« XI Flucht in die Finsternis XIII »
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[107]
XII

Die Verlobten suchten in vorstädtischen Bezirken nach einer bescheidenen Wohnung. Sie waren für die nächste Zukunft auf Roberts Beamtengehalt und auf eine geringfügige Rente aus dem Erbteil von Paulas Großeltern angewiesen, und Paula sprach zuweilen davon, ob sie nicht durch Erteilung von Violinlektionen das Ihrige zum Haushalt werde beitragen können. Als bei dieser Gelegenheit einmal der Name des verstorbenen Komponisten fiel, ließ Robert einen Blick auf ihr ruhen, der eine Erklärung zu erbitten, ja zu fordern schien.

Sie standen auf dem kleinen Balkon der eben von ihnen gemieteten Wohnung. Es war eine Spätnachmittagsstunde, der erste Schnee dieses Winters fiel leise, und ein graues Dämmern sank in die kleinen, ärmlichen, entlaubten Gärten, die, durch niedere Mauern voneinander getrennt, ihnen zu Füßen lagen. Paula zog die dunkle Pelzboa fester um den Hals, trat mit Robert in das kahle, frisch geweißte Zimmer zurück, wo die Hausbesorgerin mit dem Schlüsselbund ihrer wartete, um sie über die schmale, durch freihängende Glühlampen nur notdürftig erleuchtete Stiege und [108] durch den Flur, in dem Bretter und Kacheln herumlagen, ins Freie zu geleiten; und nun gingen sie schweigend weiter, Arm in Arm, durch mäßig belebte Straßen einer stilleren Gegend zu, wo kleine Vorgärten den Beginn des Villenviertels ankündigten. Hier blieb der Schnee schon liegen, während er früher unter ihren Schritten in trübes Grau zerflossen war. Endlich begann Paula: „Ich habe deinen Blick dort oben wohl verstanden. Du hast also auch davon reden gehört?“

„Wie sollt’ ich nicht? Die Geschichte war ja fast berühmt.“

„War sie das?“ Sie lächelte vor sich hin.

„Wie lang ist’s her, daß er tot ist?“ fragte er leise.

„Sieben Jahre“, erwiderte sie.

„Du hast ihn geliebt?“

„Er hat mir viel bedeutet. Aber geliebt habe ich ihn nicht. Geliebt hab’ ich einen andern. Davon haben die Leute freilich nicht gesprochen, es wäre auch nicht besonders interessant gewesen. Der andere war nämlich ein ganz unberühmter, junger Advokat. Vielleicht hast du ihn gekannt.“ Und sie nannte den Namen eines jungen Mannes, dem Robert zuweilen flüchtig in Gesellschaft begegnet war.

„Ein ganz hübscher Mensch“, bemerkte er beiläufig.

„Ja, das war er wohl – und um zwanzig Jahre jünger als der andere.“

[109] „Und wie kommt’s, daß auch daraus nichts geworden ist?“

„Ich weiß selber nicht recht. Wahrscheinlich lag es daran, daß beide Geschichten zu gleicher Zeit spielten. Und so hat sich meine Seele bald dem einen, bald dem andern zugeneigt.“

„Deine Seele …“, wiederholte er leise und nahm ihre Hand.

Sie umfaßte mit ihren Fingern die seinen. „Du hast recht. Es war nicht die Seele allein. Aber gefährlich wurde es doch niemals; weder da, noch dort. Vielleicht, weil ich nicht wußte, wohin mit mir. Und so ist ‚nichts draus‘ geworden, wie du früher sagtest, weder eine Ehe, noch sonst was … nichts.“

„Und du bereust nicht, – daß du vielleicht ein Glück versäumt hast?“

„Zuweilen ist es schon vorgekommen, das will ich nicht leugnen. Aber du vergißt, mein Lieber“, und sie lächelte müd, „ich bin aus guter Familie.“

Er erwiderte nichts, und sie wandelten weiter im leise herabsinkenden Schnee. Wie rein ist solch ein Leben, dachte er bei sich, wie fleckenlos und rein. Bin ich ihrer wert? Sie weiß, daß ich mancherlei erlebt habe. Doch sie fragt um nichts. Nun ja, warum sollte sie auch neugierig sein? Sie vermutet in meinem Leben nichts anderes als das, was junge Männer eben durchzumachen pflegen. Von dem Dunkel in meiner [110] Seele ahnt sie nichts. Nichts von vergangenen, bösen Wünschen, die heute noch als Gespenster in mir umgehen, nichts von der Angst, die mich in schlimmen Stunden bedrückt, nichts von dem Brief, der in meines Bruders Händen ist, von dem furchtbaren Brief, der ihm Gewalt über mein Leben gibt.

Plötzlich fühlte er eine würgende Angst in sich aufsteigen, eine ganz neue, und doch wieder die alte. Wieso fiel ihm der Brief mit einem Male wieder ein? Was hatte der Brief denn heute noch zu bedeuten? Er hatte doch nur Geltung für einen bestimmten Fall; und dieser Fall lag nicht vor, konnte niemals eintreten. Er war nicht wahnsinnig; er war gesund. Aber was half ihm das, wenn ihn andere für wahnsinnig hielten? Was half es ihm, wenn am Ende der eigene Bruder ihn für wahnsinnig hielt? Konnte es nicht geschehen, daß grade die wundersame Veränderung seines Seelenzustandes, dieses Aufschweben, diese Gelöstheit, diese Heiterkeit seines Wesens, einem getrübten Blick die Anzeichen einer herannahenden Geistesstörung vortäuschten? Vor wenigen Tagen erst hatte sich Marianne ihm gegenüber mit wachsender Besorgnis über ihres Gatten blasses und abgespanntes Aussehen geäußert; – als Robert daraufhin eine brüderliche Mahnung an Otto wagte, war ihm das unverhältnismäßig Gereizte, fast Barsche in dessen Antwort aufgefallen, und in der Erinnerung [111] schien ihm sogar, als hätte in der letzten Zeit Ottos Gang und Haltung einen eigentümlich veränderten Charakter angenommen. Sollte er kränker sein als ich, dachte Robert? – Er – der Kranke – er allein?

„Was ist dir?“ fragte Paula. „Habe ich dir weh getan?“

Er faßte sich. „Geliebte“, flüsterte er und drückte ihr die Hand. Aber seine innere Unruhe vermochte er nicht mehr zu beschwichtigen. Er dachte an die tückische Schicksalsmöglichkeit, daß grade jetzt, da er sich dem Dasein wiedergegeben und zu einem stillen Glück bestimmt wähnte, sein unglückseliger Bruder sich zur Einlösung jenes furchtbaren Versprechens berechtigt und verpflichtet glauben könnte. Um seine plötzlich verdüsterte Stimmung zu entschuldigen, hielt er es für angezeigt, Paula mitzuteilen, daß er seit einigen Wochen von ernstlichen Sorgen um den Gesundheitszustand seines Bruders gequält werde, der sich in seinem Beruf immer mehr zugemutet habe, als auch die angespanntesten Kräfte dauernd zu leisten vermöchten. Er sprach von ihm mit Liebe, ja mit Schwärmerei, und fühlte dabei sein Herz von schmerzlich brennendem Mitleid schwellen.

Bewegt hörte Paula zu. Sie kannte Otto nur wenig, doch aus der Entfernung hatte sie ihm seit jeher lebhafte Sympathie entgegengebracht, die sie bei einer [112] zufälligen Begegnung voriges Jahr am Krankenbett einer Freundin bestätigt und gerechtfertigt fand. Roberts Äußerungen steigerten ihre Teilnahme weiter; sie bat ihn, den gemeinsamen, dort längst erwarteten Besuch nicht länger hinauszuschieben, und so setzten sie ihn gleich für den nächsten Tag fest.

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