berechtigt sind, ob dieses Wort – wie so manche andere – nicht eigentlich eine Ausflucht bedeutet – eine Flucht ins System aus der friedlosen Vielfältigkeit der Einzelfälle –, das ist eine andere Frage. Und ein Fall, wie der meines armen Freundes – – –“


ENDE
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