Ein Sommernachtstraum (Die Gartenlaube 1898)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Arthur Sewett
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Sommernachtstraum
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–2, S. 16–26, 52–60
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[16]

Ein Sommernachtstraum.

Novelle von Arthur Sewett.
1.

Endlich der langersehnte Brief!

Rupert ergriff ihn hastig und öffnete ihn mit weniger Ruhe, als es sonst seine Art war. Ja, er war von seinem alten Freunde, der zum Direktor eines neugegründeten Staatsgymnasiums in Berlin kürzlich ernannt worden war. Er sollte ihm die Erlösung bringen, die heiß ersehnte, nie gewährte!

Es giebt nichts Fataleres, als die kühnsten Hoffnungen auf einen Brief zu bauen, diesen nach fieberhafter Erwartung endlich in Händen zu halten – und dann alle kühnen Träume durch ihn zerstört, alle luftigen Schlösser gestürzt zu sehen.

Er war so zuversichtlich gewesen, der ruhig erwägende Freund, der nie mehr versprach, als er halten konnte. Er hatte ihm so sichere Aussicht auf die vakant gewordene Stelle eines ordentlichen Lehrers an seinem Gymnasium gemacht, und nun? Alles dahin, alles vergeblich! Da stand sein Schicksal, schwarz auf weiß.

„Sie glauben nicht, welche Mühe ich mir gegeben habe, aber es war nicht möglich, den Geheimrat zu überzeugen. Ich war heute noch einmal bei ihm im Ministerium – nur Ihretwegen, aber er blieb unerschütterlich. Ein Aelterer steht auf der Liste – der geht vor – es ist nichts zu machen.

Eben wollte ich mich zum Gehen wenden, als er seinem Sekretär klingelte und sich Ihre Papiere vorlegen ließ. Er blätterte in ihnen hin und her – dann wurde er aufmerksam und las. Ich merkte, daß er es nicht ohne Wohlgefallen that. Er nickte einigemal wie zustimmend. Er wurde nachdenklich – ich atmete auf. Eine kleine Pause entstand. Dann riß er sich gewaltsam los aus dem Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, in den sein geheimrätliches Herz geraten. ‚Es hilft nichts, er ist noch nicht alt genug‘ – das war seine letzte Entscheidung, und – entlassen war ich!“ – –

„Noch nicht alt genug! Du meine Güte,“ seufzte Rupert.

Er strich sich über den stark gelichteten Kopf, er streichelte [18] liebevoll die kleinen Falten auf der hohen Stirn und warf einen kurzen Blick in den gegenüberliegenden Spiegel. In dem hübschen, fein geformten Gesicht leuchteten so jugendliche Augen, die Züge waren so frisch und klar; trotz der weichenden Haare und der Falten auf der Stirn war es nicht unmöglich, daß es noch einen älteren Leidensgefährten gab als ihn. „Noch nicht alt genug!“ Wo in der ganzen Welt giebt es auch so alte Leute als unter den Probekandidaten. „Der reine Seniorenkonvent!“ seufzte er mit etwas grimmigem Lächeln. Das Alter muß man ehren! Da hilft nun einmal nichts. Wenn er diese heilige Pflicht nur nicht zu oft schon hätte üben müssen!

Eben wollte er den unheilvollen Brief fortlegen – da fiel sein Blick auf ein bisher nicht beachtetes Postskriptum auf der Rückseite: „Ich gebe Ihnen jetzt einen dringenden Rat und wünschte wohl, daß Sie ihn befolgten. Die Freude an Ihren Zeugnissen, mein fast hartnäckiges Eintreten für Sie hat den pflichtgestrengen Herrn Geheimrat doch etwas weich gemacht. Vielleicht ist noch nichts verloren, wenn Sie sich entschließen könnten, die Reise von den Reichslanden hierher zu machen und sich ihm persönlich vorzustellen. Ist es für dieses Mal vergeblich, dann sicher nicht für die nächste Stelle. Kennenlernen muß er Sie auf jeden Fall. Also wagen Sie es! Sie haben noch sechs Tage bis zum Schluß der Ferien. Da kann viel gemacht sein. Entschließen Sie sich schnell! In meinem Hause sind Sie ein willkommener Gast!“

Einigemal ging Rupert, den Brief in der Hand, in seinem Zimmer auf und ab, einigemal schüttelte er unwillig den Kopf – dann blieb er stehen. „Was hast du dir gelobt, alter Freund, als du vor etlichen grauen Jahren in das verheißungsvolle Amt eines Probekandidaten am Gymnasium dieser Stadt eingeführt wurdest? Eins wolltest du nie verlieren und verleugnen, und wenn man dir seinen Besitz noch so schwer machte: die Geduld, die einem Probekandidaten nötiger ist als das tägliche Brot! Probieren wir’s mit dieser Reise! Suchen wir das harte Herz dieses Geheimrats zu schmelzen – und sei es von Stein! Dem Mutigen hilft das Glück – Fortem fortuna adjuvat!

Er trat ans Fenster, trommelte an die Scheiben und pfiff dazu seinen Lieblingsmarsch: „Vorwärts mit frischem Mut!“ Dann kramte er einen Fahrplan aus einem verborgenen Winkel seines Schreibtisches hervor und blickte hinein. Um Himmelswillen! Schon um vier Uhr ging der Kurierzug – da war keine Zeit mehr zu verlieren!

Er öffnete die Thür seines Zimmers und rief mit durchdringender, weithin schallender Stimme: „Frau Bärchen, Frau Bärchen!“, bis die Gerufene, atemlos und das runde, volle Gesicht gerötet vom Feuer der Küche, in der Stube erschien, den beweglichen Mund zu tausend Fragen bereit. Aber nicht einmal zu einer ließ er sie kommen, so große Anstrengungen sie auch machte.

„Frau Bärchen,“ rief er ihr entgegen, „packen Sie meinen Handkoffer, den Frack, die schwarzen Beinkleider, den Klapphut, die weißen Handschuhe, kurz – Sie wissen ja!“

„Wollen der Herr Doktor schon wieder auf eine Hochzeit?“

„So etwas Aehnliches, meine gute Frau Bärchen, aber bei all der Liebe, die Sie mir je gezeigt, bei all den Versicherungen Ihrer mütterlichen Fürsorge um mich, bei allem noch Teureren, was Ihnen ein besserer Redner ans Herz legen könnte, beschwöre ich Sie, machen Sie schnell, liebste Frau Bärchen – es gilt eine Lebensentscheidung!“

Frau Bärchen schüttelte den Kopf. So spaßig war er immer, der Herr Doktor, und daß er es war, freute niemand mehr als sie.

Irgend welche Aufschlüsse von ihm zu erhalten, wäre für heute aussichtslos gewesen – sie ging und packte eiligst den Koffer. Rupert pfiff einem halbwüchsigen Jungen, der vor der Thür herumlungerte, übergab diesem sein Gepäck, drückte der noch nicht zu Atem gekommenen Frau Bärchen die fette Hand und schlug den Weg zum Bahnhof ein.


2.

„Station Appenweier! Umsteigen nach Karlsruhe, Heidelberg, Frankfurt!“

Rupert war auf der Fahrt aus dem Elsaß ins Badische in dem heißen Coupé ein wenig eingeschlafen, als ihn dieser Ruf des Schaffners weckte.

Der Zug war eben hereingebraust. Rupert ging von Coupé zu Coupé; es war Ende Juli, die Hauptreisesaison – vollends in dieser Gegend! Ueberall indignierte, entrüstete Gesichter – überall das eine brummende Echo: Alles besetzt! – Er wandte sich an den Schaffner; auch das vergebens. Endlich erbarmte sich der Zugführer seiner und öffnete ihm ein Coupé erster Klasse.

Hier war es leerer. Nur zwei Personen befanden sich in diesem Raume, ein älterer Herr und eine junge Dame.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Rupert hatte Zeit, seine Mitreisenden genauer zu betrachten. Ueber der Gestalt des älteren Herrn, der trotz der schwülen Hitze straff und kerzengerade auf dem Polster saß, lag jenes unverkennbare Wesen, das auch im Civilanzug den Militär nicht verläßt. Er sitzt wie auf dem Pferde, dachte Rupert bei sich. Das sonnenverbrannte, strenge Antlitz mit seiner unnahbaren Vornehmheit, der martialische weiße Schnurrbart, die kräftigen Lippen darunter, die nur zum Kommandieren sich zu öffnen schienen und die ein wenig hochmütig aufgeworfen waren, bestärkten ihn in seiner Ansicht.

Ob er aktiver Offizier war oder verabschiedeter? Er hatte graue, fast weiße Haare. Das kommt heute bei aktiven Offizieren kaum noch vor. Da dürfen selbst die Herren Obersten nicht anders aussehen als ein schneidiger Premierlieutenant! Es ist eben eine andere Welt wie bei uns Probekandidaten – hier heißt es nie: nicht alt genug, sondern immer nur: nicht jung genug.

Folglich ein Offizier a. D., kalkulierte Rupert mit unbeirrter Sicherheit weiter, ein Major a. D. – nein, dazu sah er denn doch zu martialisch, zu schneidig aus, Oberst mindestens! Um so mehr eine verschollene Größe – eine Ruine alter Pracht und Herrlichkeit! Hat nun nichts anderes zu thun, der alte Herr, als in der weiten Welt herumzukutschieren! Brauchtest dich übrigens gar nicht so zu „haben“, Alterchen, denn wenn ich auch nur ein armer Probekandidat bin, ich bin noch jung, zu jung sogar – ich bin Zukunft, und du – du bist Vergangenheit, wenn du es auch selbst noch nicht zu glauben scheinst und mich mit deinen stolzen Augen ansiehst, als müßte ich die ganze Fahrt bis Frankfurt vor dir „stramm stehen“.

Mit dem Alten war Rupert fertig, er glaubte seine ganze Lebensgeschichte zu kennen. Aber nun die junge Dame!

Er konnte wenig von ihr sehen. Sie saß in der äußersten Ecke ihm gegenüber, das Köpfchen in die Polsterlehne gestützt. Die Augen schienen geschlossen, der Zugwind spielte in ihren schwarzen Haaren, die sich leise wallend bewegten. Sie schien zu schlafen. Die kleine Hand im gelben Lederhandschuh fuhr freilich dann und wann zum Antlitz, um die widerspenstigen Haare in Ordnung zu bringen, und der zierlich geformte Fuß, der in einem schmiegsamen braunen Strandschuh steckte, klopfte den Fußboden leise wie im Traume.

Obwohl er nichts von ihrem Antlitz sehen konnte, war es Rupert klar, daß es sehr hübsch sein müßte, ein anderes konnte er sich zu dieser Gestalt nicht denken.

Ob sie die Tochter des Obersten sein mochte, ob – ? – Da mit einem Male wandte sie mit einer raschen Bewegung den Kopf – ja, es war seine Tochter! Derselbe leuchtende Stolz in den großen dunkelblauen Augen; um die leise geschürzten Lippen derselbe überlegene Zug, der fast hochmütig erschienen wäre, wenn ihn nicht eben eine Befangenheit gemildert hätte, die einen matten Hauch von Röte über die zarten Züge goß und ihnen einen Liebreiz lieh, wie Rupert ihn nie gesehen. Freilich nur für eine kurze Sekunde. Gleich darauf blickten die dunklen Augen schon wieder sehr kühl und gleichgültig auf den Eindringling und wandten sich dann zu dem alten Herrn, als wollten sie sagen: Wir sind nicht mehr unter uns, nicht einmal in der ersten Klasse ist man vor allerlei Publikum sicher.

„Der alte Tick!“ murmelte er in sich hinein. „Solche Oberstentochter a. D. – aber sie sind immer dieselben. Pah!“

Er lehnte sich jetzt seinerseits mit vornehmer Nachlässigkeit in die Wagenecke. Versuchen wir ein wenig zu schlafen!

Er schloß die Augen, aber er öffnete sie bald wieder. Es wurde ihm nicht leicht, den Blick auf längere Zeit von seinem Gegenüber zu wenden, das ihm immer lieblicher erschien. Dieses zwar nahm ebensowenig Notiz von ihm wie der alte Herr. Sie unterhielten sich von den Erlebnissen einer soeben beendeten Reise. Die Erinnerungen mußten sehr schön sein; der alte Herr schmunzelte unter dem dichten Schnurrbart so freundlich; die [19] junge Dame lachte einigemal hell auf, ihre Augen leuchteten so glückerfüllt. Sie strich zärtlich mit ihrer kleinen Hand über die starkgebräunte des Vaters – sie waren wieder ganz unter sich!

„Zu gut hast du alles gemacht, Väterchen – mit keinem anderen möchte ich reisen als mit dir, es kann’s auch keiner so verstehen!“

„Und siehst du,“ erwiderte der alte Herr geschmeichelt, „alles auf die Minute, genau wie wir es uns vorgenommen. Ja, ja, man muß alles lernen – auch das Reisen, mein Kind! Wie viel kostbare Zeit habe ich früher vergeudet auf meinen Fahrten, aber jetzt bin ich ein Praktikus. Bevor ich eine solche Reise antrete, wird gearbeitet – fleißig gearbeitet –“

„Du hast ja auch weiter nichts zu thun,“ dachte Rupert bei sich und wandte den Blick nicht von der jungen Dame, obwohl er die Augen halb geschlossen hatte und so that, als schliefe er allen Ernstes.

„Da wird der Plan gemacht wie ein Schlachtplan!“ fuhr der alte Herr mit sichtbarem Behagen fort. „Tag für Tag, Stunde für Stunde, und dann – wie es auch komme – keine Abweichung. Das kann ich nicht vertragen. Das stürzt die ganze Taktik. Nur so war es möglich, dir in der kurzen Zeit ganz Oberitalien zu zeigen und noch ein gut Stück der Schweiz. Doch nun, mein Herz – es ist fünf Uhr vorbei – du weißt, das ist meine Mahlzeitstunde auf solch einer Eisenbahnfahrt.“

Die junge Dame erhob sich. Flugs streifte sie den Handschuh von der weißschimmernden Hand, flugs nahm sie die zierliche Handtasche aus dem Netze, breitete eine kleine Serviette über die Kniee des Vaters, gab ihm eine zweite in die Hand und reichte ihm aus den weißen Pergamenthüllen eine Buttersemmel, so reich und appetitreizend zubereitet, daß Rupert das Wasser im Munde zusammenlief, obwohl er es sonst wenig liebte, auf der Eisenbahn etwas Mitgebrachtes zu genießen. Ein Hühnerflügel folgte, den sie geschickt mit einem kleinen Messer tranchierte, dann kam ein Ei, das sie in Salz wälzte, und Semmel und Huhn und Ei verzehrte der alte Herr mit einem so großen Wohlbehagen, daß Rupert einen Appetit dabei bekam, wie er ihn kaum im Leben empfunden.

In diesem Augenblick entglitt ein kleines Gläschen den geschäftigen Händen des Fräuleins und fiel so unglücklich, daß es klirrend zersprang. Das Fräulein wurde purpurrot. Rupert kam ihr zuvor und sammelte die Scherben. Er that es mit größerem Geschick, als es ihm sonst in solchen Dingen eigen war. Die junge Dame dankte ihm mit leiser Verbindlichkeit, und wieder errötete sie. Dieses schnelle Erröten bei den geringfügigsten Gelegenheiten wiederholte sich später noch öfter – es schien eine Eigentümlichkeit von ihr zu sein, und wie es meist in solchen Fällen ist, so schien sie dieselbe zu kennen und gar nicht angenehm zu empfinden. Aber gerade diese Eigentümlichkeit und die Befangenheit, die mit ihr verbunden war, stand ihr wunderbar gut zu Gesichte; sie erhöhte den mädchenhaften Reiz der feinen Züge und entzückte Rupert jedesmal von neuem.

Indessen war der alte Herr beim Käse angelangt, den er auf Pumpernickel zu speisen beliebte.

„So, mein Kind,“ sagte er dann, sorgsam mit der Serviette den Mund streichend und den fein gepflegten Bart bürstend, „noch eine gute Stunde, und wir sind in Heidelberg.“

„Und du wolltest nicht, Väterchen –?“

„Nein, mein liebes Kind, dieses Mal nicht. Du weißt, ich gehe nie von meinen Vorsätzen auf Reisen ab, und in Heidelberg zu bleiben, haben wir nicht geplant.“

„Ich hätte Heidelberg so gern gesehen,“ warf die junge Dame sehr zaghaft und schüchtern ein.

„Ein anderes Mal, liebes Kind, ein anderes Mal! Was ist Heidelberg auch für jemand, der aus der Schweiz kommt und Italien. Nein, wir fahren bis Frankfurt durch. Du siehst, hier steht es in meinem Notizbuch: ,den 23. Juli abends 8 Uhr 12 Minuten in Frankfurt. Abendbrot im Palmengarten.‘ Ich sage dir, schöner kannst du nirgend in der Welt soupieren als in diesem Palmengarten. Laß mich nur machen. So lange sind wir konsequent gewesen, wir wollen es auch bis zum Schluß bleiben!“

Die junge Dame wagte keine Einwendungen mehr.

„Apropos!“ rief der alte Herr, „um die Hauptsache nicht zu vergessen – jetzt meinen Cognac!“

„Jawohl, Väterchen.“ Sie sagte es mit einem leisen Anflug von Befangenheit im Tone. Und diese Befangenheit wurde sichtbarer und stärker. Sie kramte und suchte mit wachsender Hast in der kleinen Reisetasche, sie nahm mit bebender Hand Stück für Stück heraus – alles vergeblich! Die Cognacflasche fand sich nicht.

„Nun?!“ fragte der alte Herr schon etwas ungeduldig.

„Väterchen – den Cognac – den muß ich in der Eile der Abreise in Basel liegen gelassen haben – ich finde ihn nicht.“

„Aber Kind!“ rief der alte Herr höchst unwillig – „den Cognac gerade! Alles hättest du in Basel liegen lassen können, aber den Cognac nicht! Du weißt, daß ich ohne Cognac auf der Reise nicht leben kann.“

„Hier ist guter Rotwein – auch noch etwas Portwein!“

„Geh’ mir mit dem Wein – ich kann auf der Fahrt nur Cognac trinken. Nur der bekommt mir. Und den gerade mußt du vergessen!“

„Alter Tyrann!“ räsonnierte Rupert in grimmigen Gedanken, aber seine Außenseite zeigte eine Teilnahme, ein Bedauern mit dem alten Herrn, die dem größten Komödianten alle Ehre gemacht haben würde. Was hätte er darum gegeben, eine Flasche Cognac in der Reisetasche zu haben!

„Wo ist der nächste Aufenthalt?“ knurrte der alte Herr.

Die junge Dame nahm das Kursbuch. „Karlsruhe,“ erwiderte sie.

„Wie lange?“

„Vier Minuten.“

„Gut – dann kann ich dort eine Flasche kaufen.“

„Aber, Väterchen – vier Minuten?!“

„Aha,“ lachte der alte Herr. „Du meinst, mir wird es so gehen wie unserem jungen Pärchen da in Zürich auf der Hochzeitsreise, wo er auf dem Bahnhofe sitzen blieb und sie allein weiter reiste? Ohne Sorge, liebes Kind – das passiert einem erfahrenen Reisepraktikus nicht! Ist das schon Karlsruhe?“

Der Zug fuhr einen Augenblick langsam, dann hielt er. Der alte Herr erhob sich, winkte seiner Tochter „Auf Wiedersehen“, und fort war er, den weit entfernten Wartesälen zu, mit der Geschmeidigkeit eines Jünglings.


3.

Es war ein unendliches Gewühl auf dem Bahnhof, ein Andrang, wie er selbst in dieser Zeit selten ist. Mehrere Züge standen zugleich auf den vielen Geleisen, gefüllte und leere – Lokomotiven rangierten hin und her, Klingeln, Glockensignale ertönten, Beamte wetterten, Warnungsrufe klangen dazwischen.

Die junge Dame blickte von ihrer Ecke aus nachdenkend auf das Getriebe und Gewoge. Es lag jetzt ein sinnender, fast wehmütiger Ausdruck in den dunklen Augen.

Mit einem Male – was war das?!

Jäh fuhr sie in die Höhe. Nein, es konnte nicht sein – es war unmöglich – es war sicher der andere Zug – der neben ihr auf dem nächsten Geleise – es war eine Täuschung wie so oft, auf den Bahnhöfen gerade – doch nein – nein!

„Um Gottes willen!“ rief sie, „geht unser Zug schon?“

Rupert war so in ihren Anblick versunken gewesen, daß er ebenfalls von dem Abgang nichts gemerkt hatte.

„Wahrhaftig – er geht!“ antwortete er, sich erhebend.

„Mein Vater – mein Vater! Lassen Sie mich aussteigen, ich bitte Sie, lassen Sie mich –“

Er hielt sie zurück.

„Mein gnädigstes Fräulein, der Zug ist in der Fahrt!“

„Das hilft nichts – ich kann doch unmöglich ohne meinen Vater ... Daß Sie das nicht einsehen! ... Herr Stationsvorsteher, ich bitte Sie, lassen Sie halten!“

Der Stationsvorsteher zuckte bedauernd die Achseln.

Der Zug fing an, sich in ein schnelleres Tempo zu setzen.

Das Fräulein, das bisher suchend und winkend aus dem Fenster gelehnt hatte, trat zurück. „Nein dies Unglück – mein Vater!“

Rupert bedauerte die junge Dame von Herzen, aber hinein in dieses Bedauern stahl sich die Freude. War es ein wenig Schadenfreude über den siegessicheren Reisepraktikus, war es der Reiz, mit dieser jungen, schönen Dame allein zu sein, die ihm so stolz und unnahbar erschienen war, und sie nun auf seinen Rat und seine Hilfe angewiesen zu wissen?

Als er aber auf das Fräulein blickte, als er sah, wie der leuchtende Stolz plötzlich aus den dunklen Augen gewichen war, wie sie so verlassen, so hilfesuchend zu ihm herüberschaute, mit den Thränen ringend, und wie jetzt trotz aller ihrer Tapferkeit [22] ein großer blinkender Tropfen an ihren Augenlidern hing und langsam die bleiche Wange hinunterrollte, da erschien ihm dies Empfinden fast wie ein Unrecht. Und jedes andere Gefühl ging unter in dem herzlichsten Mitleid mit ihr, in dem einen Wunsche, ihr in ihrer Verlegenheit zu helfen.

„Aber, mein gnädigstes Fräulein,“ rief er, „was in aller Welt ist denn geschehen, daß Sie gleich so zu verzweifeln brauchten?! Ihrem Herrn Papa ist ein kleines Malheur passiert, das jedem, auch dem erfahrensten Reisenden, alle Tage zustoßen kann – er ist doch nicht verschwunden – Sie werden ihn bald wieder haben!“ Viel früher gewiß als es mir lieb ist, setzte er in Gedanken seufzend hinzu.

„Aber wie sollen wir uns wieder treffen, wie soll ich wissen, wo er ist?“

„Nichts einfacher als das – Sie telegraphieren ihm –“

Sie sah erstaunt auf. „Telegraphieren – aber wohin?“

„Nun, lassen Sie uns überlegen! Sie haben da ein großes Kursbuch. Darf ich vielleicht einmal bitten? Ich danke verbindlichst. Seite 252 Basel–Heidelberg. So, da haben wir es schon. Zuerst also telegraphieren wir nach Karlsruhe. Nun glaube ich zwar nicht, daß Ihr Herr Papa in Karlsruhe sitzen geblieben ist. Nein, nein, ich rede jetzt ganz im Ernste. So erfahrene Reisende machen solch einfaches Versehen nicht, verzeihen Sie! Das überlassen sie weniger gewiegten Leuten. Ich nehme vielmehr an, daß er in der Eile in einen falschen, vielleicht gerade abgehenden Zug gestiegen ist. Gestatten Sie gütigst – so! Sehen Sie, ungefähr zu derselben Zeit geht da ein Zug nach Schwetzingen, nach Mannheim – ja sogar einer die Strecke zurück, die wir gekommen sind – ganz abgesehen noch von den Extrazügen, die jetzt kursieren.“

„Sie wollen also, daß ich mehrere Telegramme abschicke?“

„Gewiß, Numero 1 nach Karlsruhe, Numero 2 nach Schwetzingen, Numero 3 nach Appenweier – alles Bahntelegramme. Sie kennen diese Einrichtung – nicht? Nun, das sind Telegramme, die auf allen Stationen, sowie der Zug einläuft, ausgerufen werden, bis der Adressat ermittelt ist.“

„Aber –“ Sie stockte.

„Nun?“

„Das geht gar nicht. Papa hat auf Reisen immer alles bei sich. Ich habe nicht einmal mein Billet, auch nicht das geringste Geld.“

„Das macht nichts. Das legen wir alles aus. Ich wollte, ich hätte mein Geld immer in so sicheren Papieren angelegt wie in diesen Telegrammen,“ setzte er mit einem ehrlichen Seufzer hinzu.

Sie lächelte – ein mattes, leises Lächeln, aber es stahl sich durch ihre Thränen hindurch wie der erste verheißende Sonnenstrahl durch eine trübgestimmte Landschaft.

„Doch nun zur That – die Zeit drängt!“ Er riß aus seiner Brieftasche einige Blätter und begann zu schreiben: „,Bahntelegramm’ – Nun, was telegraphieren wir?“

„Daß ich ihn auf der nächsten Station erwarte.“

„Gut – also in Bruchsal. Dann aber schnell, wir haben nur noch wenige Minuten. Also: ‚Erwarte dich Bahnhof Bruchsal‘ – ‚erwarte dich Bahnhof Bruchsal‘“ wiederholte er. „Weiter nichts – klingt das nicht ein wenig kahl? Ihr Herr Vater wird sich ängstigen über Sie. Wollen wir nicht etwas Beruhigendes hinzusetzen wie etwa: ‚Mir geht es sehr gut‘ – nein, nein,“ lachte er jetzt hell auf, „das geht nicht, das dürfen wir jetzt nicht schreiben, aber etwa: ,Ich bin gut aufgehoben‘ – Gott, nur daß er sich nicht ängstigt der alte Herr, und ,ich bin gut aufgehoben‘, das können Sie ruhig schreiben, gnädiges Fräulein.“

Es war ein so treuer, ehrlicher Blick, der sie dabei aus seinen klugen Augen traf. Sie sah ihn zum erstenmal eine Weile an – sie lächelte wieder, aber dieses Mal schon etwas länger, etwas zuversichtlicher. „Meinetwegen – das können Sie schreiben. Papa ängstigt sich tot, wenn er mich allein glaubt –“

„Also: ,Erwarte dich Bahnhof Bruchsal. Bin gut aufgehoben.‘ – Aber nun, bitte – die Unterschrift. Ihren Vornamen, gnädigstes Fräulein?“

„Marie,“ sagte sie leise und errötete.

Sie sah nicht, daß in demselben Augenblick auch über seine Züge ein mattes Erröten zog, daß sein sonst so heiterer Blick mit einem Male nachdenklich wurde. „Marie,“ wiederholte er leise, und ein seltsamer Klang zitterte durch dieses Wort. Aber bald war er wieder der Alte.

„Alles gut. Aber eins fehlt noch, und das ist die Hauptsache. Die Adresse. Der Name Ihres Herrn Vaters.“

„Fehrbach – von Fehrbach,“ sagte sie leise.

„von Fehrbach – schön – aber ein Titel sollte nicht fehlen. Es könnte bei dieser Reisewut doch sein, daß irgend ein anderer Fehrbach irgendwo sitzen geblieben ist und wir dann einen falschen nach Bruchsal bekommen. Also schreiben wir Oberst von Fehrbach –“

„Oberst?“ sagte sie erstaunt, „wie kommen Sie auf den Oberst?“

Er wußte es selbst nicht, es waren nur seine Kombinationen gewesen, sonst hatte er keinen Anhaltspunkt.

„Nein, das nicht,“ fuhr sie lächelnd fort, „aber muß es etwas sein, dann schreiben Sie Excellenz, obwohl das nichts zur Sache thun wird.“

„Obwohl das nichts zur Sache thun wird?!“ erwiderte er mit lachendem Erstaunen. „O, mein gnädigstes Fräulein, wie wenig – verzeihen Sie einem Vielgeprüften! – wie wenig kennen Sie noch die Welt! Die Herren Excellenzen reisen schnell – viel schneller als so ein anderer Sterblicher. Kommt da solch ein Telegramm an: „Fehrbach“ – vielleicht auch: „von Fehrbach“ – nun, es wird eben ausgerufen, aber wen kümmert es? Warum verpaßt der Herr Fehrbach den Zug, warum läßt er seine Tochter nun in Bruchsal sitzen? Aber eine Excellenz Fehrbach, ums Himmels willen, welche Ungeschicklichkeit! Wie kann man so eine Excellenz mir nichts, dir nichts auf einem Bahnhof sitzen lassen und die Tochter dieser Excellenz mit einem wildfremden Mann allein weiterreisen lassen! Das ist unerhört! Ich sage Ihnen, die Stationsvorsteher werden Flügel vom Himmel erflehen, um sie ihren Stahlrossen anzuhängen. Womöglich ist diese Excellenz noch aus dem Eisenbahnministerium – und nun – unerhört –“

Wie hell sie lachte! Kein Schatten mehr in dem schönen Antlitz. Die weißen Zähne schimmerten und glitzerten in verführerischer Pracht und die dunklen veilchenblauen Augen leuchteten in sonniger Heiterkeit. „Nein, mit der Eisenbahn hat Papa nichts zu schaffen. Er ist im Kriegsministerium und hat keinen Tag mehr zu verlieren, weil er den Herrn Minister vertreten muß, der übermorgen auf Urlaub geht.“

Im Kriegsministerium! Und zwar der nächste nach dem Minister selber! Und den Mann hatte er für einen abgewirtschafteten Oberst a. D. gehalten! Rupert freute sich zum erstenmal, daß er nur noch so wenige Haare auf dem Kopfe hatte – das Fräulein hätte sonst sehen müssen, wie sie ihm zu Berge standen.

Wie hatte er diesen Mann unterschätzt, mit dessen Tochter er nun allein dahinfuhr durch die weite Welt, wie inbrünstig bat er ihm alles ab und beschwor ihn im Geiste, daß er sich nur nicht dadurch an ihm rächen möchte, daß er jetzt einige Stunden eher wiederkäme und den Zauber zerstörte, mit dem ihn die wunderbare Situation mehr und mehr umfing! Trotz allen Respekts vor dieser Excellenz, er hätte gewünscht, der Zug, in den sie geraten, raste wie toll dahin ohne Aufenthalt bis an das Meer und die Excellenz hätte Tage nötig, bis sie endlich wieder in Bruchsal anlangte.

Doch halt! Die Station war erreicht, auf der die Telegramme – es ging doch nun einmal nicht anders – aufgegeben werden mußten! Er rief dem Stationsvorsteher. Dieser warf einen Blick auf die Papiere und verneigte sich dann gegen die junge Dame. „Excellenz vermutlich Anschluß verpaßt – höchst bedauerlich! Werden aber alles thun, um Excellenz so schnell wie möglich zu avisieren, gnädiges Fräulein können ganz beruhigt sein –“

„Natürlich,“ murmelte Rupert vor sich hin, „ich wette, der alte Herr ist noch eher in Bruchsal als wir und empfängt uns dort mit offenen Armen!“

Aber er war nicht dort, als sie nun in Bruchsal ankamen und den Zug verließen. Der Stationsvorsteher aber schien doch schon von seinem Kollegen unterrichtet zu sein; er empfing sie, gleichfalls in höflichster Weise seinem Bedauern Ausdruck gebend, und geleitete sie in das Wartezimmer.


4.

In diesem verstrich den Harrenden die Zeit langsam. Rupert hatte Kaffee bestellt, aber das Fräulein berührte ihn nicht. Sie war sehr einsilbig geworden. Die Situation erschien ihr immer bedenklicher. Einigemal stand sie auf und wandte sich fragend an den Stationsvorsteher. Es war vergeblich, kein Telegramm kam an[.]

[23] Sie wollte sich nichts merken lassen, aber als auch die zweite Stunde verrann, sah Rupert sie wieder mit den Thränen kämpfen. Seine harmlosen Scherze, sein gutes Zureden waren diesmal vergeblich.

Endlich nahte sich eiligen Schrittes der Stationsvorsteher, in den Händen ein Telegramm.

Das Fräulein flog ihm entgegen, las es und ließ es dann mit fast bestürzter Miene sinken.

Rupert hob es auf.

„In falschen Zug geraten. Kann erst morgen früh in Heidelberg sein. Erwarte dich dort Hotel Europa.“

Es war ihm selten im Leben so schwer geworden, seine Gefühle zu verbergen wie dieses Mal.

Also heute abend hatte die Excellenz keinen Anschluß mehr! Sie mußte irgendwo übernachten, konnte erst morgen weiter, und bis dahin?! Er sah auf die junge Dame. Sie schaute noch bestürzter drein als vorhin. Die Lage schien ihr verzweifelt.

Und Er? Er hätte aufjauchzen mögen vor lauter Freude und Lust über diesen Roman, der immer interessanter, immer fesselnder für ihn wurde und sich von allen geschriebenen dadurch unterschied, daß er ihn erlebte, ja ihn erlebte in vollen Zügen, mit ganzem jubelnden Herzen.

Aber nein – er durfte das Fräulein seine überströmende Freude nicht merken lassen; er wäre ihr gefühllos oder gar schadenfroh erschienen. Aber zu sehr konnte er sich nicht verstellen; jetzt einen beileidsvollen Ton anzunehmen, das wäre ihm gar nicht gelungen, selbst wenn er es gewollt hätte.

„Ich verstehe nicht, mein gnädigstes Fräulein,“ wandte er sich mit einer Sprache, die zwischen Scherz und Ernst einen weisen Mittelweg wählte, „wie man so nachdenklich aussehen kann, wenn einem rein durch des Schicksals Gunst plötzlich und unverhofft die heißesten Herzenswünsche erfüllt werden.“

Sie schien ihn nicht zu verstehen.

„Ich war im Coupé vorhin Zeuge eines Gesprächs, in dem Sie Ihren Herrn Vater vergebens baten, mit Ihnen den Abend in Heidelberg zu bleiben. Und nun, ehe Sie es ahnen, wird dieser Wunsch erfüllt.“

Sie gab sich Mühe, zu lächeln – es gelang ihr nicht.

„Das war damals etwas anderes. Aber jetzt – so ganz allein –“

„Ganz allein?!“

Er sah sie fast verwundert an. „Ich habe mir nie geschmeichelt, viel in dieser Welt zu bedeuten, besonders in der Welt nicht, in der Sie leben. Aber daß ich so einfach Null für Sie bin, daß Sie sich ganz allein nennen, wo ich –“

„Aber Sie werden mich doch nicht nach Heidelberg begleiten, Sie müssen doch Ihre Reise weiter machen –“

„O, mein gnädiges Fräulein, wenn es nichts anderes ist, das Warten habe ich gelernt – ich habe Zeit! Solche Eile hat meine Reise nicht – einen Kriegsminister habe ich auch nicht zu vertreten – und wenn alle Minister Europas mich zu ihrem Stellvertreter auserkoren hätten – sie müßten alle warten! Sie unter diesen Umständen nicht zu verlassen, ist doch einfach meine Pflicht, auch wenn sie nicht so sehr angenehm wäre.“

Jetzt brauchte sie sich keine Mühe mehr zu geben – sie lächelte wirklich; langsam und zaghaft ging wieder die Sonne auf in dem reizenden Angesicht.

„Ich Sie allein lassen – ohne Schutz, ohne Schirm, in einer wildfremden Stadt! Ich bitte Sie, gnädigstes Fräulein, für was würde Excellenz mich halten!“

Noch einmal suchte sie abzuwehren, aber sie that es viel schwächer, viel weniger ernst als vorher.

„Das hilft Ihnen nun alles nichts! Ich bleibe bei Ihnen, bis ich Sie in die Arme Ihres Herrn Vaters wohlbehalten abgeliefert habe. Dann ist meine Schuldigkeit gethan – dann kann ich gehen! Aber – jetzt nicht. Jetzt müssen Sie mich dulden als Ihren Ritter, Ihren Knappen, wie Sie wollen, oder – apropos, Sie haben ja keinen Pfennig Geld bei sich – zum mindesten als Ihren Bankier!“

Die letzte Falte wich, der leiseste Schatten schwand. Die Sonne leuchtete immer heller, so hell beinahe wie die glitzernden Zähne und die lachenden großen Augen.

„Gut; einverstanden, mein Herr Ritter. Ich danke Ihnen!“ Sie hielt ihm die Hand entgegen, er ergriff sie – fast ein wenig zu stürmisch; denn sie entzog sie ihm schnell wieder, und dabei stieg ein purpurnes Rot ihr ins Antlitz.

„Herr Stationsvorsteher, bitte, wann geht der nächste Zug nach Heidelberg?“

„Er muß sofort einlaufen, mein Herr!“

„Nun denn, en avant! Billets haben wir ja – ach nein, nein – das Ihre macht mit Excellenz eine kleine Nachtreise. Also schleunigst – Zwei Erster Klasse nach Heidelberg! – So, ich danke. – Hier, gnädigstes Fräulein – nein, das Coupé ist zu voll – es ist so heiß heute – hier ist Platz – ich danke verbindlichst, Herr Stationsvorsteher!“

Und wieder saßen sie beide allein im Coupé, und der Eilzug brauste dahin durch üppig blühende Wiesen und Felder, auf denen das Getreide zum Teil schon in Garben gebunden stand, und flog an den Stationen vorbei – ganz unnötig schnell, wie Rupert dachte.

Seine Gefährtin war schweigsam und nachdenklich; aber als er einigemal verstohlen in ihr Antlitz blickte, da entdeckte er etwas ganz Neues. Um den Mund, der zwar immer noch ernst geschlossen war, spielte ein schelmischer, fast schalkhafter Zug, und aus den sinnenden Augen sprach etwas Eigentümliches, das er nicht ganz ergründen konnte, das ihm Eins aber sagte, nämlich, daß dies kleine Reiseabenteuer ihr nicht ganz unwillkommen war. – Sie hatte ja auch so gerne Heidelberg sehen wollen!

Und da mäßigte der Zug auch schon seine rasende Eile, von ferne erglänzten im Sonnengolde die Fluten des Neckars, die altehrwürdigen Türme Heidelbergs zeigten sich am Horizont, und vor ihnen lag die Stadt, in der weichen Abendstimmung wie ein Luftbild in träumerischen, verschwommenen Linien dunkelblau und weiter am Horizonte in ganz mattem Rosa verschwimmend.

„Du meine Güte,“ rief Rupert mit einem Male aus, „jetzt sind wir gleich am Ziel und Sie wissen noch nicht einmal, wem Sie sich auf einer weiten Reise und in einer ganz fremden Stadt so zuversichtlich anvertrauen. Zwar mein Titel und Namen thut wenig zur Sache. Ich bin der Doktor Walter Rupert, vieljähriger Probekandidat am Gymnasium zu – der Name wird Ihnen gleich sein. Sie lachen, mein gnädiges Fräulein, und doch ist es ein sehr ernsthafter Titel, einer, der eigentlich mehr zum Weinen als zum Lachen ist. Sie werden kaum wissen, was das heißt – vieljähriger Probekandidat?“

Sie lächelte verlegen.

„So erlauben Sie, daß ich Ihnen seine Bedeutung erkläre. Kandidat ist ein Zeitwort der Zukunft und heißt Einer, der etwas werden will oder muß, und Probekandidat heißt nun so Einer, weil man ihn auf die Probe stellt, wie lange er es wohl aushält, bis er etwas wird. So, mein gnädiges Fräulein, jetzt kennen Sie meine Vor- und Zunamen, meine Titel und Würden so genau wie ich die Ihren, jetzt können wir getrost die neue Stadt betreten.“

Der Zug hielt. Sie stiegen aus und Rupert übergab das geringe Handgepäck einem Packträger mit der Weisung, es nach ihrem Hotel zu bringen.

Langsam gingen sie vom Bahnhofe durch die dicht schattende Kastanienallee der Leopoldstraße der Stadt zu. Die Hitze des Tages hatte ein wenig nachgelassen, ein erfrischender Luftzug regte sich. Die Stadtpromenade war gefüllt von zahlreichen Spaziergängern. Einheimische und Fremde suchten Erquickung nach des Tages Mühe und Schwüle, Studenten mit farbigen Mützen und Bändern wanderten dazwischen, Radfahrer flogen vorbei – ein buntes, abwechselndes Bild, ein Treiben und Gewühl, das einen großstädtischen Anstrich hatte.

Dem Fräulein war es eigentümlich zu Mute, an der Seite eines Mannes, den sie heute zum erstenmal in ihrem Leben gesehen, in eine Stadt zu kommen, die sie nie betreten. Und doch – unter all diesen Menschen, die geschäftig an ihr vorüberrauschten, in der unbekannten Umgebung kam sie sich nicht fremd, noch verlassen vor; nur ein seltsames Gefühl regte sich in ihrem Herzen, wie sie es noch nie empfunden, so bange und so zuversichtlich zugleich – sie konnte sich keine Rechenschaft von ihm ablegen – sie schob es auf das Ungewohnte der Umgebung und Lage, in der sie sich befand.

Sie hatten den vollgrünenden Neptunsgarten zur Rechten [24] liegen gelassen und wandelten durch mannigfaltige Boskette einigen imposanten Gebäuden entgegen, und da winkte ihnen auch schon das Hotel, das Excellenz in seiner Depesche seiner Tochter zum Absteigequartier bestimmt hatte.

Das Fräulein ging unwillkürlich langsam. Immer seltsamer und beklemmender wurde die Empfindung, die in ihrem Innern sich regte – fast hilfesuchend sah sie sich um, als müßte aus den grünenden Bosketten dort ihr Vater hervortreten, ihr ritterlich den Arm bieten, um sie dieser bedenklichen Situation zu entführen. Ob sie es gewünscht hätte?! In diesem Augenblicke hätte sie die Frage mit einem aufrichtigen Ja beantwortet.

Sie standen vor dem Portale des Hauses. Das Fräulein fühlte ihr Herz hörbar schlagen.

Rupert besaß genug Takt, sie für einen Augenblick um Verzeihung zu bitten, um mit dem herbeieilenden Oberkellner im Vestibül allein zu verhandeln. Der Oberkellner aber schien so zarte Empfindungen nicht zu kennen. Ohne daß Rupert es verhindern konnte, war er mit einem Satze draußen bei dem Fräulein.

„Das beste Zimmer im ganzen Hotel – eben leer geworden. Erste Etage – prachtvolle Aussicht auf das Schloß. Dazu ganz still und ungestört. Die gnädige Frau brauchen es nur einmal anzusehen – gnädige Frau werden gewiß zufrieden sein.“

Dem Fräulein schoß das Blut in den Kopf wie ein Feuerstrom. Aber sie war Weltdame; keine Miene zuckte in ihrem Antlitz, nicht die leiseste Bewegung verriet ihre Empörung.

Rupert hätte den geschwätzigen Kellner prügeln können; er begnügte sich jedoch, ihm jetzt, während das Fräulein zu Boden sah, einen nicht mißzuverstehenden Wink zu geben. „Es handelt sich nicht um ein Zimmer, sondern um zwei. Das beste – hören Sie wohl – das allerbeste, das Sie im ersten Stockwerk haben, gehört dem gnädigen Fräulein; mir können Sie ein bescheideneres im zweiten oder dritten anweisen.“

Der Oberkellner wand sich wie ein Aal –, „hm hm“ murmelte er sehr geheimnisvoll und diskret, lächelte verschämt, rieb die geschmeidigen Hände, hauchte ein „Pardon, mein Herr, alles zu Ihren Befehlen“ und wand sich dann von neuem.

Er hielt die Vorverhandlung für beendet, er „wußte alles“, er komplimentierte das gnädige Fräulein in das Haus.

„Darf ich das Gepäck besorgen für die Herrschaften?“ sagte er hier, geringschätzig die paar Handtaschen musternd, die der Packträger einem der Zimmerkellner übergab.

Wieder errötete das Fräulein bis in die Haarwurzeln. „Wir haben kein weiteres Gepäck,“ erwiderte sie sehr schüchtern.

Der sorgsam gescheitelte Kopf des Oberkellners schnellte ein wenig empor, die roten Brauen zogen sich in die Höhe.

„Ich werde Ihnen meine Aufträge über das Gepäck später geben,“ sagte Rupert jedoch in so kurzer, gebietender Sprache, daß der gescheitelte Kopf wieder einige Fuß tiefer sank. „Und nun rufen Sie das Mädchen, daß es das gnädige Fräulein auf ihr Zimmer geleite; aber ein wenig schnell, wenn ich bitten darf – wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Der Oberkellner verneigte sich gravitätisch. Dann mit einem Male war er verschwunden, so schnell und spurlos, daß man meinen konnte, er habe sich in das niedliche Mädchen verwandelt, das mit einem Male vor der Dame stand, ihre Befehle entgegenzunehmen.

„Und nun, mein gnädigstes Fräulein,“ wandte sich Rupert an seine Gefährtin, „ich harre Ihrer hier unten im Flure, und wenn ich mir die unbescheidene Bitte erlauben darf, lassen Sie mich nicht zu lange warten! Die Zeit ist uns schon kurz genug gemessen, und der Weg zum Schlosse ist weiter als es scheint.“

„Bis zum Schlosse?! Sie wollten noch –“

„Aber gnädiges Fräulein, das ist doch einfach selbstverständlich. Dazu hat uns Ihr Herr Papa doch nur telegraphisch hierher verfügt. Was würde er sagen, wenn er morgen hier ankäme und Sie hätten nicht einmal das Schloß gesehen. Er wäre außer sich. Und mit Recht. Sein Sitzenbleiben hätte dann ja auch nicht den geringsten Zweck gehabt. Es ist einfach meine Pflicht und Schuldigkeit, Sie auf das Schloß zu führen, und Sie – Sie müssen sich schon fügen. Es geht nun einmal nicht anders!“

Wie gerne sie sich fügte. „Wenn es denn sein muß,“ sagte sie lachend, „ich bin bereit. Also auf Wiedersehen, mein Herr Ritter!“

„Auf Wiedersehen.“

Noch einmal klingelte Rupert dem Oberkellner.

„Nun, hochgeschätzter Herr Oberkellner, thun Sie Ihr Bestes und lassen uns dort auf der Veranda – nein, nicht hier am Eingang – dort, sehen Sie, in dem kleinen Blumenwinkel, so schnell als es dieses Hotels treffliche Oekonomie irgend gestattet, ein Souper servieren. Keine großen Sachen! Beileibe nicht! Wir haben Eile. Einen Gang nur. Aber einen guten! Den besten! Dazu ein paar Früchte und ein wenig Dessert. Und einen Wein! Keinen fremden. Sondern wirklichen, wahrhaftigen Rheinwein feinster Marke, dessen Gold Sie in schön geschwungenen Römern kredenzen Sie haften für seine Echtheit und Güte!“

Er fühlte sich wie ein Fürst, der inkognito reist. Der Oberkellner wußte bei aller seiner Menschenkenntnis immer noch nicht, wo er diesen Herrn unterbringen sollte. Sein Schwanken kam in seiner Verbeugung zum Ausdruck. Sie war so gehalten, daß er sich mit ihr nichts vergab, und doch war sie devot genug selbst für einen Fürsten. Das Fräulein aber, das von der Treppe herab das Gespräch noch mit angehört hatte, lächelte vor sich hin und schüttelte leise das Haupt.


5.

Sie stand jetzt inmitten des Zimmers, in welches das Mädchen sie geführt. Es war mit einer Behaglichkeit, ja mit einem Komfort eingerichtet, daß sie es nicht einmal zu Hause besser hatte.

Einen Augenblick ließ sie sich in dem weichen Sessel nieder, einen Augenblick ruhte ihr dunkles Auge träumend und sinnend auf dem Boden – dann erhob sie sich lebhaft. Mit dem frischen Wasser, das eben hereingebracht wurde, netzte sie sich Gesicht und Hände und befreite sich von dem Reisestaub. Dann ging sie, ganz in Gedanken, auf und nieder über den schwellenden Teppich, bis sie vor dem hohen Spiegel stehen blieb; er warf ihr ein lebhaft bewegtes Antlitz entgegen mit großen Augen, deren blaues Leuchten ihr noch nie so aufgefallen war wie heute. Machte es die Reise, machte es die seltsame, ihr immer unbegreiflicher erscheinende Lage, in die sie gekommen?

Wunderbar, die lange Fahrt in der schwülen Temperatur, die sie sonst immer so angriff, hatte sie heute gar nicht ermüdet. Sie fühlte sich so frisch, so gehoben, so - -

Sie stand noch immer vor dem Spiegel, strich sich sorgsam die Falten aus dem leichten Sommerkleide, nahm den Hut ab, ordnete die Haare, sie nestelte hier und dort mit der kleinen Hand herum, setzte den Hut auf, ordnete die Haare aufs neue, sie nahm den Hut wieder ab, blickte noch schärfer und prüfender in den großen Spiegel – sie war sonst so schnell fertig, so leicht zufrieden – und heute?! –

„Nein,“ rief sie endlich ganz unwillig, „das ist ja toller, als wenn es auf den Hofball geht – nun genug! Doch halt, das geht noch nicht – so, so ist’s gut!“

Sie nahm langsam die gelbseidenen Halbhandschuhe aus der Tasche und zog sie über die vom Kleidärmel freigelassenen weichen Arme. Lächelnd summte sie ein Liedchen dazu – leise beginnend, dann immer lauter, immer fröhlicher. Sie lachte hell und lustig wie ein Kind, so daß sie sich ganz erschreckt umsah, ob niemand sie gehört habe.

Es war alles zu seltsam, zu wunderlich, zu komisch!

Noch ein kurzer Abschiedsblick in den Spiegel. „So, mein Herr Ritter, jetzt müssen Sie mit mir zufrieden sein! Schöner kann ich mich nicht machen!“

Und das Bild im Spiegel nickte so schelmisch dazu, als wollte es sagen: Er kann auch zufrieden sein, sehr zufrieden.

Sie wandte sich zur Thür. „Adieu, mein kleines Zaubergemach, auf Wiedersehen heute abend – wenn du bis dahin nicht verschwunden bist und mit dir mein Herr Ritter und der Oberkellner da unten – und ich im Coupé an Papas Seite aufwache und alles nur ein Traum gewesen ist.“

Aber ihr Ritter stand unten getreu auf seinem Posten.

Er hatte sich gleichfalls ein wenig zurecht gemacht und vom Staube der Reise gereinigt. Seine schmiegsame elegante Erscheinung kam in dem dunkelbraunen Jackettanzuge so recht zur Geltung, das kluge Gesicht blickte unter dem flotten Reisehut so munter, so fröhlich frisch in die Welt hinaus.

Und das ist nun ein Probekandidat! dachte das Fräulein bei sich. Nicht möglich! Diese Menschen – gesehen hatte sie [26] zwar nie einen – hatte sie sich immer ganz anders vorgestellt. Der sah ja beinahe aus wie ein Gardelieutenant in Civil.

Daß es noch eine andere Welt gab als die ihr gewohnte, daß sie jenseit des Hofes, der Regierung und der Armee auch noch sprachen und fühlten und lachten, daran hatte sie bis dahin nie gedacht, bis sich nun mit einem Male vor ihren staunenden Augen diese andere nie gekannte Welt aufthat, hier in der fernen Stadt, in dem fremden Manne, mit dem ein Eisenbahnzufall sie zusammengeführt.

Und mit diesem Manne saß sie nun in der kleinen blumenumrankten Nische an dem kleinen Tischleindeckdich, das ihr wie aus der Tiefe hervorgezaubert schien, und der gravitätische Oberkellner bediente sie lautlos wie ein Geist. Und sie besiegte die anfängliche Befangenheit und ließ es sich schmecken wie ihr Gefährte und plauderte mit ihm im Ernst und im Scherz, bis es die höchste Zeit war, aufzustehen, und sie nun durch die feiernde Abendstille schritten auf unbekannten Pfaden, als wäre es immer so gewesen, als müßte es für alle Zeit so bleiben.

Jetzt bogen sie den Neuen Weg zum Schlosse ein; die Aussicht wurde weiter und schöner, die Luft freier und frischer. Ein jeder schien beschäftigt mit geheimen eigenen Gedanken, die Worte nicht aussprechen konnten. Durch schöne Garten- und Blumenanlagen führte sie in sanfter Steigung der Weg allmählich in den Schloßgarten. Die Blumen dufteten, die Vögel sangen ihr Abendlied, in weichem Blau wölbte sich über ihnen der weite Himmel.

Das Fräulein fühlte ihr Herz hörbar schlagen.

Ob es von dem Steigen kam? Sie lächelte. Sie hatte auf ihrer Reise ganz andere Bergwege gemacht und nie ihr Herz gefühlt. Es war heute eben alles anders als sonst.

Plötzlich gedachte sie ihres Vaters. Sie erschrak. Es war das erste Mal auf dem ganzen Wege, daß ihre Gedanken bei ihm waren. Das kam sonst nicht vor. Wenn er das ahnte! Er war immer so stolz darauf, daß er ihr ausschließliches Interesse in Anspruch nahm.

„Der arme Vater!“ seufzte sie halblaut vor sich hin.

„Ja,“ fiel Rupert ein, „er thut mir auch von Herzen leid. Um sein schönes Souper im Frankfurter Palmengarten ist er nun gekommen, und er hatte es schon vier Wochen vorher notiert.“

Der Scherz schien ihr nicht zu gefallen. Die Mundwinkel zuckten ein wenig, um die roten Lippen spielte wieder jener leise Zug von Hochmut, den er anfangs an ihr bemerkt hatte.

Ihn beirrte das wenig.

„Aber Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Der Herr Papa – pardon, Excellenz wollte ich sagen – Excellenz haben wenigstens gut gevespert.“

Sie war eigentlich böse auf ihn. Sie nahm sich vor, es ihm zu zeigen. Aber es ging nicht; als sie in sein ehrliches, treues Gesicht sah, das so seelenvergnügt und harmlos bei diesen kleinen Spöttereien dreinschaute, mußte sie lächeln. Und als er das merkte, wurde er ganz übermütig und erlaubte sich einen kleinen Scherz nach dem andern. Aber sie waren alle so launig und unschuldig, daß das Fräulein auch den letzten Widerstand aufgab und sie nun beide aus heller Kehle lachten wie die Kinder – sie wußten nicht weshalb, aber sie lachten und freuten sich, wie nur Menschen lachen und sich freuen können, die von ganzem Herzen glücklich sind.

Mit einem Male aber wurde sie ernst. Sie standen vorm Schloß. Nein, das war zu schön, zu überwältigend, um es anders als mit frommer Andacht anschauen zu können!

[52]
6.

Vor Rupert und seiner Begleiterin lag die Schloßruine in jener melancholischen und zugleich erhebenden Größe, die nie so ergreifend wirkt wie in der feiernden Stimmung des Sommerabends. Grünende Wälder umrauschten sie, eilende Wolken zogen über sie dahin, der scheidende Tag umfing sie mit seinem dämmernden Licht, und verjüngt von seinem rosigen Schein, glühte sie hinunter von ihrer einsamen Höhe ins ferne Thal.

Welch ein hehrer Zeuge der Geschichte von über sechshundert Jahren! Zerrissen von Stürmen und Wettern, zerklüftet, verwundet, vernarbt überall. Aber lebendiger Epheu grünte an den klaffenden Wunden empor und deckte die Narben wie unsterblicher Lorbeer. Und wie ein tausendfaches Diadem senkte die leuchtende Sonne ihre Abendstrahlen auf ihr Haupt und hüllte ihre unsterbliche Schöne in ein Siegerkleid von Purpur und Gold.

Das Fräulein stand wie in tiefe Andacht versunken. Ihre Hände waren gefaltet, sie wagte kaum den Fuß vorwärts zu setzen, endlich folgte sie Rupert, der langsam vorangeschritten war.

Sie machten einen kurzen Rundgang durch das Schloß. Vieles von den seltenen Schönheiten des Stiles und der Ornamentik entzog ihnen die zunehmende Dämmerung, vieles zeigte sie ihnen um so schöner, besonders da, wo die letzten Sonnenstrahlen die Gegenstände voll noch trafen und nun der Gegensatz in den Farben der grauen Körper der Statuen und des roten Sandsteines der Fassade zu jener Wirkung gelangte, die in ihrer satten Stimmung nur das Abendlicht hervorzubringen vermag.

Sie stiegen hinunter zum großen Faß und Rupert erzählte seiner Gefährtin all die Märchen und Sagen vom Zwerg Perkeo; sie schauten empor zu dem gesprengten Turm, aus dessen Ritzen versöhnende Blumen sprossen, auf dessen Plattform Bäume ragen; sie blickten hinab in den Burggraben, wo einst die Löwen lustwandelten, welche die Kurfürsten ihrem Wappen zu Liebe zähmten und hegten, und wo jetzt Hunderte von gefiederten Sängern ihre Sommerresidenz aufgeschlagen hatten und ihre weichen süßen Schlaflieder empor zum Abendhimmel sandten.

Dem Fräulein war das alles wie ein Traum, als wäre die Ruine ein Zauberschloß, in das sie gebannt, und sie eine Prinzessin aus alten Zeiten, als wandele sie mit ihrem Ritter durch seine stillen Räume. Und die Löwen traten an sie heran und schmiegten sich an ihren Schoß, und sie streichelte ihre Mähnen, und sie nahmen das Futter aus ihrer Hand und legten sich wedelnd vor ihr nieder. Und die Bäume rauschten darüber hin, und die Vögel sangen dazu.

„Wie schön ist es hier!“ Sie sagte es leise zu sich selber, gleich als fürchtete sie, daß ein lautes Wort den Traum und sein holdes Glück zerstören möchte.

[53] Aber Rupert hatte es gehört. „Sie bedauern also nicht, daß Sie auf diese Weise Heidelberg kennenlernen?“

„Nein“ erwiderte sie, und ihre weiche Stimme bebte. „Ich habe so vieles gesehen auf dieser Reise, so Herrliches und Großes, daß ich meinte, etwas Aehnliches könne es auf der ganzen Welt nicht geben. Aber wunderbar – ich weiß nicht, wie es kommt – mir ist, als habe ich die Welt noch nie so schön gesehen!“

„Wie mich das freut!“ erwiderte Rupert mit leuchtenden Augen und schaute ihr mit einem vollen Blick ins Antlitz. „Sehen Sie, auch ich habe viel kennengelernt und habe die Welt nirgends so schön gefunden wie hier in Heidelberg. Es liegt ein einziger Zauber über dieser Natur und dieser Stadt. Ich weiß nicht, was es ist und woher es eigentlich kommt, aber eins weiß ich: ich bin nie so glücklich gewesen wie das eine Jahr, da ich hier in Heidelberg studierte.“ Er war plötzlich sehr ernst geworden. Ein nachdenklicher, fast finsterer Zug legte sich auf sein Antlitz, seine Augen suchten den Boden. Auch das Fräulein sprach kein Wort.

Vom weichen Schimmer des Abends umfangen, lag unter ihnen die Stadt – in der Ferne glühte der majestätische Dom im letzten Lichte der sinkenden Sonne, die mit feurigem Rot den Himmel säumte. Dort unten aber rauschten die grünen Fluten des Neckars, so langsam, so träumerisch träge, gleich als fürchteten sie, der Pracht dieses Sommerabends zu schnell zu enteilen.

„Woher das kommt?“ fuhr Rupert langsam fort. „Ich weiß es wieder nicht. Besondere Gründe habe ich jedenfalls nicht dafür. Aber sehen Sie, gnädiges Fräulein – ich weiß zwar nicht, ob Sie mich verstehen werden – ich habe nie wieder so gefühlt, nie wieder innerlich so gelebt wie hier in Heidelberg. Ich möchte sagen: ich bin nie wieder frei gewesen! Es mag die Gegend machen, deren heiterer Charakter auf den Menschen wirkt, die frische rheinländische Daseinslust dieser Pfälzer, die das Leben leicht und sicher auf die elastischen Schultern nimmt, sich nicht von ihm drücken und knechten läßt aller Orten, sondern es mit sich fortträgt in reißendem Schwunge. Der ursprüngliche Zug zur Natur mag es sein, den die Gesellschaft da draußen so bald unter die Füße tritt. Aber was es auch sei: heute, wo ich diese Luft wieder atme, die ich so lange entbehrt, heute erhebt sich vor mir jenes unvergeßliche Jahr in all seiner Schöne, als wolle es noch einmal wiederkehren! Und nicht wahr,“ setzte er leise hinzu, und sein Auge suchte das ihre, „Sie können das verstehen, denn auch Sie – Sie fühlen in diesem Augenblick ein lange nicht gekanntes Glück.“

Ein lange nicht gekanntes Glück! Wie das in ihr widerhallte, welche Gedanken in ihr wach wurden! War sie denn sonst nicht glücklich, hatte sie je entbehrt, was sie nicht hatte?!

Sie wollte ihm ihre Empfindungen verbergen. „Ein Jahr haben Sie in Heidelberg studiert?“ fragte sie schnell, um etwas zu sagen.

„Ein Jahr – aber wie ungezählte Male bin ich in dem einen Jahre durch diese Berge gestreift, das Herz so leicht und so frei, so aufgelegt zu allem Hoffen und Wagen – bis zum Uebermut! O diese Pedanten, die da mit hochweisem Wort den Stab brechen über die kleinen, ihnen lächerlich erscheinenden Auswüchse des Heidelberger Studentenlebens! Wenn sie es ahnten, daß gerade in dieser schrankenlosen Ungebundenheit, die meinetwegen zu tollen Streichen sich versteigen mag, in diesem fröhlich sichern Zutrauen zu sich selber die Wurzel liegt zur wahren Freiheit, zu jenem frischen Gefühl der Schaffenskraft, das sie freilich schnell genug ertöten! Aber,“ unterbrach er sich plötzlich selber, „zu wem sage ich das alles? Sie werden mich auslachen mit meinen Phantasien. Geben sie die Schuld diesem Abend, diesem Ort!“

Aber sie lachte gar nicht. Um ihre Lippen lag wieder der sinnende Ernst, ihre Augen schweiften nachdenklich in die weite Ferne. „Gewiß,“ sagte sie endlich, „wenn Sie mir dasselbe noch vor wenigen Stunden im Eisenbahncoupé gesagt hätten, ich hätte kein Wort von alledem verstanden, hätte Sie für einen Träumer oder Phantasten gehalten. Aber, Sie haben recht. Dieser Abend muß es machen, dieser Ort! Dies alles, was ich heute sehe und erlebe, ist mir wie ein Traum. Und in diesem Traume taucht mit einem Male das Leben auf, das ich bis jetzt geführt. O, mein Gott, dies Leben, das ich bis heute so wunderschön gefunden mit all seinen glänzenden Festen und Gesellschaften, seinen Toilettensorgen und Freuden und das mir im Anblick dieser feiernden Natur mit einem Male, ich weiß nicht wie, armselig und nichtig erscheint! Ich wollte das gar nicht aussprechen, es erschien mir so unrecht, so undankbar, da regen Sie in mir Gedanken an, die ich vielleicht doch besser verstehe – als Sie glauben!“

„Ja, ja,“ rief er schnell. „Sie haben mich verstanden! [54] Und so verstehen Sie vielleicht auch, wie einem zu Mute ist, der hier sich jung und frei fühlte und dann die besten Jahre seines Lebens in der Vollkraft seines Schaffens nutzlos vertrauern muß? In seinem Berufe aufgehen – in ihm wirken wollen mit der ganzen ungeteilten Kraft, das Bewußtsein in sich tragen, daß man auch wirken kann – und immer überflüssig sein, immer noch nicht alt genug, um ein Amt zu erhalten, das dem Leben Zweck giebt, immer hingehalten, immer vertröstet und zu unfreiwilligem Feiern verurteilt sein – glauben Sie mir, das ist ein vernichtendes Los!“

„Sie wirken doch an einem Gymnasium?“

„Gewiß. Aber der Direktor, unter dem ich stehe, ist alt, er haßt jede Neuerung. Die täglichen mechanischen Uebungen, die ewige Monotonie von Semester zu Semester – und dazu alle die Kleinlichkeiten und Sorgen, die gerade dem Lehrerstand erspart bleiben sollten und unter denen er am meisten leidet, die haben den Mann müde gemacht. Und ich? Ich, der ich als überzähliger Lehrer keine Rechte habe und kaum eine Pflicht, der ich eigentlich nur geduldet bin? Nun, ich habe mich zu fügen, habe hübsch artig nach der Schablone mitzuarbeiten! Aber wenn ich dann diese Jungen sehe, diese strammen, blühenden, kraftstrotzenden Jungen mit all ihrem Lebensmut und ihrer Lebensfrische, und ich soll sie strafen nach dem vorgeschriebenen Schema, strafen vielleicht für einen Streich, für den ich sie küssen möchte, dann blute ich unter dem Zwang, in den man mich so früh gesteckt, dann rüttle ich und schüttle an meinen Fesseln, nur um zu fühlen, wie fest sie sind und unlösbar!“

„Unlösbar – das wäre entsetzlich,“ fiel sie ihm ins Wort.

„Es ist so tragisch nicht. Man gewöhnt sich an sie. Sie drücken nicht mehr. Man nimmt sie hin als etwas Selbstverständliches, das zum Leben gehört. ,Die Bande, die erst von Eisen, werden Rosenketten!‘ Das liegt so in der menschlichen Natur. Nur in der Jugend, wenn man noch recht kräftig will und kann, bäumt man sich gegen sie auf – so thöricht wie ich!“

„Und da gäbe es keinen Ausweg?“

„Ich könnte Docent werden. Ja, das war mein Jugendtraum, den ich nie so schön geträumt habe als hier in Heidelberg zu den Füßen bedeutender Lehrer, da die Welt noch vor mir lag so schön, so verheißungsvoll. Aber später wurde es anders. Ich trat in den praktischen Lehrberuf ein. Ich lernte ihn lieben, bis mir diese Jahre des Harrens und Wartens seine Schattenseiten allzu sichtbar zeigten. Und die Universitätscarriere kostet Geld, viel Geld! Das habe ich nicht. Es ist mir schwer genug geworden, mich zu der Stelle eines Probekandidaten durchzukämpfen. Und wenn ich nicht von den Privatstunden, die ich zurückgebliebenen Kindern erteile, und von schriftstellerischen Arbeiten für einige Fachjournale leidliche Einnahmen hätte –“

Er hielt erschreckt inne. Wie kam er, der sonst so Verschlossene, dazu, einer Dame, die er vor einigen Stunden kennengelernt, sein innerstes Herz zu enthüllen, wie kam diese Dame dazu, seine Offenbarungen mit einem Interesse zu verfolgen, die aus jeder Bewegung, jedem Zuge ihres Gesichts zu ihm sprach!?

„Nein,“ sagte sie nach einer kurzen Pause, „ich kann das nicht alles zugeben, was Sie da sagen. Ich wüßte mir in ähnlicher Lage vielleicht noch weniger einen Rat, aber eins wüßte ich: wenn ich ein Mann wäre und vor mir läge die Welt so groß, so lebenswert und ich fühlte mich beengt und gedrückt in Fesseln, die mir wehrten, zu wollen und zu handeln wie es meiner Natur, meinem innersten Leben gemäß, dann hätte ich auch den Mut und die Kraft – glauben Sie mir! – sie zu sprengen und frei und neugeboren hineinzuwandern in die neue Welt!“

Sie hatte mit fliegendem Atem gesprochen, ihr großes leuchtendes Auge hing an seinem ernsten Antlitz, als wollte sie ihn wachrufen zu neuem Wollen und Wagen.

Er aber schüttelte nur den Kopf und lächelte – ein eigentümliches Lächeln, halb freudig bewegt, halb schwermütig resigniert. „Gewiß,“ sagte er langsam, wie jedes Wort wägend. „Es giebt Fesseln, die man mit Kraft und Mut sprengen könnte, wenn man Simsonsstärke in sich fühlt. – Aber es giebt andere Fesseln. Wir leben doch nicht für uns allein. Wer von uns hätte das Recht, für sich zu wollen, für sich zu handeln? Gesetzt, Sie lebten heute in Verhältnissen, die Ihnen unerträglich wären, würden Sie sie verlassen, auch wenn Sie zugleich mit ihnen das Herz Ihres Vaters brächen? Würden Sie dann noch den Mut und die Kraft dazu besitzen?“

Sie senkte das Auge bestürzt zur Erde, sie antwortete nichts.

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen. Freilich kommen Augenblicke, da meinen wir, wir könnten, wir müßten sie sprengen! Und wenn wir’s thäten – wir würden aufatmen, glückselig uns fühlen, wie neu geboren – ja, wir würden die Wunden vergessen, die ihre Sprengung uns verursachte. Aber das wäre alles nur für Augenblicke. Zuletzt würden wir an diesen Wunden verbluten – rettungslos – und uns geschähe recht!“ So ernst hatte er gesprochen, ein so heiliger Eifer durchglühte sein Antlitz. Sie erkannte den Mann nicht wieder, mit dem sie in der Eisenbahn zusammen gefahren, der sich nicht genug hatte thun können in allerlei Scherzen und Späßen.

Er schien zu erwarten, daß sie ihm entgegne. Aber sie verharrte in sinnendem Schweigen.

„Wissen Sie übrigens,“ fuhr er in etwas schnellerer Rede fort, „daß ich dasselbe gedacht, was Sie vorhin aussprachen?! Angesichts dieses alten Schlosses, in dieser Luft, in der ich so frei und glücklich geatmet, stürmte es auf mich ein mit unwiderstehlicher Gewalt: Was hindert dich, frei zu sein und ungebunden wie einst?! Wirf den Zwang von dir und die Bande, die da draußen dich halten!

Aber sehen Sie, das sind Träume! Jene Sommernachtsträume, die wir im Ernste des Lebens und unter dem Drucke alltäglicher Pflichten so gern träumen, am liebsten dann, wenn die Natur in ihrer feiernden Größe und Schöne zu uns spricht und uns die ganze Seele löst. Dann fühlen wir uns so gehoben, so wagemutig, als gäbe es keine Macht mehr in der Welt, die uns widerstehen könnte. Dann verwandelt unser Träumen Unmöglichkeiten zu Wirklichkeiten. Und sehen Sie – giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?!“ Er wies auf das Bild, das vor ihnen lag.


7.

Auf leisen Schwingen war die Nacht herangekommen – sie hatten es nicht gemerkt. Ueber der Landschaft, die bis in die bergige Ferne sich ausbreitete, war der Mond emporgestiegen, ihre ungemessene Weite mit seinem weichen Lichte umfangend, ihre Reize mit seinem Zauber verklärend. Mit leisem Silberschauer schwamm sein Wiederschein auf den Fluten des laut rauschenden Neckars, strahlte er zurück von den träumenden Hügeln.

So klar lag die Welt vor ihnen, so tief und unergründlich zugleich unter dem himmelhohen Sterngezelt. Und so nachdenklich schaute das alte Schloß hinunter ins weite Thal, im Zauber seiner Majestät, den es in seinen glorreichsten Zeiten nie so ausgeübt hatte wie nun seine Ruine in der einsamen Mondesnacht. Wie ein Märchen aus längst vergangener Zeit war das alles.

Und an diesem Bilde hing das Auge des Fräuleins wie gebannt von seiner magischen Gewalt, und der Glanz in diesem Auge wurde feuchter und feuchter, und die kleine Hand, die zu ihm langsam emporgriff, zitterte merkbar.

„Giebt es einen schöneren Sommernachtstraum als diesen hier?“ wiederholte Rupert, ihrem Blick begegnend.

„Ja,“ sagte sie leise, „ein Traum wie dieser ganze Nachmittag, diese ganze, seltsame Reise –“

„Und in solch einem Sommernachtstraum,“ fiel er ihr ins Wort und machte einen Versuch, in den alten scherzhaften Ton zurückzufallen, „da treiben die bösen Geister mit den ehrsamen Menschen ihr Spiel, da erhebt sich aus den Tiefen des Neckars der Kobold Puck, und von den Hügeln und Wiesen tanzen die Elfen herbei, und aus dem Fasse da unten steigt Perkeo hervor, der tückische, und in unsichtbaren Händen trägt er den feurigen Schloßwein. Und ohne daß man es weiß, hat man ihn getrunken, und dann erwachen seltsame, wunderliche Ideen und brausen und gären einem durch den Kopf. wie so alles anders sein müßte und könnte und wie schön und herrlich es dann auf dieser Welt wäre! Doch wenn man erwacht aus dem süßen Rausch, dann ist alles geblieben wie es war und das Ganze war nichts als ein schöner Traum.“

„Nein,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „nichts anderes, es ist eben zu schön, es kann nichts anderes sein.“

„Und so traurig einen auch manchmal das Erwachen ankommt, wir wollen ihnen danken, den freundlichen Geistern, die in des Lebens Einerlei uns dann und wann diese Träume [55] bescheren. Wer wollte ohne sie leben?! Ich keinen Augenblick! Und Sie – seien Sie offen in dieser schönen Stunde: wenn jetzt solch ein kleiner Geist dort aus den Büschen zu Ihnen träte und sagte: ‚Ich bin der Geist des Cognacs. Ich habe mich in Basel versteckt, als du mich suchtest. Ich habe deinen Papa aus dem Coupé herausgelockt und ihn an den Rockschößen festgehalten, als er wieder einsteigen wollte. Ich habe dich mit dem fremden Manne in die weite Welt geschickt‘ – würden Sie ihm zürnen, dem kleinen Geiste, könnten Sie ihm böse sein?“

„Nein – nein,“ erwiderte sie sehr schnell. Aber als er die Hand nach ihr ausstreckte, da trat sie einen Schritt zurück und hob wie abwehrend beide Hände ihm entgegen.

„Und wenn wir morgen beide auseinander gehen und wir uns dann nie wieder sehen – niemals mehr, werden Sie es bedauern, diese Fahrt mit mir nach Heidelberg gemacht zu haben?“

Sie antwortete nicht, aber über ihrem bleichen Antlitz lag ein weicher Schimmer, der deutlicher zu ihm sprach als Worte es je vermocht.

„Ja,“ fuhr er fort, und so sehr er die Stimme auch dämpfte, die leidenschaftliche Erregung, die durch jedes Wort bebte, vermochte er nicht zu verhüllen, „wenn wir morgen aus diesem Traum erwachen und reichen uns die Hände und gehen beide unserer Wege, wie wir gekommen sind – eins nehme ich mit mir, das wird mir folgen in alle Arbeit, in alle Mühe meines Lebens, und auch – in alle Verzagtheit. Das ist die Erinnerung an diese Nacht, an dieses Schloß – und an Sie! – Und Sie?!“ fuhr er fort, und das zuckende Lächeln, das um seine Lippen spielte, verriet seine Bewegtheit mehr, als daß es sie verdeckte – „nun, Sie gehen zurück in das gewohnte Leben. Die glänzenden Feste, die Liebe Ihres Vaters, die Aufmerksamkeit und Verehrung Ihrer Umgebung werden Sie diese Stunde, diesen treuen Gefährten bald vergessen lassen. Aber manchmal, wenn sich in all das rauschende Leben doch ein klein wenig Langeweile, so eine leise Spur von Enttäuschung oder Ueberdruß stehlen wird, oder des Abends, wenn Sie einmal allein sind und Ihr Auge am sternenfunkelnden Himmel weilt, dann wird sie emportauchen, diese einsame Mondesnacht, und zu Ihnen herübergrüßen wird das alte Schloß von seinem grünen Berge. Und das Bild wird dann zu Ihnen sprechen und Sie mahnen und locken wie – nun, wie ein kurzer Sommernachtstraum, den Sie geträumt in einer stillen Nacht, als Ihr Schicksal Sie nach Heidelberg verschlug.“

Sie lächelte unter Thränen. Sie wollte etwas erwidern – da mit einem Male wie aus geheimnisvoller Tiefe steigend, empor vom dunkelnden Neckar und näher und näher kommend, klang es durch die stille Nacht:

0„Alt Heidelberg, du feine,
Du Stadt, an Ehren reich,
Am Neckar und am Rheine
Kein’ andre kommt dir gleich.
0Stadt fröhlicher Gesellen,
An Weisheit schwer und Wein,
Klar ziehn des Stromes Wellen,
Blauäuglein blitzen drein.“

Waren es die Geister, die da unten in der Tiefe sangen? Immer berückender wurde der Zauber, immer schöner die Nacht.

Er war einen Schritt näher an sie herangetreten, ihre Arme berührten sich, ein jähes Erröten flammte durch ihr Antlitz, ein leiser Schauer flog über ihren Leib. Sie wehrte ihm ihre Hand nicht mehr, als er suchend die seine nach ihr ausstreckte.

Ihre Augen ruhten eine Weile ineinander. Ein stilles Glück leuchtete aus ihnen und der Schimmer einer unaussprechlichen Sehnsucht wie der Abglanz der unergründlichen Nacht dort unter ihnen, aus der es emporklang:

0„Und kommt aus lindem Süden
Der Frühling übers Land,
So webt er dir aus Blüten
Ein schimmernd Brautgewand.
0Auch mir stehst du geschrieben
Ins Herz gleich einer Braut,
Es klingt wie junges Lieben
Dein Name mir so traut!“

Noch immer standen die beiden Hand in Hand – noch immer ruhten ihre Augen ineinander. Mit einem Male beugte sich Rupert schnell zu ihr herab, sein heißer Atem berührte ihre Wange. Da riß sich das Fräulein gewaltsam los.

„Wir müssen gehen,“ sagte sie sehr rasch, „es ist tiefe Nacht. Wenn man uns allein hier sähe!“

„Wir sind auf Reisen,“ scherzte er, „da kennt keiner den andern, da ist man einmal frei.“

„Nein!“ erwiderte sie kurz und entschlossen, „es ist die höchste Zeit – der Traum ist zu Ende.“

Eine graue Wolke huschte über den leuchtenden Mond und deckte ihn eine Weile. Der helle Schimmer erblaßte, das Silber des Neckars erbleichte. Die Schloßruine schaute mit einem Male so ernst, so nachdenklich hinunter ins dunkelnde Thal.

„Ja!“ wiederholte Rupert, „ich glaube beinahe, Sie haben recht. Der kurze Traum ist zu Ende. Ich werde bald in meiner Schule erwachen, meinen Jungen Exercitien diktieren – und Sie –

0„Und stechen mich die Dornen
Und wird mir’s draus zu kahl,
Geb’ ich dem Roß die Spornen
Und reit’ ins Neckarthal“

klang es ganz nahe mit vollen kräftigen Accorden an ihre Ohren.

Ein Trupp buntbemützter Studenten zog in den Schloßgarten, dicht an ihnen vorüber. Neugierige Blicke spähten nach dem Fräulein, halblaute Bemerkungen drangen an ihr Ohr.

„Kommen Sie,“ sagte sie und trieb ihren Begleiter zu größerer Eile. – – –

In tiefem Schweigen waren sie ihren Weg gegangen. Sie hatten dabei nicht gemerkt, wie die Zeit verrann. Beide sahen erstaunt auf, als sie sich plötzlich vor dem vornehmen Portal des in elektrischer Beleuchtung strahlenden Hotels befanden. Der Oberkellner empfing sie und machte ihnen die Honneurs. Sie waren so in ihre Gedanken vertieft, daß sie wenig von seinen Bemühungen merkten. An der großen Treppe reichte das Fräulein Rupert die Hand, ihm Gute Nacht zu wünschen.

„Nein!“ rief er, „so dürfen wir uns nicht trennen – so nicht. Morgen kommt Ihr Herr Vater, und der entführt Sie mir und Heidelberg in aller Frühe. Wir sehen uns vielleicht nie wieder und“ – setzte er sehr ernst hinzu – „ich habe Ihnen noch viel zu sagen. Sie müssen mir eine Bitte erfüllen. Wollen Sie? Nein, Sie müssen bedingungslos Ja sagen!“

Einen Augenblick schaute sie zweifelnd in sein Antlitz. „Nun denn – Ja!“

„Ich danke Ihnen. Also: Sie kürzen morgen den gewohnten Schlaf um ein kostbares Stündchen! Wir gehen dann noch einmal da oben hinauf und besehen das Schloß im Morgensonnenschein. Sie haben heute in der Abendbeleuchtung zu wenig von ihm gesehen – und wer weiß, wann Sie wieder nach Heidelberg kommen? Wollen Sie?“

„Ich habe es ja versprochen – gewiß will ich!“ erwiderte sie lachend und reichte ihm noch einmal die Hand.

„Gute Nacht,“ sagte sie dabei mit leiser inniger Stimme.

„Auf Wiedersehen,“ sagte er ebenso leise.


8.

Sie war in ihr Zimmer getreten. Durch die weit geöffneten Fenster drang ein erfrischender Luftzug in die warmen Räume, aus der Ferne vernahm sie das Rauschen des Neckars. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus in die weithin glänzende Nacht, empor zu dem Schlosse, das jetzt, vom weichen Mondlicht wieder voll umgossen, hinausdämmerte ins ferne Thal.

Dort oben hatte sie eben gestanden. Dort hatte jemand Worte zu ihr gesprochen, wie sie solche nie gehört zu haben vermeinte, dort war eine neue Welt vor ihren Augen aufgegangen, eine Welt, in die sie zagend und sehnend zugleich zum erstenmal den Blick gerichtet. Und vor ihrem Geiste stand die alte, in der sie bis jetzt gelebt, in der sie glücklich gewesen bis heute. An ihren Augen vorüber zogen all die Menschen, mit denen das Leben sie in Berührung gebracht – so mancher Mann, den ihr Vater hochgeschätzt, den seine Kameraden priesen wegen seiner Vorzüge und den die Damen verhätschelten. Er hatte sie bevorzugt vor den andern allen, er hatte ihr gedient in unentwegter Ritterlichkeit und Treue, er hatte still und verschlossen um ihre Liebe gefleht so manches Mal.

Und sie war immer dieselbe geblieben, kalt und ungerührt, [56] und nicht die leiseste Regung ihres Herzens sprach mehr für ihn als für die andern alle. Und heute?!

Heute fühlte sie mit einem Male ihr thörichtes Herz aufwallen wie nie in ihrem Leben, heute war in ihr eine Sehnsucht erwacht, von der sie nie eine Ahnung gehabt.

Lag es an dieser abenteuerlichen Reise, dieser Gegend mit all ihren Reizen, dieser wunderbaren Nacht – oder lag es an dem fremden Manne, den sie hier zum erstenmal gesehen und der –

Ja! Sie mochten alle viel gewandter sein und vornehmer, ihre Unterhaltungsgabe viel witziger und bestechender – eins aber fehlte ihnen, eins hatten sie nie vermocht: den Ton anzuschlagen, der widerklingt in einer anderen Brust, die Sprache zu reden, welche wahrhaft erst die Geister vereint, die Sprache des Menschen zum Menschen! Darum waren ihr diese Männer fremd geblieben, so oft sie der Weg des Lebens auch zusammenführte – daheim und auf der Reise. Es war immer dasselbe! Sie war und blieb für sie stets die Dame der großen Gesellschaft, etwas anderes nie! Deshalb hatte sie sich bei allem äußerlichen Glück doch innerlich nie befriedigt gefühlt.

Und nun mit einem Male kam jemand, der nicht zu ihr sprach wie zu der Dame eines besonderen Stands, sondern wie der Mensch zum anderen Menschen. Die Natur mit all ihrer Erhabenheit und Größe hatte ihm das Herz erschlossen, und dies ganze volle Herz hatte er ihr geoffenbart, die er eben erst kennengelernt, und was er fühlte und sagte, war widergeklungen in ihrem Innern wie ein Ton aus einer Heimat, die sie lange nicht gesehen. Sie hatte empfunden, daß sie sich verstanden wie nur gleichfühlende Menschen sich verstehen können.

Und das alles sollte mit dem morgigen Tage aus und vorbei sein? Und warum?! Ja – warum, wenn man nur den Mut in sich fühlt, kräftig zu wollen und zu handeln, Fesseln zu sprengen, die einem unerträglich geworden?!

Sie hatte die Oberkleider gelöst – die freigewordenen Haare fielen über Nacken und Brust – den glühenden Kopf hatte sie in die weichen Arme gestützt, so starrte sie nachdenklich hinweg über den kleinen Handspiegel, der vor ihr stand.

Er hatte Lust, Docent zu werden. Die Gaben dazu besaß er zweifellos, nur das Geld fehlte ihm dazu. Das armselige Geld! Sie lächelte geringschätzig. Aber es war noch etwas anderes!

„Es giebt Fesseln, die kein Simson sprengen kann – heilige Fesseln, in denen wir haften mit unserem ganzen Sein, mögen sie auch unserem rücksichtslosen Wollen und Wünschen drückend erscheinen.“ Wie ihr diese Worte durch den Kopf hallten! Gab es solche Fesseln auch für sie?

Mit einem Male stand das Bild ihres Vaters vor ihr – Rupert selbst hatte sie an ihn erinnert – ihr lieber, guter, aber auch adelsstolzer, starrer Vater, der kein höheres Heiligtum kannte als seinen Stammbaum, der seine amtliche Stellung mit peinlichster Gewissenhaftigkeit, aber mit ebenso unnahbarer Hoheit versah.

Dieser Vater – und der Schulamtskandidat! Sie hätte auflachen können, wenn ihr nicht so furchtbar ernst ums Herz gewesen wäre! Und um ihren Vater gruppierten sich nun alle anderen Glieder der Familie, die von seiten ihrer Mutter, die einem der, ältesten Grafengeschlechter angehörte, in erster Linie, all die Tanten und Basen und deren Gatten und Söhne, alle ohne Ausnahme in den bevorzugtesten Stellungen der Gesellschaft. Und sie sah sie alle voller Verachtung auf sich herabblicken und die großen entrüsteten Nasen rümpfen über die Vergessene und Verlorene, die dort mit dem Schulamtskandidaten fortwanderte in eine Welt hinaus, von der keine Brücke mehr herüberführte!

Nein, es war nicht möglich!

Und selbst wenn sie das auf sich genommen und sich getrennt hätte für alle Zeit von der Welt, in der sie bis jetzt gelebt und glücklich gewesen – wenn dann ihrem Vater, dessen einziges Kind sie war, der sie mit zärtlicher Liebe im Herzen trug, dieses Herz darob gebrochen wäre und sie müßte ihn siechen sehen und welken um ihretwillen – hätte sie auch dann noch den Mut gehabt, kräftig zu wollen und zu handeln wie sie eben wähnte?! auch dann noch die Kraft besessen, so glücklich zu bleiben wie sie heute es träumte?!

Nein! Nein! Sie war mit jähem Entsetzen emporgeschnellt von dem Stuhle.

Er hat recht! Wir leben nicht für uns allein. In unserem Leben wurzelt das anderer Menschen und wir in ihm. Wer hätte das Recht, nur für sich zu wollen und für sich zu handeln? Man darf das Glück nicht suchen jenseit der Grenze, die Gott uns gezogen, und sei es noch so süß und lockend! Alle diese Wünsche sind die Sommernachtsträume des Lebens, die sich so schön träumen, aber nie verwirklichen lassen. Da heißt es entsagen und lernen, das Glück zu finden im eigenen beschränkten Kreise!

Aber austräumen und auskosten will ich diesen herrlichen Traum bis zu Ende und folgen soll er mir mein ganzes Leben hindurch, und wenn es mir wieder flach erscheinen will und alltäglich, dann will ich flüchten zu seinem holden Zauber, bis –

Sie kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Sie lag längst in ihren weichen Kissen. Vor ihren Augen flutete und wallte der silberne Neckar so gleichmäßig, so träumerisch müde – und über ihm hoben und senkten das hohe Haupt die grünenden Berge ganz langsam wie im Takte. Und leise neigte und nickte dazu die mondumflossene Schloßruine. Und um sie herum tanzten in feierlich gemessenem Schritte die Geister des Schlosses, geführt von Perkeo, dem kleinen winzigen Wichte. Und siehe, aus ihrem Reigen trat einer heraus in weißem wallenden Gewande, mit einem Antlitz, in dem der Friede wohnte und die glückselige Ruhe. Der nahm sie in seine Arme und küßte ihr die dunkelblauen Augen und strich ihr mit der zarten Hand über die schweren Lider, die zugefallen waren.

Das war der Schlaf. Der erbarmte sich ihrer und trug sie auf seinen weichen Schwingen in das ferne Reich des Vergessens, des wirklichen Traumes.

Und über ihre roten Lippen spielte ein Lächeln wie ein wehmütig süßes Glück, und die junge Brust hob und senkte sich so ruhig im lieblichsten Sommernachtstraum, den je ein Menschenkind träumte. – – – – – – – – –

Als sie längst eingeschlafen war, kehrte auch Rupert von seiner einsamen Wanderung zurück. Er hatte, indes er am brausenden Neckar entlang ging, einen viel schwereren Kampf gekämpft als sie; aber, als er jetzt in sein Zimmer trat und noch einen Abschiedsblick zum gestirnten Nachthimmel emporsandte, lag der Frieden auf seinen ernsten Zügen und die Festigkeit, welche, des Zieles sich bewußt, Irrwege zu meiden weiß.


9.

Am nächsten Morgen in früher Stunde gingen sie denselben Weg zum Schlosse hinauf, der ihnen durch den vergangenen Abend so unvergeßlich geworden. Die Erinnerung an das, was sie gestern gemeinsam erlebt, flammte in ihrer ganzen Macht auf. Aus ihren ernsten Zügen sprach sie, aus ihren sinnenden Augen, am beredtesten aber aus dem Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, denn schon waren sie eine große Strecke nebeneinander gegangen, und kaum ein Wort war gesprochen.

Hinein aber in diese Erinnerung stahl sich die Wehmut, daß es nun zu Ende sein sollte für immer, was sie hier miteinander empfunden und durchlebt, daß alles nur ein kurzer Traum gewesen, aus dem sie erwacht waren zur ernsten Wirklichkeit, zum traurigen Scheiden!

Zur ernsten Wirklichkeit!

Sie waren am Ziele ihrer Wanderung angelangt. Wieder lag sie vor ihnen, die alte hochragende Schloßruine in ihrer ganzen Majestät und Schöne – aber so verklärt, so traumumflossen, wie gestern im weichen Mondeslicht, sah sie heute in der Morgensonne nicht mehr aus. Wieder hoben und senkten sich da drüben die weinumkränzten Hügel und Berge – aber so zauberisch und unwiderstehlich wie gestern im blauschimmernden Nachtgewande grüßten und winkten sie nicht mehr. Wieder rauschte und brauste da unter ihnen der grüne Neckar – aber das glitzernde Silber auf seinen Fluten war verschwunden, die Nixen stiegen nicht mehr aus seiner Tiefe, die Geister waren alle verstummt, die raunenden und lockenden der gestrigen Mondnacht.

Es war Tag geworden, die Sonne hatte sie vertrieben.

Der Zauber schwieg. Und dennoch – angesichts dieses Schlosses und dieser Umgebung erhob sich alles, was gestern zwischen ihnen vorgefallen, so lebendig in ihrem Inneren, daß es alle Fesseln der Befangenheit und der Wehmut sprengte und ihnen plötzlich die Worte lieh, die sie bis jetzt nicht gefunden.

„Bevor wir scheiden, Eins noch,“ brach das Fräulein zuerst das Schweigen, „es hat mir am meisten zu denken gegeben von [58] allem, was wir miteinander gesprochen: Sie sind nicht zufrieden. Sie fühlen sich gelähmt in Ihrem besten Können. Ihr Beruf drückt Sie.“

Er lächelte. „Wenn ich nur einen hätte! Daß ich gar keinen habe, drückt mich nieder.“

„Und Sie sollten keinen finden, der Ihren Wünschen entspräche?“

„Es ist so schwer,“ erwiderte er langsam. „Alles überfüllt! Ich bin zu jung. Sie lächeln – ja, ja – zu jung, obwohl ich mir in diesem Nichtsthun und Warten oft schon so alt vorkomme. Sehen Sie, gerade jetzt befinde ich mich auf der Reise nach Berlin, dort mein Heil noch einmal zu versuchen –“

„Sie haben dort Aussichten –“

„Leider so gut wie gar keine. Aber weil mir gerade an dieser Stelle so viel gelegen, weil gerade sie meinen innersten Herzenswünschen entspräche, will ich das äußerste versuchen.“

„Was für eine Stelle ist das?“

„Es handelt sich um eines der königlichen Staatsgymnasien Berlins. An seine Spitze haben sie vor kurzem einen Mann berufen – nicht so einen alten, verbrauchten, engbrüstigen Pedanten, sondern eine ganze Kraft, einen noch jugendfrisch fühlenden, bedeutenden Philologen, der die höchsten Ideale für seinen Beruf mitbringt und der Mann dazu ist, sie in die That umzusetzen. Er war früher Docent in diesem Heidelberg. Von ihm empfing ich die ersten Anregungen, von ihm die Begeisterung für meinen Beruf, ausgeübt nach seinem Vorbild. Unter diesem Manne zu lehren, von ihm täglich zu lernen, mit ihm aufs neue in geistige Gemeinschaft zu treten – sehen Sie, ein größeres Glück könnte mir nicht widerfahren!“

„Und keine Hoffnung, es erfüllt zu sehen? Kann dieser Direktor denn nichts dafür thun?“

„Er hat ja gethan, was in seinen Kräften steht. Aber so einfach geht das bei uns nicht. Da sitzt am grünen Tische des Unterrichtsministeriums in Berlin so ein allgewaltiger Herr, ein Geheimrat ohnegleichen, ein Schulmonarch, vor dem sich alle beugen müssen. Der hält in den starken Händen Sein und Nichtsein. Und dieser Hartherzige hat bereits über mich zu Gericht gesessen – ein Nichtsein hat er verfügt. Und ich Thor! – Trotz alledem wage ich die weite Reise aus dem Elsaß nach Berlin, trotz alledem suche ich mein Herz mit dem Wahne zu umschmeicheln, es möchte mir auf eine mir allerdings völlig rätselhafte Weise gelingen, die Seele dieses Gestrengen zu erweichen –“

„Und der Namen dieses Geheimrats?“ fragte das Fräulein sehr schnell.

„Altstedt – Geheimrat Altstedt,“ gab er zur Antwort.

„Altstedt?“ rief das Fräulein. „Altstedt!“ wiederholte sie jubelnd, als berge dieser Namen den Inbegriff alles Glücks für sie. „Es ist nicht möglich – das ist zu schön!“

Ganz erstaunt sah Rupert sie an. Sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. Ihre großen Augen leuchteten so hell, so von ganzer Seele vergnügt, und wie ein Kind klatschte sie in die Hände.

„Hören Sie! Dieser Herr Altstedt, der übrigens gar kein hartherziger Tyrann, sondern ein reizender lieber alter Herr ist, den ich hoch verehre, mein werter Herr Doktor – dieser Herr Altstedt ist der intimste Freund meines Vaters. Erst vor seiner Abreise hat Papa ihm einen Dienst erweisen können, für den er ihm zu großer Dankbarkeit verpflichtet ist; denn es handelte sich um seinen einzigen Sohn. Nun weiß ich genau, daß er meinem Vater jeden Gegendienst thun wird, zu dem er irgend imstande ist und den er thun – darf. Und mein Vater? Was wird ihm eine größere Freude sein, als sich dem Manne erkenntlich zu zeigen, der seiner hilflosen Tochter in der Fremde ein so treuer Ritter gewesen!“

Wieder war Rupert zu Mute, als träumte er – oder sollte es die schönste Wirklichkeit sein, die ihm mit einem Male so nahe das Ziel seiner heißesten Wünsche zeigte?!

„Und selbst wenn mein Vater nichts thun könnte oder wollte, was freilich beides ausgeschlossen ist – wir beide sind die besten Freunde, der Herr Geheimrat und ich. – Und ich? Nun ich habe das Bitten zwar wenig gelernt und kaum noch versucht. Aber ich fürchte mich nicht, es wird mir gelingen. So inständig will ich ihn bitten, so hartnäckig! Und sollte ich dem alten Geheimrat zu Füßen sinken müssen, ich werde nicht ruhen, bis er mir die feierliche Urkunde überreicht, in der es schwarz auf weiß steht, daß der Probekandidat Herr Dr. Walter Rupert an das betreffende Staatsgymnasium in Berlin als ordentlicher Lehrer feierlichst berufen ist!“

Sie machte eine flehende Gebärde. Sie faltete bittend die weißen Hände. So zuversichtlich, so vertrauend blickte sie zu Rupert empor, als wäre er der gefürchtete Geheimrat und sie ein bettelnd Kind. Dabei blickte unter dem einfachen Sommerhut das hübsche Gesichtchen so schelmisch hervor, die dunklen Augen blitzten so siegessicher und so siegesfroh zugleich – nein, kein Geheimrat der Welt konnte ihr widerstehen, es wäre unmöglich gewesen!

Und Rupert? Er konnte sie nur ansehen und wieder ansehen. Das Wort, das er ihr sagen wollte, fand er nicht. Aber sein dankbar leuchtender Blick sprach eine um so beredtere Sprache.

„Und dann kommen Sie nach Berlin!“ fuhr sie in lebhafter Erregung fort. „Dann nehmen wir heute nicht Abschied voneinander, dann sehen wir uns wieder, viele, recht viele Male! Und dann –“ Sie errötete und brach schnell ab.

Was war das?

Waren es die alten, doch schon begrabenen Hoffnungen wieder, die in ihrer Brust rebellisch sich regten, gingen sie auch jetzt einher im hellen Morgensonnenschein, die lockenden Geister des Neckarthales, wachte er wieder auf, der süße Traum der verflossenen Nacht?

„Aber,“ unterbrach sie gewaltsam ihre Gedanken und schaute mit einem fragenden Blick auf Rupert, „Sie sind so nachdenklich geworden, Herr Doktor!“

In der That, als sie jetzt zu ihm sprach, fuhr er fast erschreckt empor wie aus tiefem Sinnen, in das er sich verloren.

„Nachdenklich, ja,“ sagte er mit leise bebender Stimme, „über all dem großen Glück, das Ihre Güte mir verheißt, über dem doppelten Glück, denn es ist nicht nur das meine, sondern auch das eines anderen Menschen.“ Die letzten Worte hatte er nicht ohne eine gewisse Anstrengung gesprochen – er atmete tief und schwer, als er jetzt langsam, fast zögernd fortfuhr:

„Die Zeit ist kostbar. Jede Minute kann Ihr Herr Vater hier sein. Wer weiß, wann wir uns wieder so ungestört sprechen. Und wir sind uns in der kurzen Zeit zu nahe getreten – wir dürfen nicht auseinander gehen, ohne daß wir uns ganz verstanden hätten. Lassen Sie mich Ihnen erzählen!

Es ist eine alte Geschichte. Und alte Geschichten haben den Vorzug, daß sie immer kurz sind. Kurz ist auch die meine.“

Er hielt einen Augenblick inne, gleich als suchte er nach den richtigen Worten, in denen er zu ihr sprechen wollte.


10.

„Ich war noch sehr jung,“ begann er seine Beichte, während seine Blicke sich vor denen seiner Zuhörerin senkten. „Ich hatte gerade meine ersten Semester hier in Heidelberg absolviert. Da lernte ich auf dem Gute, dessen Besitzer der Patron meines Vaters ist – er ist Dorfschulmeister – die Erzieherin kennen, ein junges Mädchen von ansprechendem, edlem Angesicht, mit einem Herzen, das offen war für alles Große und Wahre. Sie hatte bessere Tage gesehen; ihr Vater starb früh und ohne jedes Vermögen – sie mußte sich eine Existenz gründen, um sich zu ernähren und ihre Mutter. Sie that es mit einer Energie, die bewundernswert war. Sie hatte dabei viel Schweres durchzumachen und große Unannehmlichkeiten zu überwinden. Aber alles das schien nur dazu angethan, den frohen Mut in ihr zu stärken und den heiteren Glauben an Gott und die Menschen.

Marie war ihr Name, wie der Ihre. Sie kam oft in unser Haus, ich verkehrte viel auf dem Gute – wir traten uns näher, wir glaubten einander zu verstehen – wir verlobten uns.“

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da trat das Fräulein schnell einen Schritt zurück, aus den fein geschnittenen Mundwinkeln sprang plötzlich jener leise Zug von Hochmut wieder, den er gestern an ihr bemerkt – die Spannung, mit der sie bis dahin seinen Worten gefolgt, ließ nach. Er merkte das nicht.

„Ob es vor der Welt und den Menschen eine Verlobung war,“ fuhr er fort, „weiß ich nicht – vor meinem Gewissen war es eine. Ich war damals sehr jung, aber nicht unreif. Es [59] war nicht eine jener übereilten, bald bereuten Verlobungen, die ein Student in den ersten Semestern schließt und löst – es war ein ernster, ein heiliger Herzensbund. Wie falsch, solche frühen Verlobungen als eine unverzeihliche Thorheit zu betrachten! Wie viele Männer danken gerade ihr ihre ganze Existenz, ihre Charakterbildung! Du mein Gott, wenn ich daran denke, was ich diesem Bunde, diesem tapferen Mädchen alles zu danken habe! Wie wußte sie mich zu trösten, wenn ich ungeduldig und verzagt wurde in dem ewigen Harren und Warten auf eine Anstellung, wie den Mut mir zu heben, wenn er sinken wollte! Und dabei nie das leiseste Wort der eigenen Klage, der Unzufriedenheit in all dem schweren Leben und den Bitternissen – denn sie ist heute noch Gouvernante.“ Er hatte mit wachsender Wärme gesprochen, aber die blauen Augen des Fräuleins blickten noch immer so vergessen, so leblos in das sonnige Thal, um die roten Lippen spielte noch immer der verräterische Stolz.

„Es ist ja schließlich kein berauschendes Glück, kein Himmelhochjauchzen, solch eine siebenjährige Verlobung – das können Sie sich wohl denken! Aber ein dankbares Sichgesichertwissen des Herzens, ein wohliges Geborgensein ist es gewesen! Ja, das ist es gewesen – bis auf den gestrigen Tag!“ In seine bleichen Wangen schoß ein jähes Erröten, die scharfgeschnittenen Nasenflügel bebten, und schnell wandte das Fräulein sich ab.

„Ja, bis auf den gestrigen Tag – bis auf diese Mondnacht hier am Schlosse – mit Ihnen!

Nein, nein – Sie müssen mich hören, bis zum Ende hören, ich kann Ihnen diese Beichte nicht ersparen – ich darf es nicht.

Gestern, als ich Sie sah, als ich mit Ihnen auf dieser Stelle stand und sprach, wie ich noch nie mit einem Menschen gesprochen, da geschah etwas Unbeschreibliches. Ein Empfinden zog mir durch die Seele, das ich nicht wiederzugeben vermag. Wie ein wilder Taumel raste es mir durch das Blut, mit unwiderstehlicher Gewalt klang durch mein Inneres wieder und wieder: du bist noch nie glücklich gewesen! du hast die ganze Schöne des Lebens und seine reichsten Schätze noch nie gekannt! du bist ein armer betrogener Narr! Was mir bis dahin der Inbegriff des Friedens war und des sonnigen Glücks, das wurde mir mit einem Male zur drückenden Fessel. Ich fühlte mich gebunden, ich begann gegen meine Bande zu kämpfen – frei wollte ich sein und fühlte, daß ich ein Sklave war. Wie ein einziger Augenblick den ganzen Inhalt eines Lebens, das so festgefügte Gebäude eines langbewährten Glückes umzustoßen vermag – ich habe es nie geahnt, aber gestern habe ich es erfahren!“

Er hielt inne und atmete tief.

In den lauschigen Gründen sangen die Vögel, und unten von der Stadt herauf klang das vielstimmige Läuten der Kirchenglocken zur alten Burgruine empor, so feierlich und mahnend, denn es war Sonntag und die Kirchstunde war nahe.

„Was ich dagegen gethan?“ fuhr Rupert langsam fort, und die Unsicherheit, mit der er bis jetzt gesprochen hatte, wich einer wachsenden Festigkeit. „Als ich gestern von Ihnen Abschied nahm, ging ich allein hinaus in die feiernde Natur. Ein Kampf wogte in meinem Inneren, wie ich ihn niemals durchgemacht, die widerstrebendsten Gefühle stürmten auf mich ein. Ich mußte Ruhe und Festigkeit haben um jeden Preis! So konnte ich es nicht einen Tag länger tragen. Ich sagte mir: Wenn das, was du bis heute für das größte Glück deines Lebens gehalten, sich im ersten Ansturm als ein leerer Wahn erweist, so giebt es nur eine Pflicht noch, und die heißt: brechen, so bald wie möglich Bande brechen, die dir unerträglich sind! Ich gebe es zu, ich dachte in diesem Augenblick wenig an sie, an das Herzeleid, das ich über sie bringen würde, ich dachte nur an mich: es war eben unmöglich, es war gegen meine ganze Natur, unter diesem Zwiespalt im alten Geleise fortzuleben. Was sollte ich thun? Wie mußte ich handeln? Ich prüfte mich mit rücksichtslosem Ernst, indem ich am nächtlich rauschenden Neckar langsam dahinging. Tausendmal stellte ich mir dieselbe Frage, aber die rechte Antwort wollte mir nicht werden. Da faßte ich plötzlich einen Entschluß. Ihnen wollte ich die ganze Geschichte mit ihrer Freude und ihrem Leid erzählen, Ihnen alle meine Kämpfe offenbaren, offen und ohne jeden Rückhalt. Sie haben mich gestern verstanden, wie mich noch niemand verstanden! Sie sind unparteiisch in der ganzen Sache. Sie sollten mir sagen, ob nach dem, was ich Ihnen heute bekannt, solch ein Bündnis noch weiter möglich ist und segenbringend, Sie den Weg mir weisen, Sie allein, und wie Sie ihn zeigten, so wollte ich ihn gehen!“

Wieder hielt er inne, aber das Fräulein stand so regungslos, so geistesabwesend, als ginge die ganze Geschichte da sie gar nichts an.

„So,“ fuhr er fort, „stand es gestern bei mir fest, so wollte ich heute handeln. Da aber ereignete sich etwas Wunderbares - so wunderbar, daß ich fürchte, Sie werden mich jetzt nicht mehr verstehen. Da erzählen Sie mir von Ihren engen Beziehungen zu dem Manne, der mein Wohl und Wehe in seinen Händen hält, öffnen mir goldene Berge der Zukunft, stellen mir eine Anstellung in Aussicht, wie ich sie kaum mehr zu hoffen wagte. Und da – sehen Sie – da mit einem Male steht dieses Mädchen vor mir, dieses Mädchen, das mit mir geharrt und gehofft, mit mir alle Enttäuschungen durchlitten, um immer von neuem weiter zu hoffen und zu warten. Und ich sollte jetzt, wo endlich das heißersehnte Ziel sich zeigt – nein, das wäre undankbar, das wäre ärger als der schändlichste Verrat! Und mehr noch. Als Sie mir diese Aussichten eröffnen, da mit einem Male wird es mir klar, wie arm meine Freude wäre, wie nichtig, wenn ich dann nicht zu ihr gehen könnte und ihr entgegenjubeln: Sieg! All dies Harren und Warten hat nun ein Ende – wir sind am Ziel! Und hatte ich mir eben noch vorgenommen, Sie zu fragen, wie ich handeln sollte, jetzt war es mir klar: ich brauche keine Antwort mehr, selbst die Ihre nicht – mein Herz hat sie mir selbst gegeben! Der Traum ist vorbei, den ich gestern geträumt – ich bin erwacht. Aber so dunkel und traurig, wie sie mir erst schien, ist diese Wirklichkeit nicht – freilich eine Mondnacht wie die verflossene hier am Heidelberger Schloß mit all ihrem Zauber und ihrer Märchenpracht kann sie nicht sein, aber ein freundlicher, heller Sonnenschein, ein stiller Sonntagsfrieden, in den hinein die festlichen Glocken tönen – so ein ehrsames Glück, wie es sich für einen Schulmeister ziemt.“

Sie wandte ihm langsam das schöne Antlitz wieder zu – die jähe Röte war gewichen. Ein wehmütiger Frieden lag auf ihm wie ein matter Abendglanz.

„Und wie ich Ihnen mein Herz offenbart, so will ich ihr erzählen von diesem Sommernachtstraum in Heidelberg. Und erzählen –“ seine Stimme nahm einen weichen, schmeichelnden Klang an, als er nun, ganz nahe an sie herantretend, fortfuhr, „von der Dame, deren Knappe ich sein durfte, die hier auf der Schloßterrasse gestanden wie eine Königin aus der Märchenzeit, welche alle Jahre einmal niedersteigt zu den Sterblichen, ihre geheimsten Wünsche anhört und sie erfüllt, bevor sie ausgesprochen – von der Königin, der allein wir unser Glück verdanken!“

Er streckte ihr bittend die Hand entgegen, einen Augenblick zögerte sie – dann reichte sie ihm langsam die ihre.

Dabei sah sie ihn mit einem langen Blicke an. Und in dieser Sekunde lag etwas Unsagbares in ihren dunklen Augen, etwas, wie es nur ein Frauenauge widerspiegeln kann und auch dieses nur selten; und wenige sind es, die es je gesehen haben. Die Wenigen aber vergessen es nie.

„Und nun Lebewohl – wir müssen zur Stadt hinunter.“

„Lebewohl!“ wiederholte sie leise und ernst.

Einen Augenblick noch hielten die Hände sich gefaßt – einen Augenblick ruhten die schimmernden Augen ineinander. Die Glocken waren längst verstummt. Es war so lautlos still, so feierlich rings umher – nur in den dichten Kastanienbäumen über ihnen rauschte der Wind, und drüben in den Büschen schlug leise und lockend die Amsel.

„Marie!“ tönte es plötzlich durch die Stille. „Marie!“ hallte es wieder.

„Mein Vater!“ rief das Fräulein und stürzte dem alten Herrn entgegen, der, pustend und den perlenden Schweiß von der Stirn trocknend, den Schloßberg heraufkam.

Sie lagen sich in den Armen. Marie begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, als wäre er jahrelang verschollen gewesen.

Alle ihre Befangenheit schien in seiner Nähe geschwunden.

„Das war eine schöne Geschichte!“ räsonnierte der alte Herr, „in einen ganz verkehrten Zug geraten, mußte ich in einem weltverlorenen Neste übernachten. Das heißt,“ setzte er etwas verlegen hinzu, „an mir lag es nicht. Nur an den konfusen Anordnungen der Bahnverwaltung, die da Zug neben [60] Zug stellt, so daß auch der Erfahrenste in dem Babel sich nicht zurechtfinden kann. Aber nun du, mein armes, liebes Kind! Ein Glück nur, daß du auf den klugen Gedanken kamst, gleich zu telegraphieren. Hätte dir das übrigens gar nicht zugetraut! Aber langweilig muß es für dich gewesen sein in der fremden Stadt, in dem großen Hotel. Und wie du dich geängstigt haben wirst –“

„Daß alles nicht so schlimm gekommen, daß ich gut, ja, Väterchen, sehr gut aufgehoben gewesen bin, das danken wir allein diesem Herrn. Du erlaubst – Herr Doktor Rupert, der mir Ritterdienste geleistet wie nie ein anderer Herr.“

Das alles klang so auffallend warm, es kam aus so vollem Herzen, daß die Excellenz den jungen Mann mit einem sehr kühlen, prüfenden Blicke maß und die Verbeugung, mit der er die tiefe Reverenz des Doktors erwiderte, sehr gemessen und reserviert, für den Ritter seiner Tochter wohl zu reserviert ausfiel.

Auch als sie nun miteinander vom Schloßhofe zur Stadt herabstiegen, blieb die Excellenz sehr zugeknöpft und kühl. Und je mehr das Fräulein von der Herrlichkeit Heidelbergs schwärmte und dem schönen Mondabend an der alten Schloßruine, um so unnahbarer wurde die Excellenz, um so prüfender und forschender der strenge Blick, mit dem das stolze Auge den Probekandidaten ab und zu beehrte.

Das Fräulein durchschaute die Situation bald. Sie hielt es deshalb für angezeigt, ihrem Vater, sowie sie mit ihm auf dem Zimmer ihres Hotels allein war, einen genaueren Einblick in die Sachlage zu eröffnen. Die Folge war, daß die Excellenz dem Probekandidaten sehr freundlich entgegenkam und ihm für die Dienste, die er seiner Tochter erwiesen, freundlichsten Dank abstattete.

Daß er freilich auch dies mit einer gewissen Leutseligkeit und ein wenig von oben herab that, dafür konnte er nichts, das lag einmal in seiner Art, und Rupert that gut daran, es gar nicht zu bemerken. – 00000000000

Noch denselben Tag fuhren sie zusammen nach Berlin.

Die Excellenz fand bald, daß Rupert „Mensch“ genug war, um sich mit ihm unterhalten zu können, und that dies sehr lebhaft. Das Fräulein aber war schweigsam.

Ab und zu nur, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, ruhte ihr Blick sinnend auf den ernsten Zügen ihres Reisegefährten, und dann schimmerte für einen kurzen Augenblick wieder jenes Unsagbare auf in ihren Augen.


11.

In einen Berg von Akten versunken, saß in seinem Arbeitszimmer im Unterrichtsministerium zu Berlin der Geheimrat Altstedt, als ihm der Besuch des Fräuleins von Fehrbach gemeldet wurde.

So ganz überraschend kam ihm dieser nicht. Der General hatte bereits mit ihm gesprochen, er war über die Angelegenheit orientiert, welche die junge Dame zu ihm führte.

Aber so leicht machte er es ihr nicht. Er empfing sie mit der unbefangensten, herzlichsten Miene. Er begann eine lange Unterhaltung über ihre Reise, er ließ sich alles von Anfang bis zu Ende erzählen, er kannte alle Orte, in denen sie gewesen, er zeigte ein Interesse, eine Teilnahme, er war unerschöpflich in immer neuen Fragen – das Fräulein mußte sich alle Mühe geben, um nicht gar zu zerstreut in diesem qualvollen Verhör zu erscheinen. Als aber endlich der Augenblick gekommen und sie ihr Gesuch mit zagender stockender Stimme vortrug, da setzte er seine amtlichste Miene auf – so streng, so unnahbar, wie sie ihn noch nie gesehen.

Sie wurde ganz verwirrt und ängstlich. Wäre sie doch lieber in seine Wohnung gegangen, hätte sie die Frau Geheimrätin zu ihrer Vertrauten gemacht – das war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte!

„Ja, mein liebes Fräulein Marie,“ sagte der Geheimrat, „so sehr gerade ich mich freue, daß Sie in Ihrer Verlegenheit und Angst einen so trefflichen Helfer gewonnen – – Ihr Herr Ritter mag der beste Kavalier von der Welt sein, ob er aber ein so guter Schulmann ist, daß man ihn in verhältnismäßig noch sehr jungen Jahren hier nach Berlin an eines unserer besten Gymnasien beruft, das weiß ich nicht, und Sie, so lieb ich Sie habe, sind mir auch nicht Bürgin dafür. Doch was haben Sie denn da?“ unterbrach er sich plötzlich selber.

Das Fräulein war dunkelrot geworden.

In der lieblichsten Verwirrung nestelte sie mit der zitternden Hand an einem kleinen Pakete, das sie mitgebracht hatte – endlich war die Hülle entfernt, und sie überreichte dem Geheimrat einige Nummern einer bekannten Zeitschrift.

„Ich bat den Herrn Doktor darum – er gab sie mir – ich dachte …“ brachte sie mit stockender Stimme hervor, und ihre Wangen brannten.

Jetzt war es dem Geheimrat nicht mehr möglich, den gestrengen Ernst seiner Amtsmiene aufrecht zu erhalten – er lächelte leise.

„Also Schriftsteller ist er auch. So so – und mehrere Aufsätze gleich. Lassen Sie sehen. ,Die Pädagogik Rousseaus in ihrem Wert und ihrer Verwendbarkeit für die heutige Schule‘ – die Zeitschrift ist gut, schreibe selber für sie –“

Das Fräulein hatte sich erhoben.

„Nun, mein liebes Fräulein Marie,“ sagte der Geheimrat, „ich werde sehen. Eine bessere Fürsprecherin als Sie konnte sich dieser Herr Doktor Rupert jedenfalls nicht aussuchen. Aber dennoch – so einfach geht das nicht. Der Bewerber, den ich ausersehen, hat zwar eine Anstellung in seiner Heimat vorgezogen, aber gerade diese Stelle hier in Berlin, um die es sich handelt, ist mir von großer Wichtigkeit. Ich muß für ihre Besetzung streng prüfen und wägen. Jedenfalls – das verspreche ich Ihnen – sollen Sie die erste sein, die meine Entscheidung erfährt – –“

Das Fräulein war längst gegangen.

Die Akten lagen noch immer so hoch aufgestapelt wie vorher. Der Bureaubeamte hatte bereits einigemal die Thür behutsam geöffnet. Er war sonst so eine prompte Erledigung bei dem Herrn Geheimrat gewöhnt, und es lagen heute wichtige Sachen vor.

Aber der Herr Geheimrat saß noch immer vertieft in die Zeitschrift, die vor ihm lag, und las. Einigemal nickte er beifällig – jetzt flog sogar ein sonniges Lächeln über seine ernsten Züge.

„Ein Idealist! Gerade so wie ich, als ich jung war!“

Er hatte sich erhoben und war schnell entschlossen an seinen Schreibtisch getreten.

Aber die Akten blieben unberührt – er nahm einen Briefbogen und schrieb einige Zeilen mit raschen Zügen.

Dann klingelte er dem Bureaubeamten.

„Diesen Brief an Fräulein von Fehrbach – aber sofort – er hat Eile!“

Einen Augenblick noch weilte sein Auge nachdenklich auf den Blättern, die vor ihm lagen – dann ging er an seine Amtsgeschäfte. – 00000000000000

Am nächsten Tage wurde Rupert vom Geheimrat empfangen, so freundlich wie vorher nie und auch nicht nachher ein Schulamtskandidat eines ähnlichen Empfangs sich rühmen konnte.

Seine Arbeit hatte dem erfahrenen Kenner sofort den jungen Schulmann von Bedeutung und vielleicht von Zukunft gezeigt, den er brauchen konnte. Die warme Fürsprache des Fräuleins hatte das ihre gethan – die Bedenken gegen seine Jugend waren besiegt und Rupert war ordentlicher Lehrer an dem ihm so besonders sympathischen Gymnasium. – 000000000000000000000

Ein Sommerabend war’s in Berlin.

Oben am weitgeöffneten Fenster ihres Boudoirs stand das Fräulein und blickte sinnenden Auges herab auf die duftenden „Linden“ und das dunkle Gewoge der Menschen unter ihnen.

Die Dämmerung nahm zu. Ein Diener trat ein und überreichte ihr einen Brief, der eben mit der Post angekommen war.

Es war eine Verlobungsanzeige.

Wieder und wieder las sie die einfachen Zeilen. Ein mattes Lächeln spielte um ihre feinen Lippen.

Mit einem Male entsank das Blatt ihren Händen und fiel zur Erde. Und vor den sinnenden Augen entwichen die Linden und das Gewoge der Menschen und der Hufschlag der dahineilenden Pferde. Und empor tauchte eine alte Schloßruine, und der Mond goß sein weiches Licht über ihre Mauern und Zinnen und Türme. Und die weinbekränzten Hügel und Berge grüßten und winkten wie alte Bekannte. Und unter ihren Füßen wogte und rauschte der Neckar, und schimmerndes Silber lag auf seinen Fluten, und in der Tiefe raunten und lockten die Geister.

Noch einmal zog er durch ihre Seele, der kurze Sommernachtstraum in Heidelberg, der schönste, den je sie geträumt.