« Chronik Enthüllungen zur Konitzer Mordaffaire Mordvarianten »
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|[13] Ehe ich nun zu einer kritischen Beleuchtung der einzelnen in dieser Kriminal-Affaire zu Tage getretenen Momente übergehe, möchte ich ein paar informierende Bemerkungen über die Oertlichkeit und die Persönlichkeit des Ermordeten vorausschicken.

Die Stadt Konitz ist ein kleines westpreußisches Städtchen von ca. 11000 Einwohnern, meist kleinen Ackerbürgern, Handwerkern und Beamten. Irgend ein größeres, der Stadt einen bestimmten Stempel aufprägendes industrielles Etablissement oder dergleichen fehlt. Höchstens das Gymnasium spielt eine gewisse Rolle, da der Pensionspreis für die meist von auswärts stammenden Schüler in vielen Haushaltungen als wichtige und sichere Einnahmequelle figurirt.

Da das konfessionelle Moment bei der Beurtheilung dieser Affaire immer stark betont worden ist, so seien auch diese Verhältnisse hier kurz erwähnt. In der Stadt selbst halten sich Katholiken und Evangelische die Waage. Juden mag es zur Zeit des Mordes vielleicht 4½ Prozent in Konitz gegeben haben. Außerdem befand sich noch eine alt-lutherische und eine noch kleinere Baptistengemeinde am Ort. Irgendwelche andere Sekten dunklen Ursprungs haben sich in Konitz trotz eifrigen Suchens nicht nachweisen lassen.

Durch die ungefähr von Nord nach Süd streichende Danziger- resp. Schlochhauerstraße wird die Stadt in zwei etwas ungleiche Hälften getheilt. In diesen beiden Straßen spielt sich in der Hauptsache das öffentliche Leben von Konitz ab, und namentlich in den Abendstunden entwickelt sich hier ein selbst für den Großstädter verblüffend reger Verkehr. Dieser Umstand ist für die Beurtheilung der Mord-Affaire nicht ganz ohne Bedeutung. Es erscheint nämlich beinahe ausgeschlossen, daß die Mörder es gewagt haben sollten, mit dem schweren, den Rumpf bergenden Packet und den übrigen unverhüllten Leichentheilen diese auch zur Nachtzeit nie ganz unbelebten, relativ breiten und gut beleuchteten Straßen zu überschreiten. Die Lokalität, in welcher der Mord und die spätere Zerstückelung der Leiche erfolgte, kann also nur in der kleineren östlichen Stadthälfte zu suchen sein.

Auf dem Gymnasium dieser Stadt befand sich nun auch der junge Winter seit seinem 13. Lebensjahre. Der Umstand, daß er erst so spät von seinen Eltern auf eine höhere Schule geschickt werden konnte, erklärt es wohl zum Theil, daß er trotz seiner beinahe 19. Jahre noch immer die Bänke der Ober-Tertia drückte, denn ein Genie, das die verloren gegangenen Jugendjahre durch besondere Begabung wieder hätte einholen können, war er nicht. |[14] Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß weniger verständnißvolle Würdigung seiner Neigung für einen gelehrten Beruf, als vielmehr Rücksicht auf die eigene Reputation es war, was seine Eltern bewog, ihn überhaupt aufs Gymnasium zu schicken. Zur Jeunesse dorè [1] gehörte der junge Winter in Konitz jedenfalls nicht, da sein Vater, der Bauunternehmer Winter in Prechlau, nicht sonderlich mit Glücksgütern gesegnet war und außer für ihn auch noch für eine ganze Anzahl anderer Geschwister zu sorgen hatte. Wenn der Ermordete trotzdem unter seinen gleichaltrigen Schulkameraden eine gewisse tonangebende Rolle spielte, so ist das meiner Ansicht nach, wohl der beste Beweis dafür, daß er sehr sympathische Charaktereigenschaften besessen haben muß. Gerade in letzter Beziehung gehen ja nun die Ansichten schnurstracks auseinander. Der Umstand, daß seine Ermordung das Signal zu einem mit den unsaubersten Mitteln geführten Parteistreit gegeben hat, konnte ja in Bezug auf die Beurtheilung seiner Person nicht ohne Wirkung bleiben. Während ihn die eine Partei zum nationalen Märtyrer stempelte, machte die andere einen Sittlichkeitsverbrecher mit allerlei verdächtigenden perversen Neigungen aus ihm. Das Eine ist so thöricht wie das Andere. Es ist richtig, vom Staatsanwaltstisch selbst ist anläßlich des einen Prozesses das Wort vom „unsittlichen Lebenswandel“ gefallen. Das ist ein bedauerlich hartes Wort, das wie kein anderes geeignet ist, die öffentliche Meinung irre zu führen, und das sich durch die Ergebnisse der Untersuchung in keiner Weise rechtfertigen läßt. Gewiß, der junge Winter hat trotz seiner 18 Jahre schon verschiedentlich geschlechtlichen Umgang gepflogen, aber bei der Beurtheilung dieser Thatsache muß man doch nicht blos immer sein jugendliches Alter und seine Stellung als Gymnasiast, sondern auch seine körperliche Entwickelung mit berücksichtigen. Er war ein kräftig entwickelter, wohlgebauter hübscher Mensch, lebensfroh mit guten Umgangsformen, ein guter Tänzer, flotter Schlittschuhläufer und ausgezeichneter Turner. Kann man sich da wundern, wenn ihm die Mädchenwelt Avancen machte? Und kann man sich wundern, wenn diese Avancen bei den Leichfertigen unter ihnen schließlich die Grenze des Erlaubten überschritten? In den immer durch die Zeitungen geschleiften Fällen Caspary, Tuchler und Hoffmann gingen seine Beziehungen zum anderen Geschlecht jedenfalls über harmloseste Gymnasiasten und Backfischlieberei nicht hinaus, und wenn in einigen wenigen Fällen sein intimer Verkehr mit ein paar leichtfertigen Dirnen notorisch erwiesen ist, so hat er doch diese Verfehlungen durch sein tragisches Ende mehr als gesühnt. Ihn über das Grab hinaus noch mit Schmutz zu bewerfen, dazu liegt wirklich kein Grund vor.

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Anmerkungen (Wikisource)

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  1. [Bezeichnung für eine "zuvorkommende und edle Jugend".]
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