Textdaten
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Autor: Rudolf Hoernes
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Titel: Erdbeben und ihre Ursachen.
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 314–316
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Erdbeben und ihre Ursachen.

Nachdem vor kurzer Zeit Agram von einer verheerenden Erderschütterung heimgesucht, Casamicciola aus Ischia von einer solchen fast gänzlich zerstört worden,[1] dürften die nachfolgenden Betrachtungen über Ursachen und Wesen dieser unheimlichsten aller Naturerscheinungen (vergl. „Gartenlaube“ 1868, Nr. 42) den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein. Die beiden angeführten Katastrophen liefern Beispiele für die in ihren Ursachen und Wirkungen gänzlich verschiedenen Hauptgruppen der Erdbeben-Erscheinungen: die einen stehen mit dem Vulcanismus in unmittelbarem Zusammenhange; die andern finden in der Rindenrunzelung unseres Planeten, die durch die Abkühlung und Contraction des Erdinnern bedingt wird, ihre Ursache. Eine dritte und weitaus unbedeutendere Gruppe stellen die Einsturzbeben dar, welche auf Höhlendistricte beschränkt sind, wie sie z. B. der Karst der österreichischen Küstenländer umfaßt. Diese Einsturzerscheinungen werden verursacht durch die unterirdischen Auswaschungsvorgänge im Kalkgebirge, welche allmählich so große Hohlräume erzeugen, daß endlich die Decke zuweit gespannt ist, um die Last zu tragen, und Einstürze die unausweichliche Folge sind; sie sind zumeist nur mit einem ziemlich unbedeutenden Erzittern des nächstgelegenen Terrains verknüpft, während die Schallwirkung viel stärker hervortritt. Man spricht daher von einem Schallphänomen auf der Insel Meleda (1820), von einem solchen des Monte Tomatico bei Feltre (1859); man nennt diese Katastrophen nicht Erdbeben, da die Erschütterung des Bodens nur eine unbedeutende und locale war.

Wenden wir uns zur Betrachtung der viel häufigeren und verderblicheren vulcanischen Erdbeben! Sie gehen stets von einer bestimmten Stelle, dem Schlote eines thätigen oder anscheinend erloschenen Feuerberges, aus. Immer verbreiten sich die Stöße von diesem Centrum aus in radialer Richtung, und stets wird die unmittelbare Umgebung des Vulcans am stärksten betroffen. Die Wirkung ist die einer zu tief gelegten Mine; sie trägt in entschiedener Weise den Explosionscharakter, und es entspricht derselbe auch vollständig den Ursachen, die den vulcanischen Erdbeben zu Grunde liegen. Der Vulcanismus, eine allgemein verbreitete kosmische Erscheinung, beruht nämlich auf dem Ausspratzen der Gase, welche die ungeheuer heiße Materie der Weltkörper absorbirt enthält und bei der Abkühlung ausstößt. In riesigem Maßstabe geht diese Erscheinung, wie die Protuberanzen (Lichterhöhung, vergl. „Gartenlaube“ 1868. S. 570 u. 571) uns lehren, an dem Gluthballe der Sonne vor sich; die Oberfläche des Mondes bietet uns in zahllosen ausgeplatzten Blasen das Bild der Wirkung kolossaler vulcanischer Vorgänge, die an dem Trabanten unserer Erde eben wegen seines kleineren Umfanges um so rascher und vehementer sich abspielen mußten, je schneller die Abkühlung erfolgte. Auf unserer Erde, die in mancher Beziehung die Mitte zwischen der im Jugendzustand befindlichen, glühenden Sonne und dem längst gealterten und erkalteten Mond darstellt, trägt der Vulcanismus eine andere Gestalt. Die gewaltige Erstarrungsrinde verfestigt durch ihren Druck das Erdinnere, welches nur dort in vulcanische Erscheinungen sich Luft machen kann, wo die Rinde einen Bruch, einen Spalt aufweist. Solche entstehen jedoch durch die allmähliche Contraction des Erdinnern in Folge der Abkühlung. Die starke Rinde kann dem schrumpfenden Kern nicht folgen; sie wird gezwungen, sich in Falten zu legen, und bricht an vielen Stellen. An diesen erfahren die heißen und von Flüssigkeit durchtränkten Massen der Tiefe Befreiung von dem Drucke der lastenden Schichten; sie quellen auf und gelangen zur Eruption, welche im wesentlichen als ein Abkühlungsvorgang aufgefaßt werden muß. Durch das Ausstoßen der überhitzten Dämpfe zumal wird eine so beträchtliche Abkühlung der aufquellenden, glühend flüssigen Gesteinsmasse herbeigeführt, daß nach Auswurf einer größeren Menge ergossener oder zerstäubter Lava das Erstarren der noch im Schlote befindlichen herbeigeführt wird. Damit ist der frühere Zustand wieder hergestellt, das Ventil geschlossen und der Druck der Rinde besiegt abermals die Kräfte der Tiefe.

An zahlreichen Vulcanen beobachten wir von Zeit zu Zeit gewaltige Ausbrüche, welche wohl dadurch vorbereitet werden, daß der Erstarrungspfropf, der nach der letzten Eruption den Schlot geschlossen hat, von der inneren Gluth abermals geschmolzen wird. Dann erfolgt eine neue Betätigung der vulcanischen Kraft, bei welcher die Spannkraft der entweichenden Dämpfe abermals die Hauptrolle spielt. Jedem großen Ausbruche pflegen Erderschütterungen voranzugehen; sie scheinen allmählich aus geringerer Tiefe zu kommen und nehmen an Stärke zu, bis der Moment der Eruption eintritt. In diesem wird der Rest des erstarrten Pfropfes, welche im Grunde des Kraters zurückblieb, in die Luft geschleudert; das Ventil ist geöffnet; gewaltige Dampfmassen werden explosionsartig ausgestoßen; ein Theil der im Schlote empor brausenden Lava wird zerstäubt und fällt als Aschen- und Schlackenregen auf den Flanken des Berges nieder, während der weniger von Flüssigkeit durchtränkte nun bereits etwas abgekühlte Rest als Strom abfließt, wenn es überhaupt zur Hervorbringung eines Lavastromes kommt. Die Erderschütterungen aber, welche vor der Eruption die Umgebung des Feuerberges heimsuchten, haben in dem Momente aufgehört, in welchem die Eruption ihren Höhepunkt erreicht hat; sie erneuern sich jedoch zuweilen während des Ausbruches, wenn eine zeitweilige Verstopfung des vulcanischen Schlotes eintritt. Nur in beschränktem Sinne könnte man daher die Vulcane mit den Sicherheitsventilen unserer Dampfkessel vergleichen, da sie nur sehr unvollkommen die Function derselben zu erfüllen im Stande sind.

Fast überflüssig scheint es mir, Belege dafür anzuführen, daß großen Ausbrüchen eine längere oder kürzere Phase von Erdbeben vorauszugehen pflegt. Die Geschichte des Vesuv liefert hierfür zahlreiche Beispiele; so wurde, um nur eines derselben anzuführen, Pompeji wenige Jahre vor dem großen Ausbruche, welcher der Stadt den Untergang brachte, durch Erderschütterungen arg beschädigt.

Der Eruption, welche 1538 binnen wenigen Tagen den Monte Nuovo aus der phlegräischen Feldern (in der Nähe von Neapel) entstehen ließ, gingen langanhaltende Erdbeben voran, welche in der letzten Zeit vor dem Ausbruche furchtbare Stärke erlangten. Diese Erschütterungen, so furchtbar sie auch sein mögen, sind stets von localem Charakter, entsprechend ihrer Ursache. Das beweist auch Casomicciola auf Ischia, das am 4. März dieses Jahres, wie bereits gesagt, durch eine Erderschütterung fast vollständig zerstört wurde, während das Beben an anderen Stellen der Insel viel schwächer, in Neapel aber fast gar nicht verspürt wurde.

Ischia ist seit alter Zeit durch seinen vulcanischen Charakter berühmt; denn Plinius zählt die Insel unter jenen auf, die aus dem Meere empor gestiegen seien, und berichtet von zahlreichen vulcanischen Vorgängen, deren Schauplatz sie war. Auch Virgil meint, daß unter ihr, die er fälschlich „Inarime“ nennt, Typhoeus von Zeus begraben worden sei – jener Typhoeus, dessen Besiegung von Hesiod in solcher Weise erzählt wird, daß der lebendigen Schilderung ein großer vulcanischer Ausbruch zu Grunde zu liegen scheint. Vor wenigen Jahrhunderten hat Ischia einen weiteren Beweis der nicht erloschenen vulcanischen Kraft gegeben, als der große, „Arso“ genannte Lavastrom den Flanken des Epomeo entquoll und, reich cultivirtes Land verheerend, bis zum Meere sich hinabwälzte. Wünschen wir, daß die neuesten Erdstöße aus Ischia nicht den Beginn einer neuen Phase vulcanischer Thätigkeit darstellen! Die Möglichkeit einer solchen liegt nach dem geologischen Bau Ischia’s nahe.

Auch in anderen Fällen haben sich vulcanische Erschütterungen nicht auf größere Entfernungen von ihrem Ausgangspunkte fühlbar [315] gemacht; im schärfsten Gegensatze zu jenen Erdbeben, die mit den Faltungs- und Störungsvorgängen in der Rinde des Planeten in directem Zusammenhange zu stehen scheinen.

Diese häufigsten und verbreitetsten Erdbeben, die oft nur als unbedeutende und locale Erschütterungen sich bemerkbar machen, bisweilen aber sehr große Theile der Erdoberfläche umfassen und die entsetzlichsten Verheerungen anrichten, gehen nie von einem vereinzelten Punkte aus, sondern stets von einer Linie. Schon dieses Verhältniß bedingt eine scharfe Unterscheidung der vulcanischen Erdbeben, deren Herd immer ein thätiger oder erloschener Schlot ist, und dieser an „Stoßlinien“ gebundenen Erschütterungen, welche man „tektonische“, Structur“- und „Stauungsbeben“ genannt hat, weil sie ihre Ursache in der Aenderung im Aufbaue, in der Faltung und Stauung der Erdrinde finden.

Diese Beben ereignen sich vorzugsweise in Kettengebirgen, und zwar entweder auf Stoßlinien, welche der Richtung der Ketten, dem „Streichen“ des Gebirges entsprechen (Längs- oder Longitudinalbeben), oder aber auf solchen, welche senkrecht zu dem Streichen des Gebirges stehen (Quer- oder Transversalbeben).

Die gewaltigen Erdbeben, die an der westlichen Küste Südamerikas in enormer Ausdehnung auftreten, hängen keineswegs mit dem an jener Küste ebenfalls im größten Maßstabe sich bethätigenden Vulcanismus zusammen, der nur eine secundäre Folge der Störungen im Bau der Rinde ist, sondern direct mit dem Brechen und Spaltenwerfen derselben.

Wenn wir hören, daß bei dem großen Erdbeben vom 24. Mai 1750 der Hafen von Concepcion trocken gelegt wurde und in Folge des Bebens an der ganzen chilenischen Küste die Muschelbänke etwa 4 Fuß über dem Meere abstarben, so dürfen wir diese Verschiebung des Meeresniveaus wohl nicht auf eine durch vulcanische Kraft bewirkte Hebung des Landes zurückführen – denn eine solche ist nach den heutigen Anschauungen der Geologie in dieser Ausdehnung unmöglich – sondern nur auf die plötzliche Ausgleichung einer Spannung in der Erdrinde, hervorgerufen durch die allmähliche Contraction des Erdkernes, welcher die starre Rinde nur ruckweise und unter jenen Erscheinungen, die wir als Erdbeben empfinden, zu folgen vermag. Das Gebiet des Stillen Oceans ist allmählich gesunken; wir erkennen es vornehmlich durch die geistvolle Theorie Darwin’s, nach welcher die Korallen-Inseln der Südsee durch langsames Sinken des Untergrundes und dem entsprechendes Fortbauen nach oben entstanden sind.

Doch kehren wir zurück zu Gebieten, die uns näher liegen! In dem Kettengebirge der Alpen sind Erdbeben eine ungemein häufige Erscheinung. In den Jahren 1850 bis 1857 wurden in den Alpen nicht weniger als 1086 Erdbeben verzeichnet, von welchen wegen mangelhafter Beobachtung nur 81 auf die Ostalpen kommen, sodaß die genannte Zahl vielleicht um die Hälfte hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Wenn auch alle Theile der Alpen häufige Erschütterungen aufweisen, so sind doch jene südalpinen Gebiete, welche in weitem Bogen das adriatische Meer und die oberitalienische Ebene umspannen, Schauplatz der häufigsten und intensivsten Erdbeben. Schon die geographische Lage der von dem Kettengebirge abhängigen Schütterzonen zwingt uns zu der Annahme, daß die in Kettengebirgen so häufigen Erdbeben mit der Entstehungsursache derselben im engsten Zusammenhange stehen. Es sei gestattet, für die oben angeführten beiden Kategorien der Longitudinal- und Transversalbeben einige Beispiele anzuführen. Der ersten Gruppe können wir zuzählen das Erdbeben von Klana im österreichischen Küstenlande (1870); das erzgebirgische Beben vom 23. November 1875 und in gewissem Sinne die calabrischen (peripherischen) Erdbeben von 1783. Als Transversal- oder Querbeben haben wir zu bezeichnen jenes von Belluno (1873), jenes von Agram (9. November 1880) und jenes furchtbare Erdbeben von 1348, welches Villach und Udine zerstörte. Ich will als Beispiel für die lineare Verbreitung jener Erdbeben, die mit der Gebirgsbildung zusammenhängen, in Kurzem die Wirkungen des letzterwähnten Erdbebens aufzählen. In Venedig wurde der Canal grande trocken gelegt und viele Paläste umgestürzt, in Friaul mehr als vierzig Schlösser und feste Plätze zerstört; besonders litten die Städte Udine, Tolmezzo, Gemona, Venzone etc. Villach wurde fast gänzlich zerstört, da Feuer die Verheerungen des Erdbebens vervollständigte. Das entsetzlichste Ereigniß aber war der Einsturz des südlichen Theiles des Dobratsch, durch welchen zwei Märkte und siebenzehn Dörfer theils von dem Bergsturz begraben, theils vom Flusse überschwemmt wurden – vom Gailflusse nämlich, der zu einem See gestaut wurde, bis er sich mühsam durch die „Schütt“ Bahn brach. Noch heute aber sumpft das Thal aus dieser Ursache. In ähnlicher Weise läßt sich bei allen übrigen angeführten Erdbeben eine mehr oder minder lange Stoßlinie nachweisen.

Von besonderer Bedeutung erscheint ferner der Umstand, daß ein und dieselbe Linie stets wiederholt zum Erdbebenherde wird, und daß dieselben Orte im Laufe von Jahrhunderten wiederholt zerstört oder doch von schwächeren Erschütterungen heimgesucht werden. So wurde Agram seit dem 26. März 1502, an welchem Tage es unter einer zerstörenden Erschütterung zu leiden hatte, die etwa dieselbe Intensität hatte, wie jene vom 9. November 1880, bis zu unseren Tagen von häufigen Erdbeben (Professor Kispatič zählt in der „Agramer Zeitung“ im gedachten Zeitraume deren vierzig auf) betroffen. Bei Transversalbeben zählen die Stöße, welche dem Hauptstoße folgen nach Hunderten, und eine solche Schütterphase dauert eine Reihe von Monaten.

In Agram zählte man vor Kurzem den dreihundertsten Stoß seit jenem vom Morgen des 9. November; in Velluno ereigneten sich ebenfalls nach dem Hauptstoß vom 29. Juni 1873 einige Hundert Stöße, welche bis in’s Jahr 1874 andauerten. Auch bei diesen Querbeben ist der Hauptangriffspunkt der seismischen Kraft immer derselbe, wenn er auch auf derselben Stoßlinie gelegen ist. Noch deutlicher aber spricht sich das „Wandern der Stoßpunkte“ bei den longitudinalen oder peripherischen Beben aus.

Sueß hat bei Besprechung der Erdbeben Süditaliens zuerst dieses Wandern und Zurückspringen der Stoßpunkte auf einer peripherischen Linie gezeigt. Insbesondere bei dem furchtbaren Erdbeben von 1783, welches Tausenden den Untergang brachte, wanderten durch Monate die Ausgangspunkte zerstörender Stöße auf der die Senkung des Tyrrhener Meeres begleitenden calabrischen Schütterzone. Ein ganz ähnliches Wandern und zeitweises Zurückspringen der Stoßpunkte zeigt das Erdbeben von Klana.

Solche Erscheinungen sprechen entschieden dafür, in derartigen Erdbeben die unmittelbare Folgewirkung von Bewegungen in der Erdrinde zu suchen. Eine longitudinale Erschütterung entspricht der Entstehung eines Sprunges in der Richtung jener langen Falten, welche die Erdrinde aufwirft und welche wir Gebirgsketten nennen. Solche Brüche entstehen nicht auf einmal in ihrer ganzen Länge; sie werden auch wiederholt dadurch aufgerissen, daß die Bewegung auf der einen Seite der Bruchlinie eine andere, vielleicht geradezu entgegengesetzte ist, als auf der anderen. Diese Bewegungen aber sind stets mit Erderschütterungen an der Schütterzone verbunden, welche also einem großen Längsbruche oder einem System von mehreren Brüchen entspricht. Das Wandern oder Zurückspringen der Stoßpunkte wird so leicht erklärlich. Anders verhält sich die Sache bei den Transversalbeben; sie werden hervorgerufen durch die zeitliche Verschiebung einzelner Schollen der Erdrinde, die man in vielen Fällen auch im geologischen Bau des Gebirges nachzuweisen im Stande ist.

Die genaue Untersuchung der Erdbebenerscheinungen giebt uns Mittel an die Hand, diese Behauptung zu prüfen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erdbeben hat Maltet anläßlich des großen Erdbebens von Calabrien 1857 näher untersucht. Die Erdbebenwelle hatte damals eine Geschwindigkeit von 305 Meter in der Secunde. Es kann die Schnelligkeit der wellenförmigen Fortpflanzung eines Erdstoßes jedoch, je nach der Beschaffenheit des Gesteins, auf 150 Meter herabsinken, aber auch bis 800 Meter per Secunde erreichen. Durchschnittlich können wir annehmen, daß Erdbebenwellen ungefähr mit gleicher Schnelligkeit in der Erdrinde sich bewegen, wie Schallwellen in der Luft (340 Meter).

Daß diese Erdbeben in Vorgängen in der äußeren Rinde unseres Planeten ihre Ursache finden, lehren ferner jene Berechnungen, welche Maltet, von Seebach und von Lassaulx mit großem Erfolg auf die Stoßstärken, die Zeitbestimmungen über den Eintritt des Stoßes an verschiedenen Punkten und die Stoßrichtungen gründeten, nur den Ursprungsort für verschiedene Erdbeben zu bestimmen. Es würde zu weit führen, die complicirten Methoden solcher Berechnungen zu erörtern. Es sei nur angeführt, daß die muthmaßliche Tiefe des Herdes für das calabrische Erdbeben von 1857 mit 10,667 Meter = 1½ geographischer Meile, für jene, von Herzogenrath bei Aachen 1873 mit 11,130 Meter, für jenes von Gera 1872 mit 17,956 Meter oder 2,4 Meile, für das Erdbeben von Sillein in den Karpathen 1858 mit 26,266 Meter und [316] endlich für das rheinische Erdbeben von 1846 mit 38,806 Meter gefunden wurde.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, eingehend den ganzen Beobachtungsapparat der heutigen Erdbebenkunde zu erklären. Nur die Beeinflussung der wellenförmigen Fortpflanzung der Erdbeben durch die Beschaffenheit des leitenden Mediums sei noch kurz in’s Auge gefaßt. In einiger Entfernung vom Herde wird der Stoß in Folge der ungleichförmigen Fortpflanzung stets mehr oder minder abgelenkt, oft in zwei, drei und mehr Wellen getheilt, welche in ungleichen Zeiträumen, in ungleicher Richtung und in ungleicher Stärke an einzelnen Orten anlangen. Ursache hiervon ist ein Umstand, der bei Gelegenheit des Agramer Bebens sehr gut beobachtet werden konnte. Nur in den obersten Schichten der Erdrinde findet die Fortpflanzung der Erdbebenwellen statt. In den verhältnißmäßig nicht sehr tiefen Braunkohlen-Bergwerken der Steiermark wurde der Stoß vom 9. November gar nicht verspürt, und zwar schon in einer Tiefe von 40 bis 50 Meter, während an der Oberfläche oder in sehr geringer Tiefe der Grube die Erschütterung eine sehr heftige war. Daß unter solchen Verhältnissen die Oberflächengestaltung und Wechsel in der Gesteinsbeschaffenheit von dem größten Einfluß auf die oben erwähnten Factoren sein müssen, ist klar. Die Wirkungen solcher Erdbeben sind in den obersten Schichten am heftigsten. Liegt z. B., sagt von Hochstetter, auf festem Fels eine dünne Schicht oder Anschüttungsmasse, so bewegt sich diese fast wie Sand auf einem Resonanzboden.

Eine furchtbare Folge der Erdbeben an Meeresküsten sind jene ungeheuren Fluthbewegungen, welche z. B. 1755 mit dem Beben von Lissabon, 1868 mit jenem von Arica, 1877 mit jenem von Iquique verbunden waren. Bei dem Erdbeben von Lissabon hat wohl der größte Theil der 60,000 Verunglückten den Tod durch die mit furchtbarer Gewalt über das Land hereinbrechenden Meereswogen gefunden. Wie wenn man an den Rand einer mit Wasser gefüllten Schüssel stößt, hat sich damals die Erschütterung in Wellenbewegungen des Atlantischen Oceans bis zu den westindischen Inseln fortgepflanzt; noch großartiger war die Erdbebenfluth, die am 13. August 1868 von Arica ausging, den Stillen Ocean in Bewegung setzte und nach 22 bis 24 Stunden an den Küsten Australiens und Japans anlangte.

Es sei schließlich gestattet, mit wenigen Worten jener Meinungen zu gedenken, welche man aus der Statistik der Erdbeben abgeleitet hat. Man vermuthete eine gewisse Abhängigkeit der Erdbeben von den Tages- und Jahreszeiten und insbesondere von den Mondphasen. Perrey hat durch statistische Zusammenstellung erweisen wollen, daß die meisten Erdbeben zur Zeit des Voll- und Neumondes stattfinden, so zwar, daß seine Theorie, nach welcher die Erdbeben durch eine Art Ebbe und Fluth eines glühend flüssigen Erdinnern erzeugt werden, große Wahrscheinlichkeit für sich hätte, allein der von ihm berechnete Ueberschuß ist viel zu gering, um in diesem Sinne gedeutet zu werden. Dasselbe gilt von jener Modification, welche die Perrey’sche Fluththeorie durch Falb erfahren hat. Es erscheint mir überflüssig, an dieser Stelle auf dieselbe näher einzugehen; ich beschränke mich darauf, das Urtheil, welches Hochstetter über diese Theorie fällt, anzuführen. Es lautet dahin: daß die exacte Wissenschaft Theorien ablehnt, welche ausschließlich auf unerwiesenen Hypothesen beruhen, und daß es nicht der Weg der Deduction, sondern jener der Induction ist, auf welchem die Naturwissenschaft nach Wahrheit forscht.

R. Hoernes.

  1. Inzwischen, nach Eingang dieses Artikels, ist bekanntlich auch die reben- und feigenreiche Insel Chios von dem gleichen Schrecknisse ereilt worden.       D. Red.