« XII Flucht in die Finsternis XIV »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[113]
XIII

Dieser erste Besuch im Hause des Bruders ließ sich vortrefflich an. Die Kinder waren von der neuen Tante, die Bilderbücher und Näschereien mitbrachte, sofort entzückt, Mariannes kühle Liebenswürdigkeit erwärmte sich allmählich, und Ottos Wesen wirkte auf Paula grade durch den freundlich-spöttischen Ton, der ihm in oberflächlicher Unterhaltung eigen war, vom ersten Augenblick an wie längst vertraut. In diesem Dunstkreis wechselseitiger Herzlichkeit und Sympathie, darin Robert sich bewegte, verloren auch die unruhevollen Gedanken allmählich ihre Macht über ihn, und manchmal, unter einem nach allen Seiten aufgehellten Himmel, glaubte er sich unbedenklich der Zukunft entgegenfreuen zu dürfen.

Doch in einer Nacht, nach einem geselligen Abend im Hause seines Bruders, geschah es ihm nach geraumer Zeit zum ersten Male wieder, daß kein Schlaf über ihn kommen wollte. Viertelstunde auf Viertelstunde hörte er vom Kirchturm schlagen, und er dachte nach, ob ihm nicht im Laufe des verflossenen Abends etwas Unangenehmes oder Peinliches begegnet wäre. Doch anfangs suchte er vergeblich nach [114] der mutmaßlichen Ursache seines steigenden Unbehagens. Der Abend war ungetrübt verlaufen. Robert und Paula als erklärtes Brautpaar hatten von allen Seiten unfeierlich-warme Glückwünsche entgegengenommen; es war ein wenig musiziert worden, endlich, bei Kaffee und Zigarre, hatte man in zwanglos-wechselnden Gruppen geplaudert. Ein engerer Fachkollege Ottos hatte Robert in ein anscheinend harmloses Gespräch gezogen, und dieser erinnerte sich, daß er dem Professor in irgendeinem Augenblick für dessen Zigarre Feuer gegeben und daß ihm bei dieser Gelegenheit das Streichhölzchen aus der Hand geglitten war. Offenbar hatte seine Hand ein wenig gezittert. Nun wurde ihm auch der eigentümliche, prüfende Blick gegenwärtig, den der Professor bei diesem Anlaß auf ihn gerichtet hatte. Robert war sich auch bewußt, sehr rasch geredet und sich ein paarmal versprochen zu haben, wie es ihm nach zwei oder drei Glas Wein leicht begegnete. Es war gewiß nicht undenkbar, daß einem ärztlichen Beobachter alle diese Nichtigkeiten und überhaupt eine gewisse Veränderung in seinem Wesen und in seinen Zügen, vor allem die unleugbare, immer noch vorhandene Ungleichheit der Lidspalten, aufgefallen sein konnten. Und er erwog, ob nicht Otto, dem eigenen Scharfblick grade in diesem Falle nicht völlig vertrauend, seinen Kollegen ersucht hatte, Robert unauffällig zu [115] beobachten. Eines war sicher, daß die beiden, Otto und der Professor, nachher eine Weile in einer Fensternische sich angelegentlich miteinander unterhalten hatten. Und einmal hatte von der Nische her Otto den Bruder mit einem flüchtigen Blick gestreift und gleich wieder weggesehen.

Von plötzlicher Unruhe gepackt, schaltete Robert das Licht ein, sprang aus dem Bett und trat vor den Spiegel. Das Antlitz, das ihm entgegensah, mit fahlen Wangen, weitaufgerissenen Augen und zerrauftem Haar, einen fremden Zug um die Lippen, erschreckte ihn tief. War das überhaupt sein eigenes Gesicht? Ja, das war es wohl, aber so, wie es sich einem offenbaren mußte, dem es gegeben war, hinter den gepflegten Masken des Alltags das echte, das wahrhaftige zu erkennen, in das die Spuren all der Ängste eingegraben waren, die ihn sein halbes Leben lang verfolgt und endlich durch die Welt gejagt hatten. Wenn auch ihre Macht in den letzten Wochen gemildert schien – seiner Umgebung mußte das keineswegs ebenso einleuchtend sein wie ihm selbst, und es war sehr naheliegend, daß Otto, der seit Jahren eine ernstere Nervenerkrankung, vielleicht den Ausbruch einer Geistesstörung bei ihm befürchtet hatte, ihn fortdauernd beobachtete und beobachten ließ.

Dem Professor war er noch niemals im Hause des Bruders begegnet – daß man ihn heute geladen, das [116] konnte kein Zufall sein. Gewiß war Otto beunruhigt, hatte Sorge um ihn und in diesen guten Tagen mehr als je zuvor. Grade jetzt, da Roberts Schicksal äußerlich und innerlich eine günstigere Wendung zu nehmen begann, da er zum erstenmal seit zwanzig Jahren erhobenen Hauptes in die Zukunft schauen durfte, war er seinem Bruder immer nur verdächtiger geworden. Aber ob die Gründe für dieses wachsende Mißtrauen nicht ebensosehr, ja eher noch mehr bei Otto gelegen sein konnten als bei ihm? Ob es sich nicht so verhielt, daß Otto, der in seiner eigenen Seele die ersten Zeichen einer Verstörung zu erkennen glaubte und davor zurückscheute, sie sich einzugestehen, das Unheil in satanischer Weise von sich abzuwenden versuchte, indem er es in eine andere, seiner Ansicht nach längst dafür vorbestimmte Seele, in die des eigenen Bruders hinüberdeutete? Wie oft schon hatte man gehört und gelesen, daß ein Wahnsinniger die Gesunden in seiner Umgebung für wahnsinnig hielt, daß ein geistig völlig normaler Mensch fälschlich als irrsinnig erklärt und ins Narrenhaus gesperrt wurde? Und nichts erweist sich schwerer, als einen Irrtum solcher Art auch für Außenstehende aufzuklären, wenn die Aufmerksamkeit einmal in die falsche Bahn gelenkt worden ist.

Robert dachte an Gerichtsfälle, an Zeitungsnotizen, die von zufälligen, leichtfertigen oder verbrecherischen [117] Irrtümern solcher Art erzählen. Und wie nahe lag ein solcher Irrtum grade in seinem eigenen Fall. Sein Leben lang, mindestens seit Höhnburgs Erkrankung, war er von allerlei Zwangsvorstellungen und schlimmerem Wahn gequält worden und hatte das seinem Bruder nicht nur eingestanden, sondern ihn gradezu gebeten, mit ihm ein Ende zu machen, wenn das Furchtbare Wahrheit würde; nicht gebeten nur, er hatte ihm ein Dokument übergeben, das Otto dazu verpflichtete und zugleich jeder Verantwortung entband. War es nicht vielleicht grade dieses unglückselige Schriftstück gewesen, das in die Seele Ottos zuallererst den Keim der Verstörung gelegt hatte, und hätte sich andernfalls dessen Wahnsinn nicht nach einer ganz anderen Richtung entwickeln können? Glücklicherweise schien Otto selbst seiner Sache nicht ganz sicher, sonst hätte er es wohl nicht darauf angelegt, sich Verbündete zu suchen, um mit seiner Diagnose nicht allein zu stehen. Verbündete waren freilich immer leicht zur Hand, und nun gar hier, wo derjenige, der den Verdacht aussprach, ein Arzt, ein hochgeschätzter Nervenarzt war, von dem keiner ahnte, daß es mit seinen eigenen Nerven nicht zum besten stand, und der Verdächtigte des Arztes Bruder war und ein Mensch dazu, der von Jugend auf als nervös, als ein Sonderling, bei vielen als verrückt gegolten hatte [118] und soeben monatelang berufsunfähig auf Krankenurlaub in der Welt umhergereist war.

Doch so bedenklich die Angelegenheit in diesem Augenblick zu stehen schien, so sehr man auf der Hut sein mußte, verloren war sie noch lange nicht. Für tatsächlich, für im wahren Wortsinn verrückt hielt ihn heute doch niemand, es sei denn, daß Otto selbst schon so weit war. Und wenn die anderen, sogar die Ärzte, die schwere Verstörung Ottos – es mußte ja noch keineswegs Wahnsinn sein – noch nicht zu erkennen vermochten; – er, Robert, der einzige, der klar sah, hatte wohl das Recht, ja die Pflicht, die Menschen in nächster Umgebung auf die drohende Gefahr hinzuweisen; und keineswegs nur darum, um von sich selber eine abzuwenden. Freilich galt es vorsichtig zu sein; und wenn Otto sich seine Verbündeten gesucht hatte, es war ihm, Robert, gewiß nicht verwehrt, das gleiche zu tun, ja, es war seine Pflicht und Schuldigkeit, vor allem um Ottos willen. Er dachte an Doktor Leinbach. Wurde auch dessen ärztliche Gediegenheit, vielleicht sogar die Schärfe seines Verstandes von manchen Fachleuten einigermaßen angezweifelt, er war Robert doch von Jugend auf verbunden, war ihm Freund, liebte ihn in seiner Weise. Und grade, daß er nicht beruflich begrenzt und sehr ferne davon war, ein Spezialist zu sein, machte ihn in diesem Falle zum unbestechlichsten [119] Richter. Er, besser als jeder andere, würde die Eigentümlichkeit und Schwierigkeit von Roberts Lage zu erfassen imstande und am ehesten bereit sein, ihm helfend zur Seite zu stehen. Es war ja nicht notwendig, ihm sofort alles zu sagen, und man brauchte anfangs nicht weiterzugehen, als dringend geboten schien. So nahm sich Robert denn vor, schon am nächsten Tag mit Leinbach zu reden, sonst aber keinen Menschen, nicht einmal Paula, ins Geheimnis zu ziehen.

Dieser Vorsatz beruhigte ihn so sehr, daß er seinem Spiegelbild zulächelte und dieses wieder ihm, was ihm trotz aller Selbstverständlichkeit wohl tat. Er verbrachte den Rest der Nacht in gutem Schlaf, fühlte sich am nächsten Morgen nahezu frisch, versah seine Amtsgeschäfte wie gewöhnlich, ja mit gesteigerter Freudigkeit, die seiner Stimmung noch weiter zugute kam, und als er am späten Nachmittag zu Paula ins Zimmer trat, so hätte dieser auch dann nichts Besonderes an ihm auffallen können, wenn sie nicht überdies durch wichtige Nachrichten abgelenkt gewesen wäre. Ihr Vater, so erzählte sie ihrem Verlobten, hatte vorläufig in einer italienischen Hafenstadt Aufenthalt genommen, wo er Nachrichten eines Jugendfreundes aus Amerika abwartete, um hiervon seine nächsten Entscheidungen abhängig zu machen. Die Möglichkeit einer neuen, und zwar einer journalistischen [120] Laufbahn, schien sich ihm zu eröffnen. Und sein Brief gab Zeugnis von einer fast jugendlichen Hoffnungsfreudigkeit, ja von einer gewissen Reise- und Abenteuerlust, – eine Stimmung, die, wie Robert mit Verwunderung wahrnahm, der Gattin und der Tochter nicht nur verzeihlich, sondern vollkommen natürlich erschien. Robert entfernte sich bald, mit dem Bemerken, eine Zusammenkunft mit Leinbach verabredet zu haben, den er seit seiner Verlobung nicht gesehen habe.

Er hatte den Freund ins Kaffeehaus beschieden, um sich bei dieser Gelegenheit auch den anderen Bekannten zu zeigen, denen sein langes Fernbleiben vielleicht sonderbar erschienen sein mochte. Sie beglückwünschten ihn alle sehr herzlich zu seiner Verlobung, August Langer allerdings mit einem eigentümlichen hämischen Zucken der Mundwinkel, ungefähr als ob er andeuten wollte, daß ihm für seinen Teil das Los dieses neuen Opfers, das der einstige Verwandte gefunden, glücklicherweise vollkommen gleichgültig sein konnte. Sofort aber erkannte Robert diese Auslegung, die er eine Sekunde lang einem nichtsbedeutenden Mienenspiel zu geben bereit war, als das letzte Aufflackern einer lächerlichen, längst abgetanen Wahnidee.

Doktor Leinbach schien etwas verletzt, daß auch er nur durch das Gerücht von dem wichtigen Ereignis [121] im Leben seines Freundes Kunde erhalten. Durch Roberts Versicherung, daß ihm die öffentliche Bekanntgabe von Verlobungen stets als eine überflüssige und unzarte Einrichtung erschienen sei, ließ Leinbach sich unschwer beschwichtigen und führte sogar in Ergänzung von Roberts Anschauungen aus, daß man seiner Überzeugung nach in einer höher kultivierten Zeit auch von der Verkündigung vollzogener Heiraten, insbesondere aber von öffentlichen Hochzeitsfeiern als von einer völlig barbarischen Sitte Abstand nehmen würde. Robert ließ ihn eine Weile weiterreden, um ihn sich günstig zu stimmen, endlich aber, als sich Leinbach seiner Gewohnheit nach in endlose philosophische Erörterungen verlieren wollte, unterbrach er ihn mit der Bemerkung, daß er ihn aus einem ganz bestimmten, leider recht ernsten Grunde zu einer Unterredung hierher gebeten habe. Und unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit vertraute er ihm seine Besorgnisse wegen Ottos Gesundheitszustand an und fragte ihn, ob nicht auch ihm in der letzten Zeit der unruhige Blick, die übertriebene Reizbarkeit, der sonderbare Gang Ottos aufgefallen sei.

„Ich sehe ihn selten“, sagte Doktor Leinbach und zog die Stirn in Falten.

„Ich möchte gleich bemerken“, fuhr Robert fort, „daß ich nicht der einzige bin, der Otto verändert [122] findet. Auch Marianne ergeht es nicht anders. Und sähest du ihn öfter, so würde es dir gewiß nicht entgangen sein, wie sein Wesen im Laufe des letzten Jahres sich getrübt und verdüstert hat.“

„Verdüstert“, wiederholte Leinbach mit wichtiger Miene. „Das dürfte stimmen. Natürlich verdüstert sich sein Wesen. Wie könnte es auch anders sein. Auch meines verdüstert sich, wenn auch offenbar auf eine andere, minder augenfällige Weise, als es bei Otto der Fall ist. Vielleicht auch merkst du es besser an ihm, weil er dir näher steht als ich. Aber glaube mir, wenn du jemals einem Arzt begegnest, dessen Wesen in einem gewissen Alter, sagen wir zwischen vierzig und fünfzig, licht bleibt, dann kann er nur ein Stümper oder ein Wicht gewesen sein. Bedenke doch nur“, und Leinbachs Stimme bebte ein wenig, „wir sind ja in einem gewissen Sinne dazu bestimmt, die Leiden aller der Menschen auf uns zu nehmen, die uns ihre Leiden klagen, auch wenn es uns nicht direkt zum Bewußtsein kommt, – ja, das ist dann vielleicht noch schlimmer. Die Sentimentalen haben es freilich besser; die werden mit jedem Fall im einzelnen fertig, durch Rührung sozusagen. Aber bei unsereinem, bei den Starken, da ballt es sich zusammen. Natürlich merkt man es im allgemeinen nicht, sonst würden wir ein wahrhaft tragisches Schauspiel darbieten. Nur die Leute, die uns lieben, [123] die merken das, was du eben so richtig Verdüsterung genannt hast. Überhaupt weiß ja niemand etwas von uns außer den Menschen, die uns lieben. Wir selber –“

Robert gab es auf, ihm weiter zuzuhören. Er sah, daß hier nichts für ihn zu holen war. Er hätte es vorher wissen müssen. Warum hatte er diesem abgeschmackten Tropf gegenüber von seinen Besorgnissen überhaupt gesprochen? Es war zum mindesten eine Unvorsichtigkeit gewesen.

August Langer und Kahnberg, der sich der etwas peinlichen Szene von neulich nicht mehr zu erinnern schien, traten herzu und forderten Robert zu einer Kartenpartie auf. Robert nahm den Vorschlag gern an und fand sich bald so angenehm zerstreut, daß er fast bedauerte, sich ein so harmloses Vergnügen seit langer Zeit versagt zu haben. Leinbach schaute dem Spiele vorerst schweigend zu. Bald aber konnte er es nicht unterlassen, Bemerkungen allgemeiner Natur einzustreuen, insbesondere über das, was man in so oberflächlicher Weise als das Glück im Spiel zu bezeichnen pflege, das er für seinen Teil aber seit jeher als den Ausdruck tiefer Zusammenhänge erkannt hatte, die dem Spieler selbst notwendig verborgen blieben. Robert spürte eine wachsende Erbitterung in sich aufsteigen; plötzlich warf er die Karten auf den Tisch und verbat sich mit zornigen Worten alle [124] weiteren Weisheiten des „philosophischen Kiebitzes". Leinbach lachte wohl, entfernte sich aber bald und verschwand aus dem Kaffeehaus, ohne sich von Robert verabschiedet zu haben. Dieser bereute jetzt seine Heftigkeit um so mehr, als auch seine Spielgenossen ihn mit Befremden betrachteten und sich durch Blicke zu verständigen schienen. Er nahm sich zusammen, beteiligte sich weiter am Spiel, und als nach einer Stunde abgerechnet wurde, durfte er mit gutem Grunde glauben, daß man sein früheres aufgeregtes Wesen wieder vollkommen vergessen hatte. Immerhin konnte er sich im Nachhausegehen nicht darüber täuschen, daß er, der doch hergekommen war, um sich eines Verbündeten zu versichern, jetzt womöglich noch einsamer und, was das schlimmste war, verdächtiger dastand als vorher.

« XII Flucht in die Finsternis XIV »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.