« X Flucht in die Finsternis XII »
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[104]
XI

Er ließ drei Tage verstreichen, ehe er seinen Besuch bei Rolfs wiederholte. Er wurde wie ein alter Freund empfangen, fühlte sich wundersam zu Hause, blieb zum Abendessen und verabredete vor dem Weggehen mit Paula für morgen einen Spaziergang im Dornbacher Park. Dort draußen, unter entlaubten Bäumen, im lauen Nebel eines windstillen Novembertags, erzählte ihm Paula von ihrer frühen Mädchenzeit, und zum erstenmal sprach sie den Namen des Komponisten aus, mit dem ein Gerücht sie vor Jahren in so nahe Beziehung gebracht hatte. Auch von ihren Eltern sprach sie, und Robert glaubte zu erkennen, daß nichts schmerzlicher in ihr nachwirkte als das Verhältnis zu ihrem Vater, dessen zugleich verschlossenem und zärtlichkeitsbedürftigem Wesen sie in all ihrer Kindesliebe innerlich nahezukommen nicht vermocht hatte.

Am nächsten Abend klang der vertraute Ton der gestrigen Unterhaltung in ihnen beiden nach; nach langer Zeit zum erstenmal wieder nahm Paula ihre Geige zur Hand und spielte, von Robert begleitet, eine Beethovensche Sonate. Beide freuten sich an [105] dem für einen ersten gemeinsamen Versuch wohlgelungenen Zusammenspiel, dem auch die Mutter mit Vergnügen lauschte; und sie beschlossen, von nun an allabendlich miteinander zu musizieren.

Nicht immer hatte die Mutter Lust oder Zeit, zuzuhören, und so blieben sie oft zu zweien. Es waren Stunden des reinsten Glücks, in denen sie sich, ohne es in Worten auszudrücken, immer inniger aneinanderschlossen; und als er eines Abends nach dem Verklingen des letzten Tons sich erhob und das Notenheft zuklappte, sah sie ihm, die Geige noch in der Hand, ernst und wie fragend ins Auge, worauf er, wie zur Antwort, einen Kuß auf ihre Stirn und dann auf ihre Lippen drückte. Sie schwiegen lange. Als er endlich etwas sagen wollte, wehrte sie leise ab. „Heute nichts mehr, ich bitte dich darum“

Er ging. Als er aus dem Haustor trat, wurde ein Fenster über ihm geöffnet. Er blickte hinauf, Paula, einen weißen Schal dicht um den Hals geschlungen, stand oben in der Dunkelheit und winkte ihm ihren Nachtgruß zu.

Beim Nachhausekommen fand er einen Brief vor. Er kam aus Amerika, die Adresse verriet Albertens Schriftzüge. Also – sie lebte. Das Gefühl von Freude, ja von Befreiung, das ihn plötzlich durchströmte, brachte ihm zum Bewußtsein, daß auf dem Grund seiner Seele jener überwunden geglaubte Wahn immer [106] noch gelauert hatte. Albertens Brief war kurz, sachlich und zeigte wieder jene Unfähigkeit, auch anläßlich der sonderbarsten Schickungen in Erstaunen zu geraten, die ihr in noch höherem Grade als so vielen anderen Frauen eigen war. Sie lebte, wie aus ihrem Brief hervorging, in Chikago und war verheiratet, aber nicht mit dem Amerikaner, in dessen Begleitung sie hinübergereist war, sondern mit einem deutschen Kaufmann, den sie erst drüben kennengelernt hatte. „Im nächsten Sommer“, hieß es weiter, „wollen wir nach Europa reisen, und wenn wir nach Wien kommen und Du noch an mich denkst und Du mich sehen willst, werde ich Dir viel zu erzählen haben.“ Dann fragte sie, wie es ihm ergangen sei und ob er nicht, was sie ihm von Herzen wünsche, eine liebe, kleine Frau gefunden habe, die ihn nicht so nervös mache, wie es ihr, freilich ganz ohne ihre Schuld, leider öfters begegnet sei.

In froher Erregung ging Robert in seinem Zimmer auf und ab. Ihm war, als sei durch diesen Brief eine düstere, gefahrvolle Epoche seines Lebens ein für allemal abgeschlossen. Bedurfte es eines solchen Schriftstückes auch nicht mehr zu seiner eigenen Beruhigung, es war unschätzbar als Beweismittel gegen Anschuldigungen und Verdächtigungen aller Art, und er verwahrte den Brief sorgfältig, ehe er sich zu Bett legte.

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