« XIII Flucht in die Finsternis XV »
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XIV

Am nächsten Morgen begab er sich nicht ins Amt, sondern unternahm einen Spaziergang, der ihn in entlegene, zu dieser Jahreszeit, insbesondere an einem so trüben Nebeltage, fast völlig verlassene Pratergegenden führte. Niemand konnte ihn hier vermuten, er hatte das Gefühl vollkommener Sicherheit, von keiner Seite drohte irgendwelche Gefahr. Später saß er in einer wohlgeheizten Wirtsstube bei einem einfachen Mittagmahl und wurde nun mit einigem Staunen inne, daß er im Laufe der eben verflossenen Stunden seiner Braut gar nicht gedacht hatte und daß sie ihm jetzt, da er sich ihr Bild ins Gedächtnis rief, nicht scharf umrissen, als die bedeutungsvollste Erscheinung seiner gegenwärtigen Existenz, sondern daß sie in verschwommenen Linien, als gehöre sie einer vergangenen Periode seines Lebens an, vor ihm auftauchte. Er sah sie, von Schneeflocken umweht, auf einem kleinen Balkon stehen, die Hände auf die Brüstung gestützt und nach unten blickend. Doch lag dort nichts, was jenen neulich geschauten Vorstadtgärten im geringsten glich, sondern eine nebelhaft zerfließende italienische Stadt, in der er [126] vor vielen Jahren auf der Hochzeitsreise mit seiner Gattin umhergewandelt war. Aber keinerlei Sehnsucht wurde wach in ihm, weder nach jener längst Dahingeschwundenen noch nach der gegenwärtig Geliebten. Und wenn er jetzt überhaupt jemanden in seine Nähe, ja an seine Seite wünschte, so war es, wie er mit Befremden inne wurde, niemand anders als jene ärmlich verblühende Klavierlehrerin, die er vergessen zu haben glaubte. Und er empfand, daß von allen Menschen, die lebten, sie vielleicht das Wesen war, das am allerstärksten zu ihm gehörte und dessen Schicksal mit dem seinigen geheimnisvoll zusammenstimmte; und daß ihre beiden Daseinslinien sich einmal hatten kreuzen müssen, um dann sofort wieder für alle Zeiten auseinanderzustreben, das schien ihm einen verborgenen Sinn, eine in die Zukunft weisende Bedeutung in sich zu bergen. Und das Bild der blassen Frau begann allmählich solche Lebendigkeit zu gewinnen, daß ihm ward, als sähe er sie draußen vor den Fenstern der Wirtsstube leibhaftig vorübergehen und langsam in den entlaubten Auen verschwinden. Er fragte sich: War dies eine Warnung, eine Mahnung?

Daß die Erscheinung irgend etwas zu bedeuten hatte, wenn sie auch nur aus seiner eigenen Seele in den Nebel dieses Tages emporgestiegen war, daran konnte er nicht zweifeln. Aber wohin deutete sie? [127] Ins Gute oder ins Schlimme? Wem kann man solche Dinge erzählen, fragte er sich weiter. Niemand könnte sie begreifen, und vielleicht sind sie von allen, die uns begegnen, die wesentlichsten. Darum ist man so allein.

In dieser Wirtsstube, wo ihn zu dieser Stunde niemand vermuten konnte, im Dämmer eines frühen Dezembernachmittags, erschien er sich wundersam losgelöst von allen, mit denen er diesen Morgen noch sich nach Menschenart verbunden gewähnt hatte; alle, Braut, Bruder und Freunde, waren wie Schatten der Vergangenheit; und zugleich war ihm, als müßte auch er jenen allen in dieser Stunde nur als blasses Bild durch die Erinnerung schweben. Dies war ihm zuerst nur wie ein seltsamer, fast süßer Schauer, der sich aber allmählich in ein leises Grauen verwandelte; endlich stieg in ihm eine Angst an, die ihn aufjagte und durch die dämmernde, menschenleere, feuchte Allee gegen die Stadt zurücktrieb, als hätte jeder Schritt, der ihn dem Lebensgetriebe näher brachte, zugleich die Kraft, sein blasses Erinnerungsbild in den Herzen der Menschen, die ihn liebten, in ein schärferes und lebendigeres zu wandeln.

Und nun wußte er wieder, daß ein Wesen seiner wartete, das ihm für alle Zeiten zu eigen gehörte, daß ein Bruder seiner dachte, der ihn liebte, ihn vielleicht noch mehr liebte, als es Paula tat, mehr als irgendein Mensch auf der Welt ihn jemals geliebt [128] hatte; ja, der in seiner Liebe bereit war, das Ungeheuerste zu vollbringen und schwerste Schuld auf sich zu nehmen, um ihn vor einem Leben im Wahnsinn zu bewahren.

Er erbebte. Plötzlich wieder war er sich der Gefahr bewußt geworden, die ihn bedrohte. Der Brief! Otto hatte den Brief in Händen, an dem Roberts Schicksal und Leben hing. Der Brief mußte aus der Welt geschafft werden: dies vor allem. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn dem Bruder abzuschmeicheln, abzufordern, abzudrohen. Endlich einmal mußte er sich mit Otto aussprechen – über den Brief und über vieles andere … Was zwischen ihnen sich entsponnen, rätselvoll und tief, vielleicht in frühester Kindheit schon, dieses Ineinanderspiel von Verstehen und Mißverstehen, von brüderlicher Zärtlichkeit und Fremdheit, von Liebe und Haß – es mußte endlich zum Austrag kommen. Noch war es nicht zu spät für sie beide, noch einmal hatte er sein Dasein in eigenen Händen, noch einmal der Bruder das seine. Nun war für Otto der Augenblick da, sich zu entscheiden zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Klarheit und Verwirrung, zwischen Leben und Tod. Er für seinen Teil, er hatte sich entschieden. Sein Geist war klar, seine Seele gerettet. Nun war auch dem Bruder noch einmal, das letztemal, die Wahl geschenkt.

[129] Als Robert eintrat, blickte Otto von seinem Eintragungsbuch auf, in das er eben Notizen einzuzeichnen im Begriffe war. Robert las in diesem Blick Erstaunen, Mißbilligung und ein leichtes Erschrecken. Er erschien sich ein wenig wie ein Schüler, der, nicht genügend vorbereitet, sich einer bedeutungsvollen Prüfung unterziehen mußte und nun gezwungen ist, sich in seinen Antworten ganz auf die Eingebung des Augenblicks zu verlassen. So nahm er denn einen übertrieben frischen Ton an, den er selbst sofort als gekünstelt empfand.

„Ja, ich bin’s“, sagte er. „Zu einer etwas ungewohnten Stunde, nicht wahr. Störe ich dich vielleicht?“

„Durchaus nicht“, erwiderte Otto und sah auf die Uhr. „Willst du dich nicht setzen? Wie geht es deiner Braut?“

„Danke, sehr gut. Sie hat jetzt alle Hände voll zu tun, wie du dir denken kannst. Die Wohnung ist aufgenommen; weißt du, die, von der wir dir neulich erzählt haben; mit dem Blick in die Gärten. Aber um dich nicht über Gebühr aufzuhalten, – ich komme aus einem ganz bestimmten Grund. Wie ich dir schon neulich erzählte, bin ich damit beschäftigt, wie es sich in solchen Lebensperioden ziemt“, er lächelte wie verschämt, was ihm gleich wieder kindisch vorkam, „Ordnung in meine alten Papiere zu bringen. [130] Da habe ich nun unter andern auch Briefe von unserem gemeinsamen, längst verstorbenen Freund Höhnburg gefunden.“ Otto nickte zum Zeichen, daß er sich erinnere. „Und bei dieser Gelegenheit“, fuhr Robert fort, „ist mir eingefallen, daß du dich noch im Besitz eines etwas lächerlichen Schriftstückes von mir befinden dürftest, das ich gern wieder haben möchte.“

„Ein lächerliches Schriftstück?“ Otto sah ihn befremdet an.

„Solltest du dich nicht erinnern“, sagte Robert; und etwas zu geschwind, wie er selbst fühlte, entfuhr ihm das erklärende Wort: „Mein Todesurteil.“ Und er lachte zugleich.

„Dein Todesurteil?“ wiederholte Otto, anscheinend noch immer ohne zu verstehen. Aber gleich darauf verriet ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, daß er verstanden hatte.

„Du erinnerst dich also“, fiel Robert so hastig ein, als hätte er den Bruder ertappt, und er lachte wieder.

Otto verzog die Miene in seiner spöttischen Art. „Ich kann allerdings keine Garantie übernehmen, daß sich dieses Schriftstück noch in meinem Besitz befindet, denn ich habe die Gewohnheit, alle paar Jahre unter dem Zeug, das sich so im Laufe der Zeit ansammelt, aufzuräumen; und es wäre nicht unmöglich, daß auch dein Brief von damals, wie allerlei [131] anderes, irgendeinmal in Flammen aufgegangen ist. Aber wenn du Wert darauf legst, will ich nachsehen.“ Er sprach mit einer Ruhe, die sehr absichtlich wirkte.

„Wenn du einmal Zeit hast“, sagte Robert rasch, „so wäre ich dir dankbar, denn ich möchte nicht – und du wirst es begreifen –, daß der Brief später einmal – meinen Neffen in die Hände fiele und sie sich über ihren verrückten, längst verstorbenen Onkel lustig machten.“

„Du bist ja sehr besorgt um deinen Nachruhm“, meinte Otto. „Aber wahrscheinlich bin ich es – unbewußt – schon früher gewesen, und das allerdings etwas lächerliche Schriftstück dürfte gar nicht mehr existieren. Wenigstens erinnere ich mich nicht, daß es mir seit vielen Jahren vor die Augen gekommen wäre.“

„Ich hätte natürlich auch nicht mehr daran gedacht, aber die neue Lebensperiode, in die ich eintrete – nicht wahr, Otto, du verstehst ja – – man möchte alles weit hinter sich geworfen haben, was an trübe Epochen der Vergangenheit mahnt, man möchte jede Spur davon aus der Welt verschwunden wissen … Leider geht es nicht mit allem so einfach – wie mit einem Stück Papier.“

Otto war aufgestanden und legte dem Bruder, der ihm gegenüber in einem Lehnstuhl saß, mit einer [132] ungewohnten Gebärde der Herzlichkeit die Hand auf die Schulter. Und mit einem allzu freundlichen Lächeln sagte er: „Hast du wirklich jemals im Ernst daran gedacht, daß ich von deiner mir gütigst erteilten Ermächtigung Gebrauch machen würde?“ Und mit einem etwas angestrengten Versuch, zu scherzen, fügte er hinzu: „Da hätte ich es schon längst tun müssen.“

„Darin kann ich dir freilich nicht Unrecht geben“, erwiderte Robert bedrückt, „aber nun ist ja doch alles anders geworden, Gott sei Dank. Ja, Otto, daß ich Paula gefunden habe, das ist ein Glück ohnegleichen, ein ganz unverdientes Glück. Dabei mußt du wissen, daß ich es beinahe versäumt hätte.“ Er vermochte zu seiner eigenen Verwunderung zu seinem Bruder freier und aufgeschlossener zu reden als sonst. Er sprach davon, wie haltlos und verloren er seit Jahren dahingedämmert, wie die Amtsgeschäfte ihn nicht befriedigt, alle Vergnügungen ihn gelangweilt hätten, wie er immer wieder von allerlei sonderbaren und albernen Einbildungen gequält und umhergehetzt worden sei; wie aber von der Stunde ab, da Paula in sein Leben getreten war, die ganze Welt gleichsam lichtere Farben angenommen, wie er nun sogar in seinem Berufe eine ungewohnte Befriedigung finde, wie insbesondere die Musik dadurch, daß seine Braut auch hier sich ihm als eine wahre Gefährtin [133] erweise, ihm ein ganz neues Glück gewähre und wie er fühle, daß erst jetzt eine schwere Wolke, die er immer als über sich schwebend empfunden, für alle Zeiten geschwunden sei. Alle diese Worte aber, dessen war er sich wohl bewußt, sollten nicht nur sich selbst, nicht nur eine Art von Beichte bedeuten, sie waren auch dazu bestimmt, den Bruder zu versöhnen, dessen Wahn zu zerstreuen und ihm Erleuchtung zu bringen.

„Es ist gewiß ein Glück“, unterbrach Otto des Bruders dahinströmende Wortflut, „daß du endlich das richtige Wesen gefunden hast, und du kannst versichert sein, daß wir alle deine Freude teilen. Steht übrigens schon der Termin der Hochzeit fest?“

Was soll die Frage, dachte Robert bei sich. Gibt er mir noch Frist – bis dahin –? Ist ihm am Ende nur darum zu tun, daß – ich nicht belastete Nachkommen in die Welt setze? Aber er vermochte ganz ruhig zu erwidern: „Der Tag steht noch nicht fest. Im März, denke ich. Wir wollen dann gleich eine schöne Reise machen.“

Otto lächelte. „Du heiratest wohl nur, um wieder dafür einen Vorwand zu haben?“

„Keine sehr lange diesmal“, sagte Robert. „Ich kann nicht wieder für ein paar Monate Urlaub nehmen.“

„Wo wollt ihr denn hin?“

[134] „Nach Dalmatien. Ich möchte Paula Spalato zeigen, den Palast des Diokletian, – Ragusa …“

Otto nickte. In diesen Gegenden hatten die Brüder vor vielen Jahren einmal als Knaben mit ihren Eltern die Osterzeit zugebracht. Otto erinnerte Robert an manche Einzelheiten jenes Aufenthaltes; und seine Stimme klang so warm, so nah – insbesondere als er dann noch von anderen, längst vergangenen Dingen und endlich auch vom Elternhaus, einem uralten, seither verschwundenen Gebäude der inneren Stadt, zu sprechen anfing –, daß Robert ein wundersames, lange nicht genossenes Gefühl von Geborgenheit durch die Seele fließen fühlte. Doch das währte nur eine kurze Weile. Dann schämte er sich seiner Rührung wie ein Betrogener, heftig hob er das Haupt empor, und mit einem forschend-kalten Blick, der den Bruder notwendig überraschen mußte, sah er ihm ins Auge. Und plötzlich, mit Grauen, erblickte er ein Antlitz, das er kannte. Es war das gleiche, das ihm neulich nachts aus dem Spiegel entgegengestarrt hatte, sein eigenes, blaß, mit weitaufgerissenen Augen und um die Lippen einen schmerzlich entsetzten Zug. Diese Ähnlichkeit war so außerordentlich, so zwingend, daß ihn der Gedanke durchzuckte, ob es nicht wirklich das Bild seines Bruders und nicht sein eigenes gewesen war, das ihm damals warnend oder drohend aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. [135] War es vielleicht die ewige Macht der Blutsverwandtschaft gewesen, die in einem bedeutungsvollen Augenblick durch ein solches geheimnisvolles Zeichen sich bestätigte?

Es war nur natürlich, daß der Ausdruck in Ottos Mienen sich sofort änderte, da er sich beobachtet, ja entdeckt fühlen mußte. Ein Lächeln, allerdings dem Grinsen nah verwandt, erschien auf seinen Lippen, und befangen sagte er: „Ja, mein Lieber, ferne Zeiten, ferne Zeiten. Wie lange könnte man so weiterplaudern …! Aber leider –“ Er brach ab, klappte das Eintragebuch zu, rückte Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch zurecht, griff seiner Gewohnheit nach an die Brusttasche nach dem Notizbuch, dann wandte er sich wieder zu Robert, der sich gleichfalls erhoben hatte. „Warst du übrigens schon bei den Kindern, bei Marianne?“ Robert schüttelte den Kopf. Otto fuhr mit offenbarer Beflissenheit fort: „Habe ich dir schon gesagt, daß Marianne von Paula gradezu schwärmt?“ Er hatte geklingelt und fragte den eintretenden Diener, ob Marianne zu Hause sei. Sie war fortgegangen, und Robert begleitete den Bruder ins Zimmer der Kinder, die eben ihr Abendessen erhielten und es gar nicht hübsch vom Onkel fanden, daß er grade nur hereinkam, um ihnen gute Nacht zu wünschen, und sie gleich wieder mit dem Vater, dessen Eile sie freilich gewohnt waren, verließ.

[136] Auf der Treppe sprach Otto die Erwartung aus, Robert mit seiner Braut recht bald wieder an einem gemütlichen Abend bei sich zu sehen. „Sehr gern“, erwiderte Robert. Aber bei sich dachte er: Ich werde mich wohl hüten. Wozu? Um mich wieder von einem sogenannten Fachmann beobachten zulassen? – „Und ihr werdet hoffentlich auch einmal bei uns zusammen musizieren“, sagte Otto. „Deine Braut soll ja so schön Geige spielen.“ Aus dem Wagen noch nickte er dem Bruder einen Gruß zu, den dieser mit einem heiteren Lächeln erwiderte.

Es ist die höchste Zeit, Vorkehrungen zu treffen, dachte Robert im Weitergehen. Er ist der berühmte Arzt, niemand wird an der Richtigkeit seiner Diagnose zweifeln. Bis die Wahrheit an den Tag kommt, ist es zu spät. Indes kann ich im Irrenhaus längst wirklich verrückt geworden sein. Ob es nicht das klügste wäre, für einige Zeit aus Ottos Gesichtskreis zu entschwinden? Es wäre nicht undenkbar, daß sich dann sein Wahn gewissermaßen von mir loslöste, sich auf etwas anderes einstellte. Ich selbst habe ja mit mir Ähnliches erlebt, als ich noch an meinen Zwangsvorstellungen litt. Aus den Augen, aus dem Sinn – aus den Augen, aus dem Wahnsinn, könnte man vielleicht sagen. Aber ich werde nicht allein wegfahren, nein, ich werde Paula mit mir nehmen. Wird sie bereit sein? Gewiß! Sie ist zu allem [137] bereit, was ich wünsche, es kostet mich nur ein Wort.

Paula hatte ihn mit Unruhe erwartet. „Wo bist du den ganzen Tag gewesen?“ fragte sie. Er war verwundert, denn daran, daß er heute morgen das Amt versäumt, hatte er längst nicht mehr gedacht. Nun stellte sich heraus, daß Paula ihn vormittags im Büro vergeblich angerufen, dann in seinem Gasthof angefragt und sich nachmittags zweimal telephonisch bei seinem Bruder erkundigt hatte, ob er dort etwa vorgesprochen. Robert fand es höchst sonderbar, daß Otto ihm gegenüber davon nicht einmal Erwähnung getan, aber er sagte sich gleich, daß es galt, weder Mißtrauen noch Verlegenheit zu zeigen. So machte er denn in humoristischer Weise den ertappten Sünder und gestand, daß er wie in seligen Kinderzeiten eine unbezwingliche Lust verspürt habe, Schule zu stürzen, und in aller Frühe über Land gefahren sei.

Paula schien sich gern überzeugen zu lassen und begnügte sich mit leichten Vorwürfen, warum er sie von seinem Vorsatz nicht verständigt und sie nicht aufs Land mitgenommen habe. Sie saßen, wie es jetzt manchmal der Fall war, in Paulas anmutigem, ganz in Weiß gehaltenem Mädchenzimmer, wo von einer verhängten Deckenlampe über Bilder und Teppiche ein mildrötliches Licht fiel. Robert zog Paula zärtlich in seine Arme; doch er war zerstreut; unklare [138] Fluchtpläne zogen ihm durch den Sinn, und vergeblich versuchte er, ihnen festere Gestalt zu geben. „Was ist dir denn?“ fragte Paula.

In diesem Augenblick kam ihm eine Eingebung, die ihm für seine Zwecke besonders glücklich dünkte. Und wie beiläufig warf er hin: „Was denkst du, wem ich heute begegnet bin? – Dem Bräutigam der jungen Dame, von der ich dir einmal erzählt habe.“ – „Welcher jungen Dame? … Du hast trotz deiner Diskretion immerhin schon von einigen gesprochen.“ – „Ich spreche von der, mit der ich im letzten Sommer ein paar Wochen in der Schweiz verbracht habe.“ – „Von Alberta? Du bist ihr begegnet?“ – „Nicht ihr, ihrem Verlobten.“ – „Dem Amerikaner?“ – „Ganz richtig, dem Amerikaner.“ – „Ihrem Mann also?“ – „Wieso? Ah, freilich.“ Er hatte ganz vergessen, daß er ihr von dem letzten Brief Albertens nichts erzählt hatte, aber er erkannte sofort, daß er diesen Umstand zugunsten seines Planes ausnutzen könnte. Und er sagte: „Ganz richtig, wenn er sie geheiratet hat, was ich wohl annehmen muß, so ist er jetzt ihr Mann. Daran hatte ich gar nicht gedacht.“ – „So dürfte Alberta wohl auch in Wien sein?“ – „Möglich. Gesehen habe ich nur ihn.“ – „Auch gesprochen?“ – „Nein, er hat mich gar nicht bemerkt. Er befand sich auf der anderen Seite der Straße.“ Und rasch, als legte er der soeben von ihm [139] erfundenen Begegnung keinerlei Bedeutung bei, brachte er das Gespräch auf andere Dinge und sprach angelegentlichst von der Einrichtung ihrer künftigen Wohnung und von gewissen Anschaffungen für den zu gründenden Haushalt.

Nach dem Abendessen entwarfen sie unter Beihilfe der Mutter eine genaue Liste aller nötigen Gegenstände und verabredeten endlich für den morgigen Tag zum Zweck dieser Einkäufe einen gemeinsamen Gang in die Stadt. Zu später Stunde erst verabschiedete sich Robert in anscheinend aufgeräumter Stimmung und glaubte auch den Rest von Unruhe aus Paulas Gemüt verschwunden.

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