« XIV Flucht in die Finsternis XVI »
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XV

Als Robert am nächsten Morgen aus seinem Zimmer trat, fand er seinen Bruder vor der Tür stehen. Robert fühlte sich erblassen, doch es gelang ihm, sein Erschrecken zu verbergen, und wie erfreut rief er aus: „Du bist’s? Das ist aber wirklich sehr nett. Willst du nicht –“ – „Du bist im Fortgehen“, sagte Otto. Er stand in der Tür; beide Hände in den Taschen seines Pelzes vergraben, mit einem allzu heiteren Gesicht. „Oh, es eilt nicht. Komm doch herein.“ Und er schloß die Tür hinter Otto, der ihm ins Zimmer gefolgt war. „Ich wollte dich nämlich fragen", begann Otto, „ob du vielleicht heute abend mit Paula und ihrer Mutter bei uns zu Abend essen möchtest?" – „Gern, sehr gern.“ – „Und da wollte ich gleich die Gelegenheit benutzen und mir doch einmal dein Zimmer ansehen, das du ja nun nicht mehr lange bewohnen wirst.“

Er betrachtete den Raum nach allen Seiten. „Ganz hübsch“, sagte er, trat zum Fenster, blickte auf die Heiligenstatue, in deren steinernen Falten gefrorener Schnee lag, und schien zu überlegen. Robert, auch im Überzieher, den Hut in der Hand, stand hinter [141] ihm und hielt den Blick auf Ottos gesenkten grauen Kopf geheftet, der sich aus dem Pelzkragen hervorhob und ihm nun sonderbar fremd erschien, wie der eines müden alten Mannes, den er nicht kannte. Was hat dieser Besuch zu bedeuten? fragte er sich. Was will er hier? Flüchtig fuhr ihm durch den Sinn, ob Otto nicht etwa ein giftiges Pulver mitgebracht hätte, das sich im Raum verbreiten und später seine verderbliche Wirkung entfalten sollte; und er nahm sich vor, für alle Fälle nachher das Fenster zu öffnen. Plötzlich wandte Otto sich um, Robert verlieh seinem eigenen Blick einen unbefangenen Ausdruck und bemerkte, daß Ottos Augen sich leicht umschleierten. Gleich darauf trat Otto ganz nahe zu ihm hin und meinte lächelnd: „Du bist nun hoffentlich endgültig vernünftig geworden.“ – „Endgültig?“ wiederholte Robert, für seinen Teil den scherzhaften Ton aufnehmend. „Das kann man ja nie wissen. Bei mir schon gewiß nicht. Und ist es denn gar so wünschenswert, vernünftig zu sein, endgültig vernünftig?“ – „Meiner Ansicht nach doch wohl“, erwiderte der andere ernst, beinah hart. – „Das wäre noch zu beweisen“, entgegnete Robert eigensinnig. „Vielleicht bin ich sogar verrückt. Ich will es nicht in Abrede stellen. Aber wenn ich es bin, so fühle ich mich sehr wohl dabei. Und das ist doch die Hauptsache, nicht?“ Es war ihm, als eröffnete sich ihm mit einemmal eine [142] neue Aussicht auf Rettung. „Ich habe mich niemals vorher so wohl gefühlt“, wiederholte er mit Betonung. „Also mach dir um meinetwillen keine Sorgen, ich versichere dich, daß ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen möchte.“

Ottos Antlitz war unbeweglich geblieben. „Nun, so ist ja alles in Ordnung“, sagte er. Es klang wie zerstreut. Und dann, als fiele es ihm eben erst ein, brachte er aus einer Tasche seines Überrocks ein zusammengefaltetes Papier hervor. „Daß ich nicht vergesse“, sagte er leichthin, „da ist dein Brief.“ – „Was für ein Brief?“ fragte Robert, der sich im ersten Augenblick tatsächlich nicht zu besinnen vermochte. – „Den du gestern von mir verlangt hast. Ich habe ihn glücklicherweise noch vorgefunden. Hier ist er, vergewissere dich nur“, fügte er lächelnd hinzu, „ob ich nicht etwa einen anderen untergeschoben habe.“

Robert atmete tief auf, wie wenn ihm ein Gnadengeschenk geworden wäre. Seine Augen feuchteten sich, er konnte seiner Tränen nicht Herr werden, und unwiderstehlich hingezogen sank er dem Bruder schluchzend an die Brust. Eine Weile lag er so und spürte, wie gute, etwas schüchterne Hände ihm leise über die Haare strichen, so daß er ferner Kinderzeiten und längst vergessener elterlicher Zärtlichkeiten gedenken mußte. Plötzlich aber – er war [143] dieses wundersamen Gefühls von Geborgenheit sich kaum bewußt geworden – fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: Was bedeutet das? Warum hat er den Brief herausgesucht? Warum hat er ihn mir wiedergebracht? Will er mich in Sicherheit wiegen? Ja. Das ist’s. Er nimmt es auch ohne Brief auf sich. Diesen Brief haben gewiß schon andere gesehen. Otto hat eine Abschrift genommen und sie vom Notar beglaubigen lassen. Er bedarf des Originals nicht mehr. Nun denkt er, daß ich ihm nicht mehr entgehen kann. Nun bricht er den Stab über mich. Seine Hände streicheln über mein Haar; nicht Segen bedeutet das – sondern Abschied und Urteil. Zugleich wußte er, daß alles darauf ankam, sich jetzt nicht zu verraten. Und er blieb so lange am Halse seines Bruders hängen, bis er sich innerlich gefaßt und seine Züge zum Ausdruck beruhigten Ernstes geordnet hatte. Dann machte er sich los und blickte seinem Bruder heiter ins Antlitz, das nun ein blasses, maskenhaftes Lächeln zeigte. War Otto in diesem Augenblick schon völlig entschlossen, zu tun, wozu ihm jener Brief, den er hinterhältigerweise zurückgebracht, Vollmacht erteilte?

Darüber war sich Robert nicht im klaren. Er wußte nur, daß dieser Entschluß, auch wenn er vielleicht für den Augenblick ins Schwanken geraten, im nächsten schon unwiderruflich sein konnte. Darum gab [144] es nur eines mehr – Flucht. Flucht noch am heutigen Tage. Denn das Morgen schon konnte Verderben bringen. Wohin? Das war am Ende gleichgültig. Alles übrige würde sich finden, wenn er erst mit Paula die Stadt verlassen hätte. Seine Miene gehorchte ihm so sehr, daß sie von den Vorgängen in seinem Innern nicht das mindeste verriet. Den Brief, den Otto ihm gegeben, hielt er in der Hand, sah ihn flüchtig durch, ohne ihn eigentlich wieder zu lesen, zerriß ihn in kleine Stückchen, und mit einem humoristischen Lächeln zu seinem Bruder hin warf er sie in den Ofen. „Und nun wird es Asche“, sagte Otto bedeutungsvoll und mit einem Pathos, das sonst seine Art nicht war.

Wie ungeschickt, dachte Robert und stieß mit dem Fuß die Ofentür zu.

„Aber du solltest wohl längst im Amt sein“, meinte Otto in übertrieben frischem Ton. „Darf ich dich nicht hinbringen?“ – „Danke. Ich gehe vor der Arbeit gern in der klaren Winterluft ein paar Schritte zu Fuß.“ Er öffnete das Fenster, wie er sich vorgenommen, dann verließ er mit seinem Bruder das Zimmer.

„Also wir rechnen zuversichtlich darauf“, sagte Otto auf der Stiege, „euch heute abend bei uns zu sehen. Nicht wahr?“ Robert nickte. Nun war es ihm völlig klar. Heute abend sollte es geschehen. Ein [145] Pülverchen in den Wein oder in den Kaffee … alles ist vorbei – und dann heißt es: es ist ein Herzschlag gewesen. Die einfachste Sache von der Welt. Wie oft mag sich dergleichen zutragen, und kein Mensch erfährt davon.

Am Tor reichte Otto dem Bruder nochmals die Hand, bat ihn, pünktlich zu sein, dann stieg er in den Wagen, nahm eilig eine Zeitung vor und war scheinbar schon tief ins Lesen versunken, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Robert bedachte, daß ihm jedenfalls die Zeit bis abend acht Uhr geschenkt war. Bis dahin drohte keinerlei Gefahr, und so konnte alles in Ruhe überlegt und vorbereitet werden. Vorerst begab er sich ins Amt, wo er sich zeigen wollte, um keinerlei Verdacht zu erregen. Am Schreibtisch merkte er mit Verwunderung, daß die Arbeit sein Interesse so sehr in Anspruch nahm, als befänden sich alle übrigen Angelegenheiten für ihn in völliger Ordnung. Er schrieb einige Bemerkungen und Ergänzungen nieder, was ihm so leicht von der Hand ging, daß er fast bedauerte, seinen Entwurf vorläufig nicht zu Ende führen zu können. Mit dem Baron Prantner, der ihn gegen Mittag zu sich bescheiden ließ, besprach er eingehend gewisse Einzelheiten der Arbeit, erbat kurzen Urlaub, um sie zu Hause oder auf dem Land ungestört zu Ende bringen zu können, und es fiel ihm ein, daß er sie tatsächlich [146] mit sich nehmen, vollenden und dann als vollgültigen Beweis für seine Gesundheit an das Ministerium absenden könnte.

„Was ist Ihnen?“ hörte er plötzlich wie in einem Traum die Stimme des Barons. Und, erwachend, fragte er sich sofort, ob sich seine geheimen Gedanken nicht in seinen Augen, seinen Mienen gespiegelt hätten? Doch der erschrockene Blick des anderen ließ ihn vermuten, daß hier schon früher ein Verdacht bestanden hatte. Eine Anzahl kleiner Vorkommnisse aus der allerletzten Zeit stieg in Roberts Erinnerung auf, denen er leichtfertigerweise keine Bedeutung beigelegt hatte; sonderbar lauernde Blicke seiner Amtskollegen, das plötzliche Verstummen eines Gesprächs zwischen dem Sektionschef und dem Hofrat, als er selbst unerwartet dazugetreten war. Und er bebte vor Scham und Angst in dem Gedanken, daß seine ganze Umgebung schon längst vor ihm als vor einem Geistesgestörten gewarnt sein mochte. – Ja, vielleicht war Otto in dieser Stunde bei Paula und senkte in ihr Herz den Keim des furchtbarsten Mißtrauens, um dann, wenn die Tat vollbracht war, gerechtfertigt, ja als Helfer, als Erlöser, vor ihr und den anderen dazustehen.

„Was ist Ihnen?“ fragte der Baron nochmals und legte die Hand auf Roberts Schulter.

Eine rasche Überlegung sagte Robert, daß er sich [147] aufs äußerste zusammennehmen müsse, um einen gefährlichen Verdacht nicht zu trügerischer Gewißheit werden zu lassen. Er strich sich über die Stirn und erwiderte ruhig: „Nichts, Herr Baron, nichts weiter als ein Kopfschmerz, ein fliegender Schmerz, der mich, wie zur Erinnerung an meine nervösen Zustände vom vorigen Jahr, manchmal zu überkommen pflegt. Es ist auch schon vorüber.“

Sichtlich erleichtert atmete der Baron auf. „Nun, das ist ja gut“, sagte er. „Wir wollen hoffen, daß auf dem Land auch diese letzten Mahnungen endgültig schwinden werden …“

„Oh, ich bedarf keiner Erholung, Herr Baron, keineswegs. Der kurze Urlaub, den Herr Baron so gütig sind mir zu bewilligen, soll wirklich nur dazu dienen, meinen Entwurf, mit dessen letzter Fassung ich Ihre Geduld schon über Gebühr in Anspruch nehme, endlich abzuschließen.“ Und mit einigen knappen und klaren Worten ergänzte er seine Ausführungen von vorher. Befriedigt nickte der Baron, und als Robert ihn endlich verließ, schien er den kleinen Zwischenfall vollkommen vergessen zu haben.

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