Enthüllungen zur Konitzer Mordaffaire/Mordvarianten

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|[15] Was ist es nun für ein Verbrechen gewesen, dem der junge Winter zum Opfer gefallen ist? War es ein Raubmord, war es ein Lustmord, war es ein Racheakt eines irgend betrogenen Ehegatten oder eifersüchtigen Liebhabers oder war es wirklich, wie die Antisemiten so hartnäckig behaupten, ein sogenannter Blut- oder Ritualmord?

Man kommt bei einer kritischen Erörterung der traurigen Angelegenheit um die Beantwortung dieser Frage nicht gut herum; man muß Stellung zu ihr nehmen. Bei allen Vermuthungen und Hypothesen in Bezug auf Thäterschaft drängt sich die Frage nach dem Motiv ganz von selbst in den Vordergrund und heischt gebieterisch eine wenigstens einigermaßen befriedigende Antwort. Was könnte also auf Grund der durch die bisherige Untersuchung festgestellten positiven Thatsachen als Beweggrund in Frage kommen?

Die Konitzer Blutthat hat ja bekanntlich erst dadurch ihre traurige Bedeutung erlangt, daß von gewisser Seite immer wieder hartnäckig behauptet worden ist, der junge Winter sei das Opfer bestimmter ritueller Forderungen des Judenthums geworden. Es ist also nicht mehr als recht und billig, wenn wir die Frage des sogenannten Ritualmordes hier zuerst behandeln.

Daß sich in den religiösen Schriften des Judenthums nirgends eine Stelle findet, die irgendwie auf rituellen Blutgenuß und Blutgebrauch hindeutet, haben die namhaftesten Kirchenlehrer mehr als einmal feierlich erklärt. Den Juden ist im mosaischen Gesetz der Blutgenuß auf das Strengste verboten; an diesem Faktum läßt sich nun einmal nicht rütteln. Sie können also folgerichtig als Ritualmörder nicht in Frage kommen. In der vom ihm mit einer Vorrede gesegneten bekannten Broschüre: „Der Blutmord in Konitz“ glossirt der Reichstagsabgeordnete Liebermann von Sonnenberg diese Thatsache allerdings wie folgt: „Genau dieselbe Logik wäre es, wenn man sagen wollte: Den Juden ist im mosaischen Gesetze der Wucher verboten, also ist es unmöglich, daß Juden Wucher treiben können.“

Nun, der gesunde Menschenverstand, von welchem Herr Liebermann von Sonnerberg nach dieser Probe zu urtheilen, allerdings nicht viel zu besitzen scheint, wird leicht herausfinden, daß das ganz und gar nicht dieselbe Logik ist. Gewiß treiben einzelne Juden Wucher, obgleich ihnen das im mosaischen Gesetz streng verboten ist, aber wenn sie das thun, dann erfüllen sie auch nicht die Vorschriften dieses Gesetzes, sondern verletzen sie. Der von Antisemiten behauptete Ritualmord soll aber – wie ja schn der Name sagt- nicht durch |[16] Verletzung, sondern in strikter Erfüllung der bestehenden religiösen Vorschriften verübt worden sein. Die eine rituelle Bestimmung würde hier in einem grellen Gegensatz zur anderen stehen. Das ist ein Unterschied, und zwar ein sehr wesentlicher Unterschied, wie mir scheint. Allerdings scheinen ja die Antisemiten längst das völlig Unhaltbare dieser Behauptungen eingesehen zu haben, denn wenn man auch in Volksversammlungen und den für die breite Masse bestimmten Agitationsschriften diese unsinnigen Beschuldigungen noch immer gegen das gesammte Judenthum schleudert, wo sich der Antisemitismus ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängt, bringt er diese Behauptungen stets in wesentlich gemilderter und abgeschwächter Form. Da heißt es niemals, das gesammte Judenthum sei an diesen Ritualmorden betheiligt, - da heißt es immer nur, eine kleine Sekte innerhalb des Judenthums glaube auf Grund einiger dunkler Stellen in den heiligen Schriften diese Blutthaten alljährlich um die Zeit des jüdischen Osterfestes zur höheren Ehre ihres Gottes ausführen zu müssen. Den Beweis für das wirkliche Vorhandensein einer solcher Sekte [1] sind uns die Antisemiten allerdings bis heute schuldig geblieben, und sie werden ihn auch in der fernsten Zukunft wahrscheinlich nicht zu führen vermögen.

Was ist denn überhaupt eine Sekte?

Der Sprachgebrauch versteht darunter eine kleine, sich eng aneinander schließende Gemeinschaft besonders fanatischer, glaubenseifriger Menschen, die sich in ihrem Denken und Fühlen in irgend einem Punkte von der großen Herde ihrer Mitmenschen unterscheiden und absondern, deren ganzes ferneres Leben gewöhnlich nur noch eine unablässige, unermüdliche Propaganda für diese von ihnen als wahr und richtig gehaltene Idee ist. Hat sich nun jemals innerhalb des Judenthums eine auf Gewinnung und Benutzung von Menschenblut für rituelle Zwecke gerichtete Propaganda bemerkbar gemacht? Dem Juden als solchen ist, wie selbst von antisemitischer Seite zugegeben werden muß, der Blutgenuß und Blutgebrauch in jeder Form auf das Strengste verboten. Es versteht sich also ganz von selbst, daß eine solche neue revolutionäre Lehre innerhalb des Judenthums nicht hätte verkündigt werden können, ohne bei den orthodoxen jüdischen Schriftgelehrten sofort auf den erbittertsten Widerstand zu stoßen. Die Spuren der darüber sicherlich geführten Schriftfehden müßten sich also heute noch mit Leichtigkeit in der einschlägigen Litteratur nachweisen lassen, wenn überhaupt jemals der Versuch gemacht worden wäre, ein solches Dogma öffentlich zu verkünden.

Man wird mir vielleicht einwenden, die öffentliche Verkündigung dieser Lehre ist von vornherein aus Furcht von der ja unausbleiblichen Verfolgung der durch sie sammt und sonders bedrohten Andersgläubigen wohlweislich unterblieben. Es wäre das |[17] aber zweifellos ein in der ganzen Kulturgeschichte ohne Beispiel dastehender Fall. Denn ein Sektirer, namentlich aber der Stifter einer Sekte, der aus blasser Furcht vor etwaiger Verfolgung die offene Predigt seiner Lehre überhaupt unterläßt, dürfte doch wohl noch nicht da gewesen sein. Ein solcher Fanatiker schreckt – das hat wohl die Geschichte des Anarchismus und Nihilismus zur Genüge bewiesen – auch vor der offenen Mord-Propaganda nicht zurück. Es kommt freilich öfter vor, daß gerade derartige gemeingefährliche Sekten sich eine Zeit lang jeder offenen Agitation enthalten; das geschieht aber dann immer erst in Folge besonders trüber Erfahrungen, die sie während der öffentlichen Wirksamkeit ihrer Anhänger kurz vorher mit der Toleranz ihrer Mitbürger gemacht haben. Kommen wieder günstigere Zeitläufte für sie, dann treten sie auch regelmäßig wieder sofort aus dem Verborgenen hervor und predigen offen ihre Lehren.

Es hat nun zweifellos Zeiten gegeben, wo eine solche geheimnißvolle Juden-Sekte ohne sonderlich Gefahr mit ihren Lehren ruhig hätte an die Oeffentlichkeit treten können. Man denke nur an die Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte. Ich bin überzeugt, wenn der damalige Vorsteher dieser Sekte sich an den Kaiser Nero mit der Bitte gewandt hätte, ihm für die religiösen Bedürfnisse seiner Glaubensgenossen einen Christensklaven auszufolgen, er denselben wahrscheinlich anstandslos bekommen hätte. Denn ob der Imperator ein Wachsstreichholz aus ihm machte, oder ihn den Juden zum Schächten überließ, das wäre diesen Unglücklichen wohl ziemlich gleich gewesen. Aber auch in dieser für sie so günstigen Zeit ist diese geheimnißvolle Sekte niemals offen mit ihren Lehren hervorgetreten, obgleich sie doch nach den steten Versicherungen der Antisemiten auch damals schon existirt haben soll.

Sie hatte Jahrtausende hindurch, im tiefsten Dunkel unter anderen Nationen lebend, ihre unveränderten Satzungen lediglich durch Tradition von Geschlecht zu Geschlecht vererbt und nie hat sich ein Verräter oder Ueberläufer gefunden, der seinen Mitmenschen zuverlässige Kunde von ihrem mysteriösen Treiben zu geben vermochte! Welch’ eine machtvolle Persönlichkeit muß nicht der Stifter dieser Sekte gewesen sein, daß er seine Anhänger solange im unverbrüchlichen schweigenden Gehorsam bei seiner Lehre erhalten konnte! Und eine solche Person sollte spurlos im Dunkel der Weltgeschichte verschwunden sein? Man sieht, unter die Lupe der Logik darf man diese Sekten-Theorie nicht nehmen, sonst bricht sie kläglich in sich selbst zusammen und mit ihr natürlich die ganze Ritualmordfabel.

Diese unsinnige Hypothese ist eben nichts als Wort- und Spiegelfechterei von Sekten der Antisemiten. Wenn sie wirklich ernsthaft daran glaubten, dann könnten sie doch nicht die offiziellen |[18] Kultusbeamten der Juden regelmäßig mit diesen Thaten in Verbindung bringen, denn der Rabbiner und Schächter der wirklichen Judengemeinde kann doch unmöglich zugleich der Rabbiner und Schächter dieser sich abseits haltenden Sekte sein. Das wäre ja dasselbe, als wenn ein katholischer Priester zugleich der lutherischen Gemeinde das Wort Gottes lauter und rein verkünden wollte.

Worauf fußt denn speziell in dem Konitzer Fall der Glaube, daß hier ein sogenannter Blut- oder Ritualmord vorliegt? In der Hauptsache doch nur auf der nicht einmal unbestrittenen Thatsache, daß die Leichentheile völlig blutleer waren. Aber geben wir dieses Letztere einmal ruhig zu. Nehmen wir an, sie waren wirklich absolut blutleer. Was beweist denn dieser Umstand für die Thäterschaft der Juden?

Es ist richtig, die Juden pflegen ihr Schlachtvieh immer so zu tödten, dass der Körper möglichst ausblutet. Aber sie thun das doch nicht deshalb, weil sie das Blut brauchen. Der wirkliche Zweck ihrer eigenthümlichen Schächtermethode ist doch nicht die Blutgewinnung, sondern die Gewinnung blutleeren Fleisches. Wenn Winter wirklich seines Blutes wegen ermordet worden wäre, dann hätte er doch deswegen noch lange nicht völlig ausbluten brauchen. Oder will man etwa so weit gehen, zu behaupten, diese mysteriösen religiösen Vorschriften schrieben auch die Erlangung eines bestimmten Quantums Blut vor, und um dieses zu erlangen, hätte man den Körper so sorglich ausbluten lassen müssen? Dann ist doch nicht recht ersichtlich wie man beispielsweise die Ermordung des kleinen Hegemann in Xanten[2] gleichfalls als Blutmord ansprechen konnte. Wenn schon der ausgewachsene Körper des Winter nur mit Mühe und Noth die erforderliche Menge Bluth hergab, dann mußte sich doch auch der dümmste Judenschächter sagen, daß die Ermordung dieses fünfjährigen Knaben ein sehr überflüssiges Verbrechen war, daß mit der hier zu erlangenden Blutmenge niemals die „religiösen Bedürfnisse“ der ganzen Judenschaft zu befriedigen waren.

Die Antisemiten schreien immer hartnäckig: „Wo ist das Blut des Ermordeten geblieben?“ und verweisen außerdem noch auf den angeblichen Schächt- oder Zirkelschnitt an der Leiche.

Nun dieser angebliche Schächtschnitt fand sich – um unter Tausenden von Beispielen nur einen Fall herauszugreifen – auch bei den seiner Zeit in Berlin ermordeten Prostituirten Thiele und Singer. Es ist aber damals keinem Menschen eingefallen, aus diesem Umstande auf einen jüdischen Kultusbeamten als Thäter und auf Ritualmord als Motiv zu schließen. Sehr einfach! Beide Leichen sind am Thatort gefunden worden, und da fand man denn auch selbstverständlich das Blut. Hätte man in Konitz auch gleich den Thatort gehabt, dann hätte man wohl auch zweifellos daselbst das verschwundene Blut gefunden. Leider kennt man diesen aber bis |[19] heute nicht, und nur das Eine kann man wohl mit Sicherheit behaupten: in der Synagoge ist die That nicht verübt worden. Man würde wohl sonst schwerlich die Leichentheile sozusagen vor der Thür des jüdischen Tempels gefunden haben.

Wie kann man überhaupt glauben, daß eine Mörderbande, die nach den Behauptungen der Antisemiten jahraus – jahrein zu Ostern regelmäßig wenigstens einen Christen schlachtet, in der Beseitigung der Spuren ihrer Thätigkeit noch so wenig Routine und Erfahrung besitzen sollte, wie es dort in Konitz doch zweifellos der Fall gewesen ist. Denn wenn man wirklich annimmt, daß die Morde in Skurz, Xanten, Polna und Konitz von ein und derselben Mörderbande nach ein und demselben Rezept planmäßig ausgeführt worden sind, dann kann man doch wirklich nicht mehr von einem besonderen Raffinement der Thäter, dann muß man doch vielmehr von einer ganz unglaublichen Stümperhaftigkeit in Bezug auf die Ausführung der That reden. Wenn wirklich, wie die „Staatsbürger-Zeitung“ das so glaubhaft nachgewiesen haben will, zu der Ermordung des Ernst Winter fremde Juden aus Rußland, Polen, Galizien und Ungarn eigens nach Konitz gekommen sind, dann ist doch nicht recht einzusehen, warum dieselben nicht gleich die doch handlich genug zurecht geschnittenen Leichentheile des Unglücklichen in ihren Reisetaschen in die weite Ferne verschleppt haben sollten. Dann wäre doch aller Wahrscheinlichkeit nach vorerst überhaupt kein Mensch auf den Gedanken gekommen, daß der junge Winter irgend einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Denn es ist eine notorische Thatsache, daß alle seine Mitschüler, als sein Verschwinden bekannt wurde, zunächst als Ursache desselben einstimmig erklärten: „Der ist nach Transvaal zu den Buren“. Mit diesem oder irgend einem ähnlichen unüberlegten Jugendstreich hätte zweifellos alle Welt sein plötzliches Verschwinden in Zusammenhang gebracht; auf ein derartiges scheußliches Verbrechen wäre wohl keiner so leicht gekommen.

Das hätte sich wohl auch diese internationale Mörderbande gesagt und zweifellos sagen müssen, daß sie am besten vor einer etwaigen Entdeckung geschützt war, wenn die Welt möglichst garnichts von dem verübten Verbrechen erfuhr. Die Art und Weise aber, wie man sich hier der Leichentheile, namentlich des Armes, entledigte, mußte unbedingt nach kurzer Zeit zur Entdeckung des ausgeführten Mordes führen und ihnen die ganze Meute der Verfolger auf den Hals hetzen. Diese Erfahrung mußten diese Leute zweifellos schon in Polna und Skurz gemacht haben, und es ist doch einfach mit der vielgerühmten jüdischen Intelligenz unvereinbar, daß man durch das Außerachtlassen der elementarsten Vorsichtsmaßregeln die ortsansässigen Glaubensgenossen und dessen Helfershelfer unnötiger Weise so schweren Gefahren aussetzte. So tölpelhaft, |[20] so unüberlegt handelt keine nach altbewährten Rezepten arbeitende Mörderbande.

Es giebt noch ein für den Kriminalpsychologen sehr wichtiges Moment dafür, daß der junge Winter nicht das Opfer des religiösen Fanatismus der Juden, speziell der in dieser Affaire immer vielgenannten Konitzer Juden: Israeliski, Levy etc. geworden ist, – das ist das unausgesetzte hartnäckige Leugnen [3] dieser Leute. Ich weiß wohl, der waschechte Antisemit wird über dieses Argument hell auflachen; das ändert aber an der Richtigkeit desselben nicht das Mindeste. Die Kriminalgeschichte kennt bis jetzt nicht einen Fall, wo ein aus politischem oder religiösem Fanatismus zum Verbrecher gewordener Mensch für seine Person die ihm zur Last gelegte That abgeleugnet hätte. Im Gegentheil! Er brüstet sich noch regelmäßig damit. Und das ist von seinem Standpunkt aus sehr begreiflich. Er hat doch nach seiner Überzeugung kein Verbrechen begangen, sondern sich sogar ein unsterbliches Verdienst erworben. Wenn er die That leugnet, dann kann er sie eben nicht mehr aus einem an und für sich edlen Beweggrund verübt haben, denn sein Leugnen beweist ja, daß er sich des Verwerflichen seiner Handlungsweise sehr wohl bewusst ist. Wenn also Israelski und Levy, obwohl sie die That leugnen, den jungen Winter wirklich ermordet haben sollten, dann haben sie ihn doch gewiß nicht aus religiösen Fanatismus ermordet. Uebrigens sehen auch wohl Fanatiker etwas anders aus als der ewig betrunkene Israelski und der unglückliche Moritz Levy.

Moritz Levy ein Fanatiker! Dieser unverbesserliche Schürzenjäger und kleinstädtische Lebemann auf der Anklagebank unter dem Verdacht des Mordes aus religiösem Fanatismus! Der Gedanke ist so absurd, löst bei jedem unbefangenen, mit den Verhältnissen einigermaßen vertrauten Menschen ein so herzhaftes Lachen aus, wie es vielleicht die Vorstellung: „Moses Mendelsohn, Rittmeister und Eskadronchef im Garde-Kürassier-Regiment, bei einem feudalen Gardeleutnant auch nicht schöner thun könnte.“

Mit einem Ritualmord hat man es also in Konitz sicherlich nicht zu thun.

Wenn nun kein Ritualmord vorliegt, ist es dann vielleicht ein Blutmord aus irgend welchen anderen abergläubischen Motiven? Blut ist bekanntlich ein ganz besonderer Saft, und es wäre ja im höchsten Grade verwunderlich, wenn derselbe nicht auch in den abergläubischen Vorstellungen und Gebräuchen der Bevölkerung seine ganz besondere Rolle spielen und auch einmal zu irgend einem Verbrechen den direkten Anstoß geben würde. Verbrechen, bei denen ausschließlich krassester Aberglaube das Motiv bildet, sind nicht selten, und auch Morde, speziell Morde zwecks Erlangung von Menschenblut, sind vorgekommen, Man denke nur an die entsetzlichen Mordthaten der Gräfin Elisabeth Bathory [4], die nach und |[21]

nach ungefähr 200 junge Mädchen abschlachten ließ, weil sie glaubte, das Waschen mit Jungfernblut erhalte und befördere die Schönheit. Ein Glaube, der nebenbei bemerkt, selbst in unseren Tagen noch nicht ganz ausgestorben erscheint, denn die noch vor einigen Jahren in Paris von den großen Mondainen sehr eifrig geübte Mode des Waschens und Trinkens von rauchenden Rinderblut zur Beseitigung der Altersspuren, war doch zweifellos nur eine abgeschwächte Variante dieses grausigen Wahnwitzes.

Daß nun bei der Ermordung des jungen Winter Leute ihre Hand mit im Spiele hatten, die nicht ganz frei von Aberglauben waren, kann man wohl als ziemlich sicher annehmen. Dafür spricht meines Erachtens die mit großer Gefahr für den Thäter verbundene nachträgliche Verschleppung des rechten Armes auf den Friedhof. Es besteht nämlich in jenen Gegenden der sonderbare Aberglaube, daß der rechte Arm eines Ermordeten, wenn er nicht bei der Beerdigung auf den Mörder zeigen soll, noch vor der Beisetzung nach dem Kirchhof gebracht werden muß. Jedenfalls ist die Armverschleppung von der Konitzer Bevölkerung vielfach in diesem Sinne gedeutet worden, und diese Ansicht hat zweifellos viel für sich, wenn man berücksichtigt, wie sehr gerade verbrecherisch veranlagte Menschen gewöhnlich zum Aberglauben neigen und wie schwer andererseits ein plausibler Grund für das Verschleppen des Armes gerade dorthin ausfindig zu machen ist.

Läßt man diese Deutung gelten, dann würden sich meiner Ansicht nach, daraus allerlei interessante Rückschlüsse in Bezug auf die Thäterschaft ergeben. Zunächst der, daß in dem vorliegenden Falle ein Jude überhaupt nicht, auch nicht aus anderen Gründen für die Thäterschaft in Frage kommt, da dieser Aberglaube nach meinen Ermittlungen dort nur unter der christlichen Bevölkerung vorkommt. Zweitens aber der, daß der Mörder wahrscheinlich begründete Ursache gehabt hat, zu fürchten, daß er bei der Bestattung seines Opfers mit an dessem Grabe stehen müßte; d. h. mit anderen Worten, daß er zu den früheren näheren Bekannten und Freunden des Ermordeten gehörte.

Rechnet man nun ernsthaft mit der Möglichkeit, daß dieser Blutthat überhaupt nur irgend welche abergläubische Vorstellungen zu Grunde liegen, dann gewinnen zweifellos die den jüdischen Abdecker Israelski belastenden Momente bedeutend an Schwere. Denn einmal sind die Abdecker und Schinder seit Alters her aus leicht begreiflichen Gründen immer die berufenen Träger und Vermittler des die Verwendung von Leichentheilen und Menschenblut zum Mittelpunkt habenden abergläubischen Hokus-Pokus gewesen, – dann aber ist auch die ganze scheußliche Zerstückelung der Leiche, wie sie hier vorgenommen worden ist, viel eher einem Abdecker als einem Schlächter zuzutrauen. Man darf allerdings bei der Erörterung dieser Möglichkeit nicht übersehen, daß gerade auf |[22] Grund dieser Vorstellungen der Ermordete das denkbar ungeeignetste Objekt für derartige Zwecke gewesen wäre. Denn durch alle diese, sich auf die Verwendung von Leichentheilen oder Menschenblut beziehenden abergläubischen Gebräuche zieht sich wie ein rother Faden die Vorstellung, daß dieselben nur dann die ihnen nachgerühmte heilsame Wunderkraft besitzen, wenn sie – soweit es sich um einzelne Leichentheile handelt, – von Verbrechern, Selbstmördern, Gerichteten etc. herrühren, oder – wo es sich um den Gebrauch von Menschenblut handelt – wenn dieses sogenanntes Jungfernblut ist. Der junge Winter war aber beides nicht. Er war weder ein ausgepichter Galgenvogel, noch ein unschuldiger Jüngling. Und was die Hauptsache war: diese Thatsache war in Konitz stadtbekannt. Die Hypothese, daß der junge Winter irgend einem anderen finsteren Aberglauben zum Opfer gefallen sei, läßt sich also im Ernst nicht aufrecht erhalten. Wenn auch bei der nachträglichen Verschleppung einzelner Leichentheile abergläubische Vorstellungen hinein gespielt haben mögen, – die Ursache seiner Ermordung sind sie sicher nicht gewesen.

Auch ein Raubmord erscheint bei sorgsamer Prüfung und Beachtung aller in Betracht kommenden Momente völlig ausgeschlossen. Allerdings nicht aus den Gründen, welche man von Seiten der Konitzer Bevölkerung immer gegen das Raubmordmotiv ins Feld geführt hat. Wenn immer darauf hingewiesen wurde, daß der junge Winter ja nur über ein Taschengeld von 5 – 6 Mark pro Quartal verfügte, einen Raubmörder also garnicht anlocken konnte, so ist das zweifellos eine auf mangelnde Vertrautheit mit der Kriminalgeschichte zurückzuführende höchst kurzsichtige Logik. Wenn unsere Raubmörder vorher immer genau wüssten, wie wenig in Wahrheit bei ihrem Opfer zu holen ist, dann würden wahrscheinlich 99 Prozent aller Raubmorde überhaupt unterbleiben. Für derartige, meist wenig urtheilsfähigen Elemente genügte schon die bloße Zugehörigkeit des Ermordeten zu den besseren Bürgerkreisen, um in ihrem Hirn allerlei trügerische Vorstellungen über die muthmaßliche Höhe der in seinem Besitz befindlichen Baarmittel zu erwecken. Seine relative Mittellosigkeit würde also noch nicht ohne Weiteres gegen die Annahme eines Raubmordes sprechen; wohl aber spricht die sorgsame fachkundige Zerstückelung der Leiche, daß so spät erst erfolgte Fortwerfen der für solche Menschen doch immerhin ein gewisses Werthobjekt vorstellenden Kleidungsstücke überhaupt die ganze nachträglich auf die Beseitigung der Spuren gerichtete besondere Sorgfalt der Mörder ganz entschieden dagegen.

Denn darüber kann doch wohl kein Zweifel herrschen, daß die That nur von Leuthen verübt sein kann, die längere Zeit hindurch ziemlich sicher und ungenirt über mindestens einen Raum verfügen konnten. Wandernde Handwerksburschen und Vagabunden können also für den Mord garnicht in Frage kommen. Wenn |[23] solche trotzdem im ersten Stadium der Untersuchung auf Grund ziemlich oberflächlich und unbestimmt gehaltener Zeugenaussagen hin steckbrieflich als der That verdächtigt verfolgt worden sind, so muß man schon zur Ehre der mit der Untersuchung betrauten Beamten annehmen, daß dieses nur geschehen ist, um der gerade in dem Konitzer Fall von Anfang an sehr scharfen und bösartigen Kritik jeden Anlaß zu vielleicht irgendwie berechtigt erscheinenden Angriffen zu nehmen.

Das Argument des Mangels an einer geeigneten Lokalität zur Ausführung des Mordes gilt natürlich auch noch für die ansässige Hefe der Bevölkerung, aus der doch bei der Annahme eines Raubmordes allein der Thäter hätte kommen können. Wer die traurigen Wohnungsverhältnisse der niederen Bevölkerungsschichten in unseren östlichen Provinzen auch nur einigermaßen kennt, der weiß, daß da jeder irgendwie bewohnbare Raum auch stets von einem halben Dutzend Kinder und ein paar Erwachsenen bevölkert ist. Uebrigens wäre es auch noch eine erst zu beantwortende Frage, durch welches Mittel man den in seinem Umgange sehr wählerischen Winter verleitet haben sollte, am offenen Tage eine derartige armselige Behausung zu betreten.

Es ist nun bei der Erörterung dieser Frage vielfach auf den Verkehr des Winter mit einigen Dirnen hingewiesen, und es läßt sich nicht leugnen, daß die Annahme, Winter sei in der Behausung einer Dirne durch deren Zuhälter ermordet und zerstückelt worden, durch den Kleiderbefund scheinbar eine gewichtige Stütze erhält. An Beispielen dieser Art fehlt es ja durchaus nicht. So weist die in Berlin in den 60er Jahren erfolgte Ermordung des Professors Gregy durch den Zuhälter Grote in ihren verschiedenen Stadien: Ermordung, Zerstückelung, Verpackung der Leiche in einen Sack, Verschleppen desselben ins Wasser sogar eine gewisse Uebereinstimmung mit dem Konitzer Mord auf. Man darf indessen nicht vergessen, daß solche Vorgänge, wie sie sich hier in Berlin und anderen Großstädten hin und wieder nach dem bekannten Präludium: „Du, Louis: der Kerl will nicht bezahlen!“ abspielen, in Konitz schon aus dem einfachen Grunde undenkbar sind, weil dort ein Zuhälterthum im wirklichen Sinne des Wortes garnicht existirt. Die in den beiden vorhandenen Bordellen bediensteten Mädchen haben in der Stadt gar keinen derartigen Anhang, da sie sich immer nur 3-4 Wochen daselbst aufhalten und dann wieder abreisen, und die 2-3 ansässigen unter Sittenkontrolle stehenden Frauenzimmer wie die schwarze Dominika und die vielgenannte Symanowski sind mehr lüderliche, gefällige Mädchen als gewerbsmäßige Prostituirte. Jedenfalls aber steht das, was man unter dem Anhang dieser paar Weiber allenfalls als Zuhälter bezeichnen könnte, auf einer derart tiefen Stufe, daß man fest überzeugt sein kann, hätte Winter auf diese Weise sein Ende gefunden, |[24] dann hätte die riesige Belohnung und das noch immer rege Interesse der ganzen Bevölkerung an der Affaire einerseits und der Schnapsteufel und der unter solchem Gesindel tagtäglich herrschende Zank andererseits schon längst die Aufklärung der traurigen Angelegenheit herbeigeführt.

Es bleibt also eigentlich nur noch Eifersuchtsdrama oder Lustmord.

Die Annahme, daß der junge Winter das Opfers eines Eifersuchtsdramas geworden ist, hat wohl von Anfang an in den Kreisen der nicht voreingenommenen, unbefangen urtheilenden Bevölkerung die meisten Anhänger gefunden. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß im ersten Stadium der Untersuchung verschiedene Momente zu Tage traten, die wohl geeignet waren, diese Ansicht nach jeder Richtung hin kräftig zu unterstützen. Die Stellung des Ermordeten zum ganzen weiblichen Geschlecht und seine notorischen Erfolge bei demselben; die weibliche Fußspur neben dem Fundort des Armes; die sentimentale Postkarte der Wisotzki: „Ueber Dir glüh’n andere Sterne etc.“; vor allen Dingen aber der Fund des geheimnißvollen Damentaschentuches in der Nähe des Kopfes, dessen Besitzerin zu ermitteln den Behörden lange Zeit trotz der größten Anstrengungen nicht gelang, mußten ja beinahe gewaltsam den Verdacht nach dieser Richtung hin lenken. Frau Kreisschulinspektor Rohde, die bekanntlich später von den Behörden als die rechtmäßige Eigenthümerin des bewussten Taschentuches ermittelt worden ist, hat es sich zweifellos selbst zuzuschreiben, wenn sie von Seiten eines großen Theiles der Bevölkerung lange Zeit hindurch – zum Theil heute noch – stets in unliebsame Beziehungen zu dem gewaltsamen Ende des jungen Winter gebracht wurde. Der Umstand, daß sie trotz ihres sonst bewiesenen Interesses für die Mord-Affaire alle Bitten und Aufforderungen der Behörden, das öffentlich ausgestellte Taschentuch zu rekognosziren, unbeachtet ließ, mußte ja jeden Fernerstehenden in den Glauben versetzen, daß dieses ominöse Taschentuch thatsächlich in wichtigen Beziehungen zu der Blutthat stand, daß seine Besitzerin es nur deshalb nicht sofort als das ihre reklamirte, weil es wahrscheinlich den Schlüssel zu irgend einer düsteren Familientragödie bildete. Dieser Glaube ist irrig. Das betreffende Taschentuch ist, wie nachträglich festgestellt worden ist, auf ganz harmlose Art und Weise an die Fundstelle des Kopfes gelangt. Es hat mit der ganzen Mordangelegenheit nur insofern zu thun, als es den schon an und für sich vorhandenen Glauben an ein stattgefundenes blutiges Liebes- und Ehedrama ganz besonders verstärkte.

Dieser Glaube wurde dann bei vielen Leuten – auch in den maßgebenden Kreisen – zur felsenfesten Gewißheit, als der Kleiderbefund bekannt wurde.

Meiner Ansicht nach zu Unrecht. Gerade dieser Kleiderbefund |[25] scheint mir der schlagendste Beweis dafür zu sein, daß der junge Winter nicht, wie man allgemein glaubt, einer Eifersuchtstragödie zum Opfer gefallen ist. Diese Hypothese hat doch nur dann einige Wahrscheinlichkeit für sich, wenn man ihr das uralte, ewig neue Othellomotiv der unberechtigten Eifersucht zu Grunde legt. Das hartnäckige Schweigen der betheiligten Frau läßt sich doch nur dann erklären, wenn man annimmt, daß sie von der Eifersucht ihres Mannes auf Winter keine Ahnung hatte, weil sie sich garnicht bewußt war, begründeten Anlaß dazu gegeben zu haben. Winter hat nun aber, nach dem Kleiderbefund zu schließen, zweifellos an jenem Sonntag Nachmittag noch geschlechtlich verkehrt und es spricht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, daß er seinen Tod an derselben Stelle erlitten hat, an welcher er auch den geschlechtlichen Umgang pflog; d. h. mit anderen Worten: er ist nach dieser Eifersuchts-Hypothese von dem betreffenden Ehegatten auf frischer That ertappt und getödtet worden. So reimt sich ja auch das Volksgemüth die Sache zusammen.

Ein solcher Vorgang ist doch aber einfach psychologisch undenkbar. Es ist schon wenig wahrscheinlich, daß ein Mann, der bei seiner unvermutheten Heimkehr seine Frau in einer derart verfänglichen Situation mit dem jungen Winter getroffen hätte, nur den Letzteren und nicht auch seine Frau getödtet haben sollte. Geradezu widersinnig aber ist es, annehmen zu wollen, daß die in dieser Weise direkt beim Ehebruch ertappte Frau die nach dieser Annahme doch sozusagen vor ihren Augen erfolgte Tödtung ihres Galans stillschweigend mit angesehen haben sollte, ohne sofort bei Eintritt der Katastrophe schreiend und kreischend die Nachbarschaft zu alarmiren. Eine solche Ehebruchstragödie hätte sich sicherlich nicht in der unheimlichen Ruhe und Stille abgespielt, wie es bei der Ermordung Winter zweifellos der Fall war. Zum mindesten hätte dieselbe doch wohl mit der sofortigen Trennung der beiden Eheleute geendigt. Denn daß eine Frau nach einem solchen grausigen Intermezzo die eheliche Gemeinschaft ruhig weiter fortsetzt, als wäre garnichts vorgefallen, das ist doch einfach undenkbar. Auch die dümmste Bauerntrine mußte nach dem, was vorgefallen war, immer mit der Möglichkeit rechnen, daß ihr Mann sie eines Tages als lästige Mitwisserin der That vielleicht in derselben Weise aus der Welt schaffen würde wie den jungen Winter. Mit diesem steten Gedanken vor Augen konnte sie unmöglich ruhig neben ihm weiter leben, als wenn garnichts geschehen wäre. Hätte sich der Vorgang wirklich so abgespielt, wie die Laienphantasie sich denselben immer ausmalt, dann hätte derselbe auch sicher zu sofortiger Trennung der Ehe und damit auch auf die Spur des Thäters führen müssen. Ein solches plötzliches Auseinandergehen zweier Ehegatten konnte in dem kleinen Städtchen nicht unbemerkt bleiben, und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätte |[26] doch die inzwischen längst zu einem respektablen kleinen Vermögen angewachsene hohe Belohnung der betreffenden Frau zweifellos bereits die Zunge gelöst. Es läßt sich schlechterdings kein plausibler Grund ausdenken, mit welchem man das hartnäckige Schweigen der vermeintlichen Ehebruchspartnerin des Ermordeten auch nur einigermaßen befriedigend zu erklären im Stande wäre. Ehetragödien, die zu solchen Katastrophen führen, können aus zwingenden psychologischen Gründen der Nachwelt nicht verborgen bleiben. Hätte Winter wirklich auf diese Weise geendigt, dann wäre man auch über die näheren Umstände seines Todes längst völlig im Klaren.

Was im Vorstehenden von der Ehefrau gesagt wurde, gilt natürlich in noch viel höherem Maße von der bloßen Geliebten. Diese kann angesichts [5] dieser Verhältnisse nur unter den besonders leichtfertigen Mädchen zu suchen sein, und was ein solches um die Mordthat wissendes und den Mörder kennendes Mädchen dazu bewogen haben sollte, über die Sache absolutes Schweigen zu bewahren, ist doch erst recht räthselhaft. Bei der Ehefrau kann man ja vielleicht noch Rücksicht auf die Kinder oder auf den bisherigen Ruf als achtbare Frau geltend machen; bei einem Gymnasiastenliebchen aber fällt doch das alles [6] fort. Es kommt hinzu, daß einem Altersgenossen des Ermordeten – und nur solche kommen als seine Nebenbuhler hier in Frage – dieser Mord aus den verschiedensten Gründen gar nicht zuzutrauen ist. Winter hatte gewiß in Folge seines fabelhaften Glückes bei den Mädchen unter seinen Schulkameraden und sonstigen gleichalterigen jungen Leuten Neider und Feinde genug. Hätte sich aber bei einem von diesen die Eifersucht in so gefährlicher Weise Luft gemacht, dann wäre es wahrscheinlich in Form eines Messerstiches oder heimtückischen Niederschlagens geschehen. Der Gedanke an die scheußliche Zerstückelung der Leiche konnte in einem so jugendlichen Hirn garnicht ausreifen, ganz abgesehen davon, daß seine Durchführbarkeit für die bei fremden Leuten in Pension wohnenden Gymnasiasten und Fleischerlehrlinge wohl auf einige Schwierigkeiten gestoßen wäre.

Man sieht, auch das Eifersuchtsmotiv hält bei näherem Eingehen auf die Sache nicht recht Stand. Das hartnäckige, unerklärliche Schweigen des zweifellos in diese Affaire mitverwickelten Frauenzimmers läßt auch diese Annahme hinfällig erscheinen. Man kann dieses Schweigen unmöglich auf falsche Scham oder Prüderie zurückführen. Dazu ist die Belohnung einerseits – die Tragweite und Bedeutung der ganzen Affaire andererseits schon viel zu groß, und schließlich: noch größer als die Scheu, den begangenen Fehltritt offen einzugestehen, wäre wohl in diesem Falle die Furcht, als die gefährlichste Zeugin der Unthat das zweite Opfer des Mörders zu werden. Dieses Schweigen deutet offenbar auf irgend eine Mitschuld, und es ist doch durchaus unverständlich, wie ein |[27] mit seinem Liebhaber überraschtes Weib zu einer Mitschuld des an dem Letzteren verübten Verbrechens kommen sollte.

Die Annahme, daß der junge Winter bei irgend einer verheiratheten Frau in Folge des unvermutheten Erscheinens des Ehegatten sein trauriges Ende gefunden hat, läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn man annimmt, daß ihn die schuldige Frau beim plötzlichen Eintreffen ihres Mannes schnell in irgend ein sicheres Versteck gebracht hat, in welchem er den Erstickungstod fand, und daß diese Frau dann nach dem erneuten Fortgehen ihres Mannes kurz entschlossen, den vielleicht nur bewußtlosen, nach ihrer Meinung aber schon völlig erstickten Winter in der bekannten Weise zerlegte, um die Spuren ihres doppelten Fehltrittes besser beseitigen zu können. Die Idee, daß der junge kräftige Winter nicht, wie man allgemein glaubt, das Opfer einer vielköpfigen Mörderbande, sondern dasjenige einer einzelnen Frau geworden sein soll, mag ja dem Laien zunächst paradox erscheinen; sie läßt sich aber zweifellos mit sehr guten und triftigen Gründen vertheidigen.

Zunächst ist die That – allem Zetergeschrei der entrüsteten Frauenwelt zum Trotz – gerade wegen der bei der Zerlegung der Leiche unleugbar an den Tag gelegten unheimlichen Gefühlsrohheit – weit eher einer Frau als einem Mann zuzutrauen. Gerade solche Zerstückelungsmorde werden – wie die Kriminalgeschichte lehrt – relativ weit häufiger von Frauen als von Männern verübt. Daß nun in Konitz ein Weib zweifellos seine Hand mit im Spiele gehabt hat, darüber ist sich ja eigentlich alle Welt einig; warum dann aber dieses Weib den Mord nicht auch ganz gut allein in der oben geschilderten Art und Weise verübt haben soll, läßt sich nur schwer begreifen. Denn wenn man, wie es wahrscheinlich richtig ist, nicht gewaltsame, sondern zufällige Erstickung annimmt, dann ist doch der oft gehörte Hinweis auf die Kräfte des jungen Winter einfach hinfällig. Die bloße Zerstückelung der Leiche konnte dann ebenso gut von einem schwachen Weibe wie von einem kräftigen Mann vorgenommen werden. Ja, es sprechen sogar verschiedene Momente eher für die erste Möglichkeit als für die zweite.

Stellt man sich auf den heute allgemein eingenommenen Standpunkt, daß die Zerlegung der Leiche nur zum Zwecke ihrer bequemen Beseitigung erfolgte, dann ist es doch offenbar, daß die Nerven der nur durch einen Zufall zu diesem Verbrechen gekommenen, sinnlich erregten Frau dieser Aufgabe weit besser gewachsen waren, als die des Mannes, bei denen wahrscheinlich in Folge des eben verübten Todtschlages schon die unvermeidliche Reaktion eingetreten war. Die ungemeine Subtilität und Sorgfalt, mit der diese Zerstückelung nachweislich vorgenommen ist, fordert geradezu zu dem Schlusse heraus, daß die schaurige Arbeit dem Verbrecher ein gewisses – Vergnügen hätte ich beinahe gesagt – |[28] bereitet hat. Dieses Lustgefühl läßt sich doch nun sicherlich aus der perversen Sexualität der weiblichen Natur heraus leichter verstehen, als aus den im Grunde gleichen Eigenschaften des Mannes. Was endlich die bei der Zerlegung des Körpers angeblich zu Tage getretene besondere anatomische Geschicklichkeit anbelangt, so wird man meines Erachtens auch gut thun, dieselbe einmal nicht allzu sehr zu überschätzen, zum andern Mal aber zu bedenken, daß die Frau, die häufig allerlei Gethier für den eigenen Hausgebrauch zu schlachten hat, von der sachgemäßen Zerlegung der Thierkadaver im Durchschnitt viel mehr versteht als der Mann. Denn wenn man annimmt, daß sich ein Fleischer bei dem steten Schlachten von Schweinen und Schafen die zur kunstgerechten Zerlegung des menschlichen Leichnams erforderlichen anatomischen Kenntnisse aneignen kann, dann ist nicht abzusehen, warum sich nicht auch eine Frau dieselben bei der Tranchirung von Hasen und anderem kleinen Gethier sollte erwerben können. Der anatomische Unterschied zwischen Mensch und Hase oder Kaninchen ist doch kein anderer als der zwischen Mensch und Schaf oder irgend einem anderen größeren Vierfüßler.

Will man aber auch diese Hypothese, die meiner Ueberzeugung nach der Wahrheit am nächsten kommt, aus irgend einem Grunde nicht gelten lassen, dann bleibt angesichts der ganzen Sachlage nur noch die Annahme übrig, daß der junge Winter eben sein Ende bei irgend einem Sittlichkeitsverbrechen gefunden hat. Sei es, daß er bei der Begehung eines solchen ertappt und auf der Stelle getödtet wurde, sei es, daß er direkt das Opfer eines Lustmörders wurde.

Die erstere Annahme hat zur Voraussetzung, daß Winter sich gewaltsam an irgend einem jungen Mädchen oder einer Frau vergriff und nach vollzogener Schändung von hinzukommenden Angehörigen der Entehrten im aufwallenden Zorn getödtet und dann aus Furcht vor den Folgen der im Affekt begangenen Handlung in der bekannten Weise zur bequemeren Beiseiteschaffung zerstückelt wurde. Mit einer solchen Annahme könnte man zwar das Schweigen der betheiligten Frau zur Noth befriedigend erklären; dieselbe hat aber trotzdem nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich. Aber auch die zweite Annahme, daß er das Opfer eines Lustmörders geworden ist, stößt bei näherem Zusehen auf mancherlei Bedenken.

Lustmorde pflegen in der Regel immer nur von einem Individuum des einen Geschlechts an Individuum des anderen Geschlechts verübt zu werden. Es käme also auch bei dieser Annahme für die That zunächst wieder irgend eine einzelne Frau in Frage. Ob es überhaupt zur Zeit der That in Konitz liebestolle Messalinen gegeben hat, denen ein solcher Ausbruch erotischen Wahnsinns zuzutrauen ist, soll hier nicht näher untersucht werden. Wenn man sich überhaupt mit der Möglichkeit befreundet, in einer Frau |[29] die alleinige Thäterin zu sehen, dann hat zweifellos die weiter oben aufgestellte Ansicht weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich, als diese Letztere. Es bleibt also nur noch der Blutmörder, d. h. in diesem Falle ein sogenannter Urning[7] als Thäter übrig.

Homosexuell veranlagte Männer gab es ja nun zweifellos auch in Konitz und zwar allem Anschein nach sogar unter den speziellen Bekannten des Winter, und die Ansicht, daß einer von ihnen diesen Mord begangen hat, ist ja auch im Laufe der Untersuchung von kompetenter Seite mehrfach zum Ausdruck gelangt. Ich vermag auch diese Ansicht aus verschiedenen Gründen nicht zu theilen. An eine gewaltsame Vornahme von derartigen unzüchtigen Handlungen durch einen Urning ist doch nicht zu denken, da Winter ein kräftiger junger Mann war. Gegen die freiwillige Hingabe desselben zu solchen unsauberen Manipulationen aber spricht widerum seine stark ausgeprägte Vorliebe für körperliche Uebungen aller Art. Leidenschaftliche Turner, Tänzer und Schlittschuhläufer bilden nach den Erfahrungen der Kriminalistik nicht das Material, das sich unseren Homosexuellen zur Befriedigung ihrer entarteten Wollust freiwillig zur Verfügung stellt; das pflegen vielmehr immer nur Elemente mit deutlich hervortretenden Dunkelkammer- und Kellerwurmbehagen zu sein.

Noch ein anderes wichtiges Moment spricht dagegen, daß der junge Winter einem solchen Lustmord zum Opfer gefallen ist, nämlich die Thatsache, daß die Geschlechtstheile an der Leiche völlig unversehrt und unverletzt vorgefunden wurden. Gerade die Geschlechtstheile pflegen erfahrungsgemäß bei allen Verbrechen, bei denen entartete Sinnlichkeit die Triebfeder war, in erster Linie verstümmelt und zerstückelt zu werden. Der Umstand, daß das hier nicht geschah, genügt meines Erachtens schon, um die Annahme eines Lustmordes von vornherein auszuschließen.

Man ersieht aus alledem wohl zur Genüge, daß es nicht ganz leicht ist, aus den winzigen positiven Feststellungen der Untersuchungen einen leidlich sicheren Rückschluß auf das Motiv der That zu machen. Welchen Beweggrund die Phantasie auch ersinnen mag, es läßt sich bei unbefangener, objektiver Prüfung fast immer ebenso viel dafür wie dagegen einwenden. Die Untersuchung tappt thatsächlich in Bezug auf den wahren Beweggrund des geheimnißvollen Mordes noch völlig im Dunkel, und diesen Umstand muß man wohl bedenken, wenn man verstehen will, warum das Räthsel von Konitz bis heute noch keine befriedigende Antwort gefunden hat. Die Beantwortung der Frage: Wer war es? ist gemeinhin abhängig von der Beantwortung der Frage: Was war es? Der Kriminalist, der instinktiv für die Letztere die richtige Antwort findet, wird wahrscheinlich auch auf die Erstere die rechte Antwort nicht lange schuldig bleiben.

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Anmerkungen (Wikisource) Bearbeiten

  1. Original:Sekt
  2. [ Wikipedia Artikel zum Xantener Ritualmordvowurf]
  3. Original:Leugnenen
  4. [ Wikipedia Artikel zu Erzsébet_Báthory]
  5. Original:Angesichts
  6. Original:Alles
  7. [Bezeichnung für einen homosexuellen Menschen]
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