Erkältung (Die Gartenlaube 1898/1)

Textdaten
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Autor: Dr. E. Heinrich Kisch
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Titel: Erkältung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 26–28
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Erkältung.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.

Es gab eine Zeit, da führte man all die Gebresten, welche das schwache Menschengeschlecht plagen, auf „Erkältung“ zurück, und dann kam wieder eine Periode, in welcher man jedermann verlachte, welcher der Erkältung irgend eine Bedeutung beizulegen sich unterfing. Die ärztliche Wissenschaft der Gegenwart nimmt einen vermittelnden Standpunkt ein. Zwar ist der Begriff der Erkältung noch nicht vollkommen geklärt und die Art ihrer krankmachenden Wirkung noch keineswegs widerspruchsfrei dargelegt – allein darüber herrscht kein Zweifel mehr, daß unter den Krankheitsursachen dem Vorgange der Erkältung eine weder seltene noch unbedeutende Rolle zukommt. Man denkt dabei an die nachteilige Wirkung, welche die Kälte besonders durch plötzliches Eintreten, oder durch den Wechsel nach bedeutender Wärme, oder durch unmittelbare Berührung mit unbedeckten Körperteilen des Menschen auf den gesamten Organismus ausübt, und schreibt die Vermittlung dieser Verkühlung in erster Linie der Haut zu.

Unsere Haut, welche die sorgsam schützende Hülle des ganzen Menschen bildet, hat eine Fülle von bemerkenswerten Funktionen. Durch diese allgemeine Bedeckung findet ein Gaswechsel, ähnlich wie durch die Lungen, statt, indem Kohlensäure und Wasser ausgeschieden, Sauerstoff und andere gasförmige Körper aufgenommen werden; durch die Haut wird der Schweiß abgesondert und ein wesentlicher Einfluß auf die Wärmebildung im Körper geübt. Sie vermag ferner manche flüchtigen Stoffe aufzusaugen, ganz besondere Bedeutung aber hat sie als Sinnesorgan. In der Haut befinden sich Nervenfasern und eigene, mit den Nervenenden verbundene Apparate, durch welche die Empfindungen von Druck und Schmerz zum Bewußtsein gelangen, durch welche der Gefühlssinn, der Tastsinn, der Ortssinn sowie der Temperatursinn zum Ausdrucke kommen. Physiologische Untersuchungen der Neuzeit haben dargethan, daß in der Haut gesonderte Nervenapparate für Empfindung von Wärme und Kälte vorhanden sind und daß der Wärmesinn an Stärke und Kraft weit geringer angelegt ist als der Kältesinn.

Der menschliche Körper, in welchem der innere Verbrennungsprozeß stets Wärme erzeugt, hat durch merkwürdige (hier nicht zu erörternde) Einrichtungen die Eigentümlichkeit, im gesunden Zustande eine gleichmäßige Körpertemperatur, welche etwa 37° C. beträgt, zu bewahren. Diese Eigenwärme wird vom Körper am leichtesten bei einer Temperatur der uns umgebenden Luft von 27° C. behauptet, er kann sie aber auch bei Einwirkung von Kälte in kürzerer Dauer und bis zu bestimmten Graden infolge besonderer Schutzvorrichtungen gegen Temperaturangriffe wahren. Hochgradige oder längere Zeit einwirkende Kälte der äußeren Umgebung bringt bedeutenden und dauernden Abfall der Körpertemperatur nicht nur an der Oberfläche, sondern auch an den inneren Organen zustande. Dieser Abfall der gesamten Temperatur des Körpers erscheint, wenn die Abkühlung gewisse Grenzen erreicht hat, für das Leben bedrohlich; Körpertemperaturen unter 22° C. sind an Lebenden nicht beobachtet worden. Auch in geringerem Grade verminderte Wärme der Luft führt durch die Berührung der Haut mit der kälteren Luft und durch die Einatmung derselben zu vermehrtem Wärmeverluste, welcher von gesunden Menschen leicht vertragen wird, bei schwächlichen, in ihren Kräften erschöpften und in ihrer Wärmebildung heruntergebrachten Personen aber als schädlich empfunden wird und sich in mancherlei Störungen der Organthätigkeiten bekundet.

Weit größer und häufiger sind diese Störungen, wenn die Kälte, auch selbst in geringeren Graden, ganz plötzlich, unvermittelt das Hautorgan trifft, besonders dann, wenn dieses gerade im Zustande einer höheren Erwärmung sich befindet, wobei die Hautgefäße erweitert sind, eine reichlichere Menge Blut die Haut durchströmt oder die Schweißabsonderung derart stark vor sich geht, daß sich der Schweiß als wahrnehmbare Flüssigkeitsmenge an der Hautoberfläche ansammelt. Das plötzliche Verdrängen des Blutes aus den Hautgefäßen durch die Kälte und das Stauen dieses Blutes gegen die inneren Organe, die jähe Unterdrückung der Abgabe des Wasserdunstes von der Haut, die gewaltsame Störung der eben erhöht eingeleiteten Wärmeabgabe von der Körperoberfläche, die lähmende Einwirkung des raschen Kälteangriffs auf die Hautnerven, das sind Schädlichkeiten, welche sich summierend zur Erkältung gestalten und Störungen der Nervenleitung wie der Blutverteilung im gesamten Körper herbeiführen, zu Erkrankungen der äußeren Haut, der Muskeln, Nerven, der Schleimhäute, wie innerer lebenswichtiger Gewebe Anlaß geben können.

Da fährt z. B. jemand während einer kalten Winternacht im überheizten Eisenbahnwagen und sucht sein von Schweiß [27] bedecktes, erhitztes Gesicht dadurch angenehm zu kühlen, daß er das Fenster rasch öffnet und die scharfe kalte Luft auf sich einwirken läßt. Nach kurzer Zeit nimmt er mit Schrecken wahr, daß die dem Fenster ausgesetzte Gesichtshälfte gelähmt erscheint, das Gesicht verzogen, der Mund schief stehend, die Augenlidspalte weit geöffnet ist, die Gesichtsmuskeln ihren Dienst versagen, das Auge nicht geschlossen, der Mund nicht zum Pfeifen oder Schlürfen von Flüssigkeit gespitzt werden kann, die Sprache undeutlich ist, die Zunge nach der Seite abweicht, das Lachen und Weinen auf dieser Seite wie hinter einer Maske geschieht. In diesem Falle kann man wohl Erkältung als Ursache dieser Gesichtslähmung annehmen, indem der plötzliche Wechsel von Hitze und Kälte auf die von der Haut wenig bedeckten, empfindlichen Nervenverzweigungen des Gesichtsnervs schädigend eingewirkt hat. Und wenn ein junges Mädchen, das, innerlich und äußerlich glühend, dem Ballsaale im leichtesten Tanzkleide und dünnen Schuhen enteilt und sich rasch im Freien Kühlung zu verschaffen sucht, den nächsten Tag wegen starker Heiserkeit das Bett hüten muß, so kann sie ob dieser Erkältung – von Glück sagen, denn durch die scharfe kalte Luft, welche auf die blutüberfüllten Schleimhäute der Atmungsorgane reizend einwirkte, hätten ebenso leicht wirkliche Entzündungen des Lungengewebes hervorgerufen werden können. In ähnlicher Weise können durch das rasche Eindringen der Abkühlung die Muskeln, welche die Wärme aufstauen und Wärme selbst erzeugen, betroffen werden und einer rheumatischen Entzündung als Folge von Erkältung verfallen, können die Eingeweide, Magen und Darmkanal, ganz besonders auch die Nieren mehr oder minder schwere krankhafte Veränderungen erleiden. Die Erfahrung hat erwiesen, daß besonders gewisse Arten von plötzlicher Abkühlung zur Erkältung und deren Folgekrankheiten führen, nämlich Durchnässung des erhitzten Körpers, Stehen mit feuchtkalter Fußbekleidung, Arbeiten in nassen Räumen, Schlafen in kühler Luft auf kaltem Fußboden, kaltes Baden bei erhitztem Körper, rascher Wechsel des Aufenthaltes im warmen Raume und in kalter Luft. Hingegen ist der schädliche Einfluß der „Zugluft“, welche im Volksglauben eine so große Rolle bei jeglicher Erkältung spielt, noch wenig erhärtet, obgleich sich nicht leugnen läßt, daß sich schon mancher tüchtigen Zahnschmerz auf solche Weise geholt hat. Vielleicht kommt auch jenen kleinsten Lebewesen (Mikroorganismen), welche man jetzt so vielfältig als Krankheitserreger betrachtet, bei dem Zustandekommen der Erkältungskrankheiten eine bisher noch nicht genügend gewürdigte Bedeutung zu, indem die Kälte das Wachstum und die Entwicklung jener Krankheitskeime fördert oder die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen dieselben herabsetzt.

Ist es nun ziemlich sichergestellt, daß die Erkältung ein die Gesundheit gefährdendes Moment bildet, so ergiebt sich selbstredend die hygieinische Lehre, eine Verkühlung des Körpers möglichst zu meiden, jedem Anlasse zu begegnen, welcher zum plötzlichen Temperaturwechsel in unserem Organismus führt. Dazu gehört in erster Reihe eine zweckmäßige, den Jahreszeiten und dem herrschenden Wetter angepaßte Bekleidung, eine nicht bloß moderne, sondern auch wirklich schützende Umhüllung. Besondere Sorgfalt ist einer geeigneten Fußbekleidung zuzuwenden, welche die ganz hervorragend für Erkältungsanlässe empfindlichen Füße trocken und warm halten muß. Der durch den stärkeren Haarwuchs geschützte Kopf vermag auch winters leicht geschützt dem Angriffe der Kälte standzuhalten, aber die Füße müssen warm verwahrt werden. Man erzählt, daß in dem Nachlasse des großen Arztes Boerhave nach seinem Tode ein geschlossenes Couvert gefunden wurde mit der Aufschrift: „Mittel, hundert Jahre alt zu werden.“ Als nun ein Engländer diese kostbare, aus der reichen Erfahrung eines berühmten Heilkünstlers stammende Lebensanweisung für teures Geld erstand, fand er zu seiner Ueberraschung in dem Umschlage nur einen kleinen Zettel, der die Mahnung enthielt: „Füße warm, Kopf kalt, Leib offen!“

Unrichtig wäre es jedoch, aus Furcht vor Erkältung jedes rauhe Lüftchen zu meiden, bei kaltem Wetter nicht auszugehen, sondern in der Stube zu hocken, sich gegen die Kälte ängstlich durch überwarme Kleidung zu schützen, kurz seinen Körper wie eine Treibhauspflanze zu behandeln, bei deren Pflege man stets das Thermometer zu Rate ziehen muß. Es wäre dies ein ebenso thörichtes Beginnen wie das entgegengesetzte Verhalten jener prahlenden Kraftmeier, welche einen besonderen Heldencharakter dadurch zu bekunden suchen, daß sie auch im strengsten Winter kurzes Jäckchen, offene Weste, freien Hals tragen und ihr Frieren mannhaft zu verbergen trachten. Auch hier ist der Mittelweg der einzig richtige. Außerordentlich wichtig ist es jedoch, den Körper von früher Jugend an systematisch an den Wechsel der Temperatur, an die Einwirkung der Kälte zu gewöhnen, ihn gegen die Schädlichkeiten der Erkältung abzuhärten. Dies muß aber schon frühzeitig erziehlich bewerkstelligt werden, denn im späteren Lebensalter oder gar im kranken Zustande ist dies sehr schwierig, ja geradezu gefährlich. Die Kinder sollen geschützt, aber durchaus nicht allzu warm bekleidet sein, sie sollen bei jeder Witterung ins Freie geführt werden und sich daselbst längere Zeit ergehen, sie sollen fleißig körperliche Bewegungen in Form von Jugendspielen in der frischen Luft ausführen, im Winter auf Schlittschuhen laufen. Vor allem aber muß von frühester Jugend an jenem Organe, welches bei der Erkältung die Hauptrolle spielt, nämlich der Haut, besondere Sorgfalt der Pflege zugewendet und diese Hautpflege bis in das hohe Alter hinauf jederzeit aufs genaueste geübt werden.

Die Abhärtung der Haut kann zweckmäßig schon bei dem Wickelkinde beginnen, indem man gegensätzlich zu der allgemein üblichen Einpackung der Kinder, wobei dieselben bis an den Kopf in ein Federbett gewickelt und mit einem Bande fest zusammengeschnürt werden, vielmehr eine leichtere, aber doch genügend warm haltende Bekleidung des Kindes wählt, dieses mit einem Hemdchen und Jäckchen versieht, die Beine in eine Windel einschlägt und dann eine weiche Wolldecke oder ein leichtes Federbett zum Zudecken benutzt. Nebenbei bemerkt, wird dadurch noch der Vorteil erreicht, daß das Kindchen seine Hände und Füße bewegen kann. Den Bädern als einem Hauptmittel zur Reinigung und Pflege der Haut sowie zur Gewöhnung der letzteren an kühlere Temperaturen muß gleichfalls schon in der Kindheit Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im ersten Lebensjahre sollen die Kinder täglich, und zwar in einem warmen Wasser von 28° bis 30° R. gebadet werden.

Später sollen diese Bäder nur zwei- bis dreimal die Woche und um etwa 1 bis 2 Grade weniger warm verabreicht werden. In diesem zweiten Lebensjahre ist es schon möglich, mit der Abhärtung derart zu beginnen, daß das Kind an den Tagen, an denen es kein warmes Bad bekommt, mit kühlem Wasser von 22° bis 20° R. abgewaschen wird, indem man allmählich mit Brust und Rücken beginnt, bis dann die kühlen Waschungen auf den ganzen Körper ausgedehnt werden. Vom fünften Lebensjahre an können schon kalte Bäder von 16° R. zur Anwendung kommen; und wohl dem, der von dieser Zeit an stetig an der Gewohnheit festhält, täglich den ganzen Körper mit kaltem Wasser zu waschen, kalte Uebergießungen vorzunehmen oder kalt zu baden! Abgesehen von dem mächtigen Einflüsse dieser Anwendungsweise des Wassers auf den gesamten Stoffwechsel des Menschen, auf Anregung des Blutlaufs und der Atmungsthätigkeit, wird die Haut durch den methodischen Gebrauch des kalten Wassers an die Kälteeinwirkung gewöhnt, die in der Haut befindlichen Nerven, Blutgefäße und Muskelfasern werden für jähe Sprünge der Temperatur eingeübt und so gegen Erkältung abgehärtet. Das erste unangenehme Gefühl, welches bei dem an kaltes Wasser nicht Gewöhnten unmittelbar nach Anwendung von Kaltwasserprozeduren auftritt, das Gefühl von Schauern, Schütteln sowie Spannung in der Haut, läßt nach kurzer Zeit nach, sobald die sich anfangs zusammenziehenden Hautgefäße wieder erschlaffen und das Blut, welches anfänglich nach Innen gedrängt worden, wieder in die Peripherie zurückgekehrt ist; schließlich stellt sich die Empfindung von Wohlbehagen und neuer Kräftigung ein.

Kalte Bäder, kalte Waschungen zu nehmen, ist aber nicht jedermanns Sache. Bei schwächlichen, blutarmen Personen darf dies nur, am besten erst nach Beratung mit dem Arzte, äußerst vorsichtig geschehen, denn es kann durch die rasche Wärmeentziehung leicht ein starkes Sinken der Körpertemperatur mit Schwächung des Blutumlaufes zustande kommen. In solchen Fällen dürfen nur Bäder mit nicht zu niedriger Temperatur des Wassers und nur wenige Minuten dauernd angewendet werden, oder man läßt ein lauwarmes Sitzbad nehmen und nur Brust, Rücken und Arme mit kaltem Wasser begießen. Sofort nach jeder Kaltwasseranwendung soll der Körper in ein Badetuch oder einen Bademantel eingehüllt und dann gut abgerieben und getrocknet werden; auch ist hiernach mäßige Körperbewegung, ein kleiner Spaziergang [28] empfehlenswert. Personen, die auf solche Weise durch das kalte Wasser an einen raschen Wechsel von Wärme und Kälte gewöhnt sind, erkälten sich ungleich seltener als Menschen, die sich immer in gleichmäßig erwärmten Räumlichkeiten aufhalten und ihrer Haut stets nur mit dem wohligen Gefühle warmer Bäder und Waschungen schmeicheln.

Zum Schlusse sei noch hervorgehoben, daß nach Schädlichkeiten, welche eine Erkältung herbeiführen können, wie kalter Luftstrom auf erhitzte Körperteile, Durchnässen der unteren Gliedmaßen, die Erkältungserscheinungen oft unterbleiben, wenn man dafür sorgt, daß an den betreffenden Teilen durch stärkere Bewegung, Reiben, Klopfen, Massieren ein lebhafterer Blutumlauf sowie eine stärkere Schweißabsonderung dieser Hautpartien herbeigeführt wird. Zu diesem Zwecke leisten bei sonst gesunden Personen auch russische Dampfbäder und römisch-irische heiße Luftbäder, bei denen der ganze Körper heißen Wasserdämpfen oder trockener Luft von hoher Temperatur ausgesetzt wird und reichlicher, allgemeiner Schweißausbruch stattfindet, gute Dienste.