Epheu & Lilie
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Es steht auf hohem Berge
Ein altersgrauer Thurm,
Der einzig noch vor andern
Getrotzt der Zeiten Sturm.
Er hebt das Haupt gen Himmel
So kühn, so unbesiegt,
Um das in festen Ranken
Sich grüner Epheu schmiegt.
So hält in Schicksalswettern,
In Woge, Flamm’ und Schmerz,
Am Recht und an der Wahrheit
Ein starkes Männerherz.
Und drunten in dem Thale
Blüht eine Lilie hold,
Sie trinkt in vollen Zügen
Der Sonne laut’res Gold;
Doch wenn der Tag sich neiget
Und Schatten streut die Nacht,
So ist den Kelch zu schließen
Die reine fromm bedacht.
Ihr Thun will mich gemahnen
An keuschen Weibes Bild,
Das fleckenlos bewahret
Der Tugend blanken Schild.
Otto Braun.