Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Jordan
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Epische Briefe V. Das indische Epos
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, 52, S. 828, 829, 836–838
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[828]
Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.


V. Das indische Epos.


Aus der Urheimath westwärts erfolgte die Wanderung der arischen Völker. Nur eines derselben wandte sich erst südwärts, dem Laufe des Indus folgend, und nach diesem Strome Inder benannt, zog es dann erobernd ostwärts bis zur Yamuna und den Mündungen des Ganges. Dieses eine, geographisch gegen den Lauf der Sonne zurückgegangene Mitglied der großen arischen Völkerfamilie ist auch in der Cultur rückläufig geworden.

Die Kämpfe um den Erwerb und Besitz der Yamuna- und Gangaländer erfüllen die indische Heldenzeit und bilden, erweiternd angeknüpft an die arische Ursage, den Inhalt des indischen Epos. Seine Kunstgestalt hat dieses etwa zwei Jahrhunderte früher erreicht als das griechische durch Homer. Wir aber besitzen es nur in dem Zustande, bei welchem es acht oder neun Jahrhunderte später angelangt war. Es wurde nämlich fortwährend umgebildet und durch Zusätze vergrößert, erst zu politischen, dann zu hierarchischen Zwecken. So ist es allmählich angeschwollen zu einem ungeheuerlichen Wust vom allermindestens Fünffachen seines ursprünglichen Umfanges. Diese Umwandlung ist sehr beachtenswerth; denn sie giebt lehrreiches Zeugniß von der Rolle der Poesie in der Völkergeschichte und läßt uns namentlich das Epos erkennen, nicht nur als den treuen Spiegel, sondern zugleich als den Prägstock der Nation, als den Träger einer Kraft, welche die Schicksale des Volkes mit bestimmen hilft.

Das indische Epos besteht aus zwei Sammlungen, den Erzählungen vom großen Kriege, Mahabharata, und den Thaten des Rama, Ramajana.

Nur in der ersteren ist das alte Kunstepos auch unter der angeschwollenen Mißgestalt einigermaßen erkennbar geblieben. Den echten Kern bilden die Schicksale des Heldengeschlechts der Kuruinge und ihre Kämpfe mit den Pandus um den Königssitz und das Reich von Hastinapura. An einer auch geschichtlichen Grundlage ist nicht zu zweifeln. Ein frisch aus dem Norden eingedrungener und durch das heiße Klima noch nicht entnervter Stamm hatte das genannte Reich einem früher ausgewanderten, ebenfalls arischen Stamme entrissen. Die neue Dynastie des siegreichen Volkszweiges, eben die Kuruinge, hat das Epos ursprünglich gefeiert und als seinen Haupthelden den Karna verherrlicht. Später aber muß es angeblichen oder wirklichen Nachkommen der alten Dynastie der Pandu gelungen sein, ihre Besieger wieder zu verdrängen, wahrscheinlich mit Hülfe der Priesterschaft, und sich dauernd zu behaupten, da in der That ein Fürstengeschlecht, welches seinen Stammbaum auf sie zurückführte, bis in’s vierte Jahrhundert vor Christi Geburt über Hastinapura geherrscht hat.

Diese Dynastie nun ließ das Epos umfälschen und ihre Vorfahren statt der alten Gegner darin verherrlichen. Es fehlte nicht an lohngierigen Schmeichelsängern, die dazu bereit waren. Sehr bezeichnend ist es, daß ein solcher Umfälscher im Epos selbst als dessen Dichter gerühmt und doch zugleich als eine der mithandelnden Personen der Vorzeit geschildert wird, obendrein mit einem Namen, der lediglich die Berufsthätigkeit ausdrückt. Er heißt Vyasa, und vyasas, ungefähr das griechische Diaskeuastes, bedeutet Ueberarbeiter, Liedordner, wie das indische samasas sich deckt mit „Homeros“, das ist Zusammenfüger zu einem Ganzen.

Ihre erste Besiegung im Kampfe durch die Kuru ließen die Pandu umfälschen in einen Verlust des Reichs durch betrügliches Würfelspiel ihrer Gegner. Selbst die Namen dieser Gegner verschonten sie nicht. An einigen von des Fälschern übersehenen und richtig erhaltenen Stellen der alten Dichtung heißt der Kurukönig noch Sugodhana, das ist der Gutkämpfer, sonst aber überall Durgodhana, Schlechtkämpfer.

Was das Epos von den Pandu Schlimmes berichtet hatte, ist natürlich mit besonderer Sorgfalt ausgetilgt worden. Daher unterliegt es kaum einem Zweifel, daß ursprünglich die Pandu gerade so als die Vertreter und Abkömmlinge der bösen Dämonen und Mächte der Finsterniß dargestellt waren, wie die Kuru als Kämpfer für die Mächte des Lichts und als Abkömmlinge der himmlischen Götter. Denn Letzteres ist durch alle Fälschung hindurch sehr deutlich erkennbar geblieben. Den Karna haben wir schon im vorigen Briefe kennen gelernt als einen Sohn des Sonnengottes. Noch deutlicher wird es durch die Betrachtung einer anderen Hauptgestalt, des Bhischma. Dieser Held bekämpft, wie der homerische Nestor, schon das vierte Geschlecht. Er sagt einmal:

 .... O schreckliche Pflicht des Kschatrija*[1]
Zu schießen den Pfeil in der Enkel Herz
 die als Kinder so oft mein Schooß gewiegt!
Nur Ekel erweckt mein Leben mir;
 nur Kampf und Mord, und Kampf mit wem?
Noch nirgend fand ich den tapfern Mann
 der meiner Kraft gewachsen war.
Vor Zeiten streckt’ ich die Väter dahin,
 die Söhne sodann, und muß nun gar
Das Enkelgeschlecht, ja den Enkelsohn
 bekämpfen und immer der Sieger sein!
Erscheine mir endlich, o Jama,**[2] und nimm
 hinweg die drückende Lebenslast! –
So stöhnte der Greis, derweilen die Nacht
 die Fluren bedeckte mit Finsterniß
Und Wölf’ und Hyänen die Walstatt rings
 durchschweiften, mit grausen Dämonen vereint,
Um hinunter zu schlingen das Leichenmahl
 bevor sie verscheuche der Morgenstrahl.

Welchem Geheimniß Bhischma seine übermenschliche Lebenskraft verdanke, das verräth schon die eindrucksvolle Schilderung seines Aufzugs. Weiß von Haar und Bart, in weißem Gewande und weißem Turban, silberweiße Waffen und Rüstung tragend, schrecklich zu schauen wie ein weißer Berg und donnerstimmig, fährt er einher auf silbernem, weißem, von weißen Rossen gezogenem Wagen und führt in seinem Banner fünf silberne Sterne. Er ist der verkappte Himmelsgott, der wolkengewaltige Zeus Homer’s; sein Wagen ist die Wolke selbst, seine weißen Rosse sind die Schimmel unseres Wodan, welche ebenfalls die Wolken bedeuten, und die fünf Bannersterne sind die den Indern bekannten fünf Planeten. Ganz an die Lehre von Wodan, der die tapfersten Helden fallen läßt, um sie als Einherier in Walhall aufzunehmen, gemahnt es, wenn es von ihm heißt:

Da rief der donnerstimmige Greis
 dem kämpfenden Heer die Worte zu:
Ihr Helden wisset, das Himmelsthor
 ist heut euch wieder aufgethan;
So schreitet auch Ihr den Weg, den einst
 die Väter und Ahnen gewandelt sind
Hinauf nach Indras Wonnenwelt
 und laßt auf Erden ewigen Ruhm.
Beschlösset Ihr lieber den Lebenslauf
 daheim auf kläglichem Krankenbett?
Dem achten Kschatrijer ziemet allein
 im Felde zu sterben den Schlachtentod.

Bhischma ist der auf die Erde und in’s Menschendasein hinunter verbannte Himmelsgott. Nach den Angaben des Epos in der überlieferten Gestalt, soll er während dieser Verbannung unter die Menschen nicht der Gründer eines Geschlechtes werden und muß deshalb unvermählt bleiben. Aber als Mensch ist auch er den heiligen Satzungen unterworfen, und eine derselben, [829] genannt Manu’s Nothgesetz, gebietet ihm, seinen unfähigen Stiefbruder Nachkommenschaft zu erwecken. So ist er dennoch der Großvater der Kuru geworden, ohne es in anerkannter Weise zu sein. Wenn nun aber in der ganzen ferneren Darstellung die Tendenz hervortritt, die Schicksale seiner Nachkommen als fortgesetzte Erdenbuße erscheinen zu lassen, so verräth das deutlich die spätere Brahmanenlehre.

Wir werden also schwerlich irre gehn mit der Annahme, daß ursprünglich die Menschwerdung des Himmelsgottes nicht als eine gezwungene Verbannung dargestellt war, sondern als freiwillige Erdenfahrt, von vornherein unternommen in der Absicht, das Heil der Menschen zu fördern durch Erzeugung eines Heldengeschlechtes. Denn eben dieser Auffassung begegnen wir bei den anderen epischen Völkern, welche aus demselben arischen Urquell geschöpft hatten, in der iranischen Sage, in der griechischen, wie namentlich im Heraklesmythus, und zumal in unserer eigenen germanischen, von Wodan Sigi und den Wölsungen. Dem brahmanischen System freilich lief das, wie wir noch sehen werden, so schnurstracks zuwider, daß sie diesen Gräuel einer freiwilligen Vermenschlichung der Gottheit, da er nicht leicht auszutilgen war, in der uns vorliegenden Weise umdichten mußten.

Kurz, die Kuruinge und Pandu waren einander ursprünglich gerade so entgegengestellt wie unsere Wölsunge und Nibelunge. Denn diese, die Nibelunge, sind die Söhne der Nachtwelt und namentlich von ihrem Haupthelden, Hagen, hat uns die Sage seine Erzeugung durch einen finstern Erdgeist ausdrücklich erhalten. Jene aber, die Wölsunge, stammen her von Sigi, dem Sohne, welchen Odin mit sterblicher Mutter zeugt, nachdem er selbst sich zur freiwilligen Erdfahrt von der Magd eines Bauern als Knecht Bölwerk hat gebären lassen. Die Kämpfe dieser beiden Geschlechter haben also die höhere Bedeutung eines Kampfes der Mächte des Lichts und des Heiles mit denen der Finsterniß und des Verderbens. Da dies auch in der Zendreligion und im ganzen iranisch-persischen Epos überall das ausgesprochene Hauptthema bildet, dürfen wir dasselbe mit Sicherheit auch für die ursprüngliche Gestalt des Mahabharata annehmen.

Uebrigens ist es bemerkenswerth, daß auch die Umfälschung des Mahabharata zu Gunsten der Pandu in unserem Epos ihr Seitenstück gefunden hat. Wie der ursprüngliche Hauptheld Karna von der Ueberarbeitung zurückgedrückt und mit Ungunst behandelt wurde, um statt seiner die Panduhelden zu verherrlichen, den Krischna und besonders den Ardschuna, den indischen Hagen, der den verrathenen Karna hinterrücks erschießt, so ist im Nibelungenliede des Mittelalters nicht mehr der Wölsung Sigfrid, sondern der Nibelung und Meuchelmörder Hagen der eigentliche Held, für den der Dichter Theilnahme und Bewunderung zu wecken bestrebt ist.

Auch mit dem homerischen Epos hat das Mahabharata einige Züge gemein. Wenn zum Beispiel der beleidigte Karna, dem man seine angebliche Abkunft von einem Fuhrmanne vorgeworfen, grollend ausruft:

Indessen der Feind euch stürmend bedrängt
 auf dem Felde der Schlacht, gedenke nun Ich
Geruhig zu sitzen im eigenen Zelt,
 bis der Hülfe bedürftig der Könige Sproß
Durgodhana selbst, die Stirne geschmückt
 mit dem goldenen Reif der Kuru, erscheint
Und als Bittender naht mir, dem Fuhrmannssohn.....

wer würde da nicht sofort an den müßig grollenden Achill erinnert? Und wenn Draupadi, eine Heldin des Epos, den um sie werbenden Fürsten verkündigt, daß sie demjenigen als Gemahlin folgen werde, welcher den berühmten Bogen ihres Vaters zu spannen und mit dem Pfeile das Ziel zu treffen im Stande sei, so ist darin der Bogenkampf der Freier um Penelope unverkennbar.

Schon im Mahabharata ist auch die zweite viel verderblichere Umwandlung des Epos, die religiöse zu Gunsten einer herrschsüchtigen Priesterschaft, sehr deutlich erkennbar, so namentlich in einer der friedlichen Zwischenerzählungen, die uns ein Bild der Zustände des Volkes nach den Eroberungskriegen entwerfen. Es ist dieselbe, aus welcher im zweiten Jahrhunderte nach Christi Geburt Kalidasa den Stoff zu seinem berühmten Drama „Sakuntala“ geschöpft hat. Der Stammfürst hat sich durch die Dictatur im Kriege in einen unumschränkten Herrscher verwandelt. Duschmanta, der König, heißt schon der Weltgebieter und hat einen Harem von Frauen, die ihn preisen als Abbild des Gottes Indra. Mit ungeheuerm Gefolge und verschwenderischem Prunke zieht er zur Jagd. Nebenher, wie ein alltägliches Gewürz des Vergnügens wird es erwähnt, daß die verwundeten Elephanten eine Menge von Menschen zerstampfen. Aber dieser allmächtige Herrscher betritt mit Ehrfurcht den Hain der heiligen Büßer und legt demuthsvoll die Zeichen der Königswürde ab, bevor er die Schwelle des Brahmanen Kauwa überschreitet. Letzterer besitzt Wissenschaft von Dingen, die er weder gesehen noch gehört hat. Sakuntala, als es scheint, daß der König sie treulos verleugnen wolle, fragt sich, was sie denn in einem früheren Leben verbrochen habe, um solche Strafe zu verdienen. Weil sie aber die Pflegetochter des heiligen Mannes ist, muß eine Stimme vom Himmel herab den Knoten lösen. Im heiligen Haine befindet sich schon eine ganze Colonie frommer Büßer, welche bedacht sind auf Abtödtung der Sinne und ihre Schüler lehren, wie man sich durch Versenkung in die Gottheit mit dem ewigen Urgeiste vereinigen könne.

Wie das Epos vollends umgeschaffen wurde zur Priesterwaffe und wie es als solche nur allzuwirksam mitgeholfen, dem Volke die letzte Thatkraft zu lähmen und es willenlos zu beugen unter ein erdrückendes Joch: das wird uns die Betrachtung der anderen Sammlung, Ramajana, in der zweiten Abtheilung dieses Briefes zeigen.

[836] Das zweite indische Epos, Ramajana, wird einem Brahmanen, Valmiki, zugeschrieben. Auch machen es Inhalt und Tendenz unzweifelhaft, daß berechnende Priesterarbeit ihm seine jetzige Gestalt gegeben hat.

König Daçaratha von Ajodhja hat von drei Frauen drei Söhne: Rama, Lakschmana und Bharata. Schon alt und schwach, will er den Erstgeborenen zum Könige weihen. Aber Keikeja, seine dritte Frau, hatte ihn einst nach schwerer Verwundung aus der Schlacht gerettet, geheilt und dafür von ihm das Versprechen empfangen, ihr eine Bitte zu erfüllen. Eine boshafte, weil buckelige Sclavin stiftet sie an, nunmehr den Thron zu fordern für ihren Sohn Bharata. Obgleich ihr der König flehend zu Füßen fällt, sie besteht auf ihrer Forderung und er muß sein Wort halten. Rama selbst ist voll edler Entsagung und zwingt ihn dazu. Aber Lakschmana, sein Bruder, ein Vertreter der alten kriegerischen Gesinnung und des Heldenstolzes des Mahabharata, lehnt sich dagegen auf, daß er das Heil des Reichs der Tücke einer Sclavin opfern wolle, und erklärt diese weichliche Ergebenheit für unwürdig eines hochgeborenen Kschatrija. Ihn zu widerlegen ist die Hauptaufgabe der Dichtung. Rama schlägt ihn denn auch mit siegreichen Gründen. Was wiegt das Wohl eines Reiches gegen die Heiligkeit eines Fürstenwortes, und sei es auch noch so thöricht! Entsagung und leidender Gehorsam seien die obersten Pflichten. Er und seine Gattin Sita schenken [837] ihre Schätze den Priestern und Armen und verbannen sich in den wilden Wald Dandaka. Sein Vater stirbt aus Gram, nachdem er zuvor erkannt, es sei das die gerechte Strafe einer Jugendsünde; denn er hatte einst durch einen Fehlschuß statt des Wildes den Sohn eines frommen Büßers getödtet. Auch Bharata, der neue König, ist lauter Großmuth und will Rama auf den Thron zurückholen, damit die Sünde seiner Mutter ihm verziehen werde. Rama verzeiht, bleibt aber in der einmal gelobten fünfzehnjährigen Verbannung. Mit Indra’s Schwert und Bogen tödtet er vierzehntausend Riesen. Da entführt ihm Ravana von Lanka (Ceylon), der Riesenkönig, seine Gemahlin Sita. Rama jedoch verbündet sich mit den Affen. Hanuman, der Affenkönig, läßt ihm von ungeheuern Felsblöcken eine Brücke schlagen nach der Insel Lanka. Auf ihr begegnen einander in ihren Streitwagen Rama und der Riesenkönig. Die Erde erbebt von ihrem Zusammenstoße; sieben Tage dauert der Kampf. Endlich fällt der Riese; die befreite Sita beweist durch die Feuerprobe, daß sie treu geblieben, und kehrt mit dem Gatten, nachdem die fünfzehn Jahre verflossen, nach Ajodhja zurück, wo Rama unter hundert Pferdeopfern den Thron besteigt, um nun lange Jahre in Glück und Frieden zu herrschen.

Als geschichtlicher Vorgang liegt dieser monströsen Dichtung zu Grunde die Eroberung der Halbinsel Dekhan und der Insel Ceylon. Da „Sita“ die Furche der Pflugschar bedeutet, ist die Entführung und Wiederbefreiung der Gattin Rama’s wohl anzusehen als der allegorische Ausdruck dafür, daß jene Eroberung durch Einführung des Ackerbaues bewirkt und durch dessen Sicherung gegen die Elemente und die wilden Urbewohner vollendet wurde. Alles das tritt aber schattenhaft zurück gegen die grell hervorleuchtende Tendenz: den letzten Rest des ehrbegierigen Kriegerstolzes und der dem Leben selbst zugewendeten Thatenlust der Helden des Mahabharata zur Werthlosigkeit hinabzudrücken gegenüber der frommen Entsagung und dem duldenden Gehorsam gegen die Priesterlehre. Rama ist nicht mehr ein Kriegs-, sondern ein Glaubensheld und bußesüchtiger Märtyrer. Nicht Muth und Kraft, sondern Wunderwaffen und Zauberei verschaffen ihm Sieg über fabelhafte Unholde. Die Poesie ist bereits der krankhaften Sucht nach maßloser Ungeheuerlichkeit verfallen. Schließlich aber erweisen sich alle diese Kämpfe und Leiden in der Königsfamilie nur als die Buße für das unbeabsichtigte Vergehen gegen ein Pfaffensöhnlein. –

Die ehemaligen „Vorbeter“ (Brahmanas) hatten schon während der Kriege an Einfluß gewonnen; denn der Sieg galt für abhängig von der rechten Anrufung der Götter. Diesen Einfluß steigerte die Muße des Friedens. Nahrung lieferte das üppige Land in Fülle und was der Boden an Arbeit verlangte, geschah zumeist durch unterjochte Stämme, die man hinabgedrückt hatte zu verachteten Kasten. Die große Mehrheit des herrschenden Stammes durfte sich beschaulichem Nichtsthun hingeben und fand ihre Hauptunterhaltung im Anhören einer allerunterthänigsten und bigotten Poesie, welche immer schärfer ausdestillirt wurde für den beabsichtigten Giftrausch. Die Gaben der Erde waren im heißen Gangeslande, wie noch heutigen Tages, weit mehr vom Wetter, in der Auffassung des Volkes also von den Göttern, abhängig, als vom Fleiße des Menschen. So wurde die Gewogenheit der Götter zur wichtigsten Frage, Gebet und Opfer zur vornehmsten Thätigkeit. Hatte weiland jedem Familienhaupte das Recht des Opfers zugestanden, so galt es jetzt für einen Frevel von äußerster Verderblichkeit, die Götter anzurufen ohne die genaueste Kenntniß der inzwischen bis in’s Unermeßliche vermehrten Ceremonien und Formeln. Im erblichen Besitze derselben waren nur die Priesterfamilien, und ihre Behauptung, vermöge dieser Zaubersprüche die Macht der Götter ihrem Willen gehorsam machen zu können, fand allgemeinen Glauben. So mußten sich schließlich die Brahmanen selbst für Wesen von höherer Art halten.

Diesen ihren eigenen Dünkel verwandelten sie in eine neue allmächtige Gottheit. Wie ist es möglich, fragten sie, daß unsere Gebete die Götter zwingen? Der erlogene, aber für die Praxis im verkümmerten Gehirne des Volkes zur Wahrheit gewordene Vordersatz erlaubte nur einen Schluß, und diesen zogen sie mit unerschrockener Frechheit: es giebt einen Gott, der stärker ist als die andern alle zusammen und sie zwingen kann, unsern Sprüchen zu gehorchen. Sie nannten ihn Brahmanaspati, das ist den Herrn des Gebetes, und so wurden sie die einzigen Priester welche nicht sich nach ihrem Gotte, sondern ihren Gott nach sich benannt haben.

Bisher waren die Natur und ihre Geschöpfe nichts gewesen als das Theater und die Marionetten der Götter. Nun erschien sie wie mit einem Schlage verwandelt. Die Berge mit ihren Firnkronen und Schneemänteln, die wasserreichen Ströme mit ihren gewaltigen Ueberfluthungen, die unermeßlich üppige und farbensatte Vegetation des Tropenlandes, Orkane und Gewitter von beispielloser Furchtbarkeit, eine wundersame vielgestaltige und bunte Thierwelt, hier die kolossalen Elephanten, Nashörner, Krokodile und ringelnden Riesenschlangen, dort in unzähligen Arten und unendlichen Schwärmen die Vögel im Federschmucke von juwelischer Pracht; alles dies erschien jetzt als der sichtbare Leib, als die millionenfach wechselnde Gestaltung eines Grundwesens, der unsichtbaren Weltseele. Brahma – so wurde der Name verkürzt – stand nicht über und außer der Natur, sondern athmete in ihr als ihr eigentliches Leben. Werk und Werkmeister zugleich. Sämmtliche Wesen bilden eine Stufenleiter von ihm hinunter bis zum Steine, und von diesem hinauf bis zur unterschiedslosen Einheit mit dem Allgeiste.

Je nach seinen frühern Thaten, mit Gefühl für Qual und Lust
Bleibt im vielgestalt’gen Dunkel alles sich des Ziels bewußt.
Aus der Gottheit durch den Menschen, Thier und Pflanze bis zum Stein
Sinkt es nieder zum Verderben hier im schreckenvollen Sein,
Um, in tausend von Geburten ringend nach der Wiederkehr,
Endlich wieder zu verrinnen in dem einen Gottesmeer.

So erhaben diese Vorstellung anmuthet, die Folgen ihrer Anwendung auf das Leben waren furchtbar. Nun galt der Zustand, den das Volk angenommen in einem Moment der ewig umschmelzenden Geschichte, für einen Zustand Gottes und sollte als geheiligte Verfassung erstarren für die Ewigkeit. Die Stände und ihr Beruf wurden unantastbare Schranken der Weltordnung; das Menschengeschlecht bestand aus zunächst viererlei Arten von Geschöpfen, mindestens eben so sehr von einander verschieden wie etwa Pferd und Esel. Die Geschichte sollte still stehen, und bald that sie es wirklich – für die Indier.

Vollendet haben die Brahmanen die Unterjochung des Volkes durch ihre Lehre von den Schicksalen der Seele nach dem Tode. Sie lehrten Unsterblichkeit als Strafe, Aufhören gesonderter Fortdauer als Belohnung. Die Unheiligen können selbst der Umkehr zur Richtung nach Brahma hin erst würdig werden durch vieltausendjährige Pein in einer heißen Hölle. Da werden ihnen die Köpfe täglich mit Hämmern eingeschlagen; auf glühendem Eisen schreitend müssen sie lebendige Kohlen verschlucken und geschmolzenes Kupfer trinken. Nach Verbüßung dieser Strafen begann die neue Wanderung der Seele, die ganze Stufenleiter des Thierreichs empor, und ein umfangreiches Gesetz bestimmt genau nach den vormaligen Sünden die Zahl und Art der Wiedergeburten als Wurm, als Schlange, Krokodil, Ratte etc., bis sie wieder anlangt beim Dasein als Mensch der niedrigsten Kaste, von wo sie es, unter tausendfach größerer Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, zuletzt wieder bis zum Brahmanen bringen kann, um endlich nach richtigen Bußübungen als unterschiedsloser Tropfen in Brahma selbst zu zerfließen. Die Gottheit ist ein thatenloses Wesen, nur erfüllt vom einsamen Wohlgefühle ihrer unvermischten Reinheit. Aber sie träumt einen bösen Traum, und was sie träumt, wird wirklich als die sichtbare Schöpfung. Alles Dasein ist Verbannung und Verfinsterung, zu der sie sich in freiwilliger Selbstqual verurtheilt. Das höchste Ziel des Strebens ist, so schnell wie möglich wieder abgedampft zu werden zu jenem unvermischten Spiritus. Dem sittlichen Fortschritte des Menschen ist der Nerv abgeschnitten. Sein Gott hat nichts mehr von einem Ideale menschlicher Vollkommenheit, dessen Freiheit der Mensch durch seine Kraft, dessen Schönheit er durch seine Kunst, dessen Allwissenheit er durch seine Wissenschaft, dessen Allmacht er durch arbeitende Bewältigung der Natur, dessen Allgüte und Gerechtigkeit er durch Erziehung und Rechtsordnung in stetiger Annäherung nachzuahmen hätte. Sie ist nur noch ein erhabenes, aber inhaltloses Nichts jenseits alles Stoffes, zu dem der Mensch nur gelangen kann durch gedankenloses Starren in’s Leere. Das Ziel, das sie ihm vorschreibt, ist die leibliche und geistige Selbstvernichtung.

[838] Im sechsten Jahrhunderte v. Chr. Geburt war das Dasein des Volkes wirklich geworden, was es nach der Brahmanenlehre sein sollte: die Reise durch ein Jammerthal voll scheußlichster Tyrannei ebenso entnervter wie verruchter Despoten und voll grauenhafter Selbstqual des religiösen Wahnsinns, zu dem es die Priesterkaste planmäßig vergiftet hatte, um über dem allgemeinen Elende in göttlichen Ehren zu thronen.

Ja, auch die Poesie ist eine weltgeschichtliche Macht, und die Lieder Homer’s haben das Völkergeschick mindestens ebenso wirksam bestimmt wie die Eroberungszüge des großen Alexander. Aber sie ist eine Macht nicht nur des Heiles, sondern auch des Verderbens. Sie vermag Nationen zu schaffen und aus der Zersplitterung herzustellen; wie denn auch Uns die Möglichkeit, durch Blut und Eisen wieder eine Nation zu werden, erst hergestellt worden war durch die Poesie unserer Lessing, Goethe und Schiller. Aber sie kann die Nationen auch vergiften zu unheilbarem Siechthum, wenn sie sich hergiebt zur schminkenden Helferin der Despotie und des geistesknechtenden Priesterdünkels; wie wir auch davon eben jetzt ein Beispiel erleben in dem hoffnungslosen Todeskampfe eines der höchstbegabten Völker, das auch seine Philippe zusammt der Inquisition so gänzlich zu verderben nimmer im Stande gewesen wären, wenn nicht seine Lope de Vega und Calderon geholfen hätten, es in den Abgrund des Elends hinunter zu dichten.

In den brasilianischen Urwäldern wächst eine Liane, welche als zarte Ranke das junge Bäumchen umschlingt. Emporgehoben von seinem Wachsthum wächst sie mit ihm in die Höhe. Dann läßt sie prachtvolle Guirlanden von seiner Krone bis auf den Boden herunterhängen und schmückt ihn über und über mit einer Blüthenfülle von prächtigem Farbenschmelz und berauschendem Duft. Zuletzt aber raubt sie dem Baume, den sie ziert, so Luft wie Licht. Ihre zarten Ranken verwandeln sich in ein Gewirr von armdicken Tauen, das erdrückend und erstickend auf ihm lastet und, eigene Wurzeln in die Erde krallend, auch den stärksten Riesenbaum endlich als Leiche zu Boden reißt. Man nennt sie daher den Matador, das ist den Mörder.

Diese Liane ist ein treffendes Bild der indischen Poesie, welche ihr Volk zum geschichtlichen Tode geführt hat, weil sie treulos wurde ihrem obersten Amte, das heilige Erbe der Heldensage lebensfähig zu bewahren, weil sie sich selbst dazu hergab, es zu fälschen im Sinne der Despoten und Priester, weil sie die epische Kunst, große Menschen handelnd zu veranschaulichen, verweichelte zur Gefühlsschwelgerei einer weltfeindlichen Bußeromantik und so das Epos freventlich verunstaltete, vernichtete.



  1. * Angehöriger des Waffenadels, der Kriegerkaste.
  2. ** Der Todesgsott.