Fehlgeschossen! (Gartenlaube 1868/39)
[624] Fehlgeschossen! Victor Hugo hat eine förmliche Leidenschaft, aller Welt etwas Schönes, merkwürdig Geistreiches sagen zu wollen; natürlich werden ihm, wie jedem bekannten Dichter, eine Unmasse von Gedichten und Dramen zur Beurtheilung zugeschickt oder ihm selbst gewidmet, auf die er in den gesuchtesten, übertriebensten und zuweilen fast unsinnigen Ausdrücken antwortet. Auf eine Ode erwiderte er z. B.: „Sie gingen vorüber, Meister, und erleuchteten meinen Weg.“ Ein amerikanischer Dichter widmete ihm eine Romanze, darauf entgegnete er die denkwürdigen Worte: „Sie besitzen eine erhabene Inspiration; die milden Ströme Ihrer harmonischen Rede verleihen meinen Gefühlen eine neue Jungfräulichkeit. Ich drücke Ihnen über den Ocean die Hand.“ In Entgegnung auf eine ihm übersandte Zeichnung schrieb er: „Beim Anblick Ihres Bildes ergriff mich ein Schwindel – Ihre Linien sind Verse, Sie dürfen Gott Du nennen.“
Neulich passirte ihm bei einer ähnlichen Gelegenheit jedoch ein kleiner Mißgriff. Ein braver Maurer in Roubaix, der von dem Dämon der Poesie geplagt wurde, richtete ein Schreiben in Versen an den Dichter, auf welches Victor Hugo folgende Worte erwiderte: „Ich sehe deutlich in Ihren Versen Ihr Bild – jeder Ihrer Gedanken kam aus einem von blonden Locken umwallten Haupte. O mein Kind, mögen Sie noch lange diese blonden Locken behalten, welche die Scheere des Alters noch nicht berührt hat!“
Der poetische Maurer, ein Mann von fünfundsechszig Jahren, machte bei dem Durchlesen dieses Briefes ein sehr verdutztes Gesicht.
Victor Hugo hat übrigens kürzlich die langjährige Gefährtin seines Lebens, seine treffliche Gattin verloren, welche Ende August zu Brüssel im Kreise ihrer Familie plötzlich von einem Schlaganfall hinweggerafft wurde. Er war seit fünfundvierzig Jahren mit ihr verheirathet, denn im Jahre 1823 fand die Vermählung des jungen Paares statt – der Bräutigam, Victor Hugo, zählte damals zwanzig, die Braut, Adele Foucher, erst fünfzehn Jahre.