Enthüllungen zur Konitzer Mordaffaire/Mörder

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|[30] Wer ist nun der Mörder?

War es der von den Antisemiten so hartnäckig der That bezichtigte Schlächtermeister Levy, oder war es der von der Gegenpartei mit gleicher Ausdauer beschuldigte Fleischer Hoffmann? War es der Schneidermeister Plath, oder war es irgend eine andere bisher wenig oder garnicht in den Vordergrund getretene Persönlichkeit? Ich kann diese Frage selbstverständlich nicht nach der einen oder anderen Seite hin mit Sicherheit beantworten. Ich stelle sie lediglich, um in ihrem Rahmen das Für und Wider der die vorgenannten Personen belastenden Momente dem Fernstehenden in unparteiischer Weise vor Augen[1] zu führen.

Ich habe bereits Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daß sich zunächst der Verdacht der Thäterschaft fast allgemein auf den Schlächtermeister Hoffmann lenkte und zwar deshalb, weil der Ermordete nachweislich eine kleine Liebelei mit der jugendlichen Tochter des Hoffmann unterhalten hatte, daß er angeblich deshalb von Hoffmann bedroht sein sollte, und dessen Grundstück in nächster Nähe des Fundortes der erste Leichentheile lag und – last not least – weil Hoffmann eben ein Fleischer war und man den Thäter damals allgemein nur unter den Fleischern suchte. Man hat diese Annahme immer mit dem Hinweis auf die bei der Zerlegung der Leiche bewiesene angebliche Sachkenntnis zu rechtfertigen versucht. Das ist meiner Ueberzeugung nach eitler Selbstbetrug. Nicht dieser Umstand, sondern vielmehr der unsinnige, tief im Volksgemüth wurzelnde Aberglaube jede besonders rohe und bestialische Art immer immer gleich unbesehen dem Schlächtergewerbe in die Schuhe zu schieben bildet meines Erachtens die wirkliche, wenn auch unbewußte Ursache des noch immer zähen Festhaltens an einem Fleischer – gleichviel welcher Konfession – als muthmaßlichen Thäter.

Es wird in manchen dicken Schädel nicht hinein wollen, daß gerade die Schlächter von allen Handwerkern bei der Mordstatistik relativ am besten abschneiden. Gerade die sogenannten rohen Gewerbe: Schlächter, Schmiede etc. stellen bei Weitem nicht ein so großes Kontingent zu den schwersten Verbrechen wie die angeblich so sanften, philosophischen Gewerbe der Schneider und Schuster etc. Um nur ein Beispiel anzuführen. Von den ca. 35 im Laufe der letzten 20 Jahre in Berlin ermordeten Personen, deren Mörder ermittelt worden sind, ist nicht eine von einem Schlächter ermordet, dagegen sind nicht weniger als 7 – also 20 Prozent – von Schneidern umgebracht worden – eine Thatsache, die wohl auch in Bezug auf die Beurtheilung der Konitzer Affaire nicht ganz |[31] ohne Bedeutung ist, wenn man bedenkt, daß auch dort neben den Fleischern, die auf Grund dieses die Kriminalgeschichte auf den Kopf stellenden Vorurtheils in den Vordergrund geriethen, ein Schneider es ist, den die positiven Ergebnisse der Untersuchung mit in die erste Reihe der Mordkandidaten geführt haben. Auch in Konitz wird wahrscheinlich die alte Kriminalistenwahrheit schließlich Recht behalten, dass, je raffinirter, je scheußlicher und verabscheuenswürdiger ein Verbrechen ist, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit ist, daß es im entarteten Hirn eines Stubenhockers, einer Grübel- und Spintisirnatur ausgebrütet wurde.

Denn das muß doch festgehalten werden: Die Konitzer Blutthat mag wirklich ursprünglich nur eine aus Fahrlässigkeit oder im Affekt verübte Tödtung darstellen durch die nachfolgenden Begleitumstände ist sie zweifellos zu einem der widrigsten Verbrechen geworden, das die neuere Kriminalgeschichte kennt. Roh und widerlich bedeutet aber einen Unterschied. Rohheitsdelikte von Seiten der Angehörigen des Fleischergewerbes sind durchaus nichts Seltenes; wie sehr ihnen aber jede widerliche Hantirung gegen die Natur geht, beweist zur Genüge ihre Abscheu gegen die Abdeckerei und Polkaschlächterei. Das bloße Niederschlagen oder Ueber-den-Haufen-stechen des Winter wäre ja schließlich einem Fleischer ebenso gut wie einem anderen Menschen zuzutrauen gewesen, aber die bodenlos ekelhafte Arbeit des kaltblütigen Zerstückelns der Leiche paßt trotz der angeblich dazu erforderlichen Sachkenntnis und Gewandtheit doch gar zu schlecht zum Bilde des Fleischers, wie er wirklich ist, nicht wie ihn viele Leute sich noch immer vorstellen. Wo um alles in der Welt hat denn übrigens der Schlächter Gelegenheit, sich die zur anatomisch korrekten Zerlegung des menschlichen Körrpers erforderlichen Kenntnisse anzueignen? Wäre er wirklich durch seinen Beruf so vortrefflich für derartige Aufgaben vorbereitet, dann würde man ihn wohl sicherlich unter dem Sanitätspersonal des Heeres, unter den Kranken- und Leichenwärtern unserer Kliniken weit häufiger antreffen, als es notorisch der Fall ist. Wenn man also auch auf die Frage: Wer war der Mörder? nicht eine bestimmte Person mit Sicherheit bezeichnen kann, - soviel kann man schon auf Grund einer leidlichen Kenntnis der Kriminalgeschichte und der Verbrecherpsyche behaupten: „Ein Schlächter ist es nun und nimmermehr gewesen.“

Versteift man sich aber nicht mehr auf den Gedanken, daß nur ein Fleischer der Mörder sein könne, dann bleibt von dem ganzen Verdacht gegen Levy sowohl wie gegen Hoffmann thatsächlich auch nicht die Spur mehr übrig. Speziell bei Hoffmann bleiben dann als positive Belastungsmomente nur noch: der notorisch harmlose Verkehr seiner Tochter Anna mit Winter, das einmalige barsche Wegweisen desselben von der Ladenthür; die Anrempelung des Winter durch seinen Lehrling, späteren Gesellen Welke sowie |[32] die Mitte April 1900 erfolgte Abreise desselben von Konitz. Diesem ungeheuerlichen Belastungsmaterial steht nun aber entgegen, daß Winter nach dem übereinstimmenden Gutachten der medizinischen Sachverständigen spätestens bis 7 Uhr Abends sein Tod gefunden haben muß, und daß Hoffmann bis mindestens um diese Zeit ein von keiner Seite ernsthaft angezweifeltes Alibi besitzt.

Wie man auf Grund eines solchen Sachverhaltes gegen einen Mann, der sich außerdem des besten Leumundes erfreute, das förmliche Strafverfahren einleiten konnte, wird wohl für alle Zeit ein mindestens ebenso großes Räthsel bleiben wie die Ermordung des jungen Winter überhaupt. Selbst wenn man einige Kenntnis von den Dingen hat, die in dieser Beziehung hinter den Koulissen gespielt haben, - selbst dann muß man sich noch kopfschüttelnd die Frage vorlegen: „Wie war so etwas möglich?“

Auf diese Frage läßt sich kaum eine auch nur leidlich befriedigende Antwort geben, selbst wenn man die damals in Konitz herrschenden ungewöhnlichen Zustände berücksichtigt.

Bekanntlich wird von antisemitischer Seite und auch von Hoffmann selbst die Schuld an dem Vorgehen der Behörden gegen ihn immer auf allerlei jüdische Intriguen und Machinationen zurückgeführt. Der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Daß die Juden überhaupt erst den Verdacht gegen Hoffmann wachgerufen haben, ist allerdings ein grober Irrthum. Es ist eine durch nichts aus der Welt zu schaffende Thatsache, daß dieser Verdacht aus den von mir bereits eingangs erwähnten Gründen in den ersten Tagen nach Auffindung des Rumpfes auch von Leuten getheilt und ausgesprochen wurde, die sich später als die eifrigsten und fanatischsten Antisemiten entpuppten. Was den Juden zur Last fällt ist lediglich der Umstand, daß sie, als später die antisemitische Strömung einsetzte, in dem leicht begreiflichen Streben nach Abwehr sich fanatisch in den einmal geweckten Verdacht verbissen und nun auch ihrerseits, genau wie es von gegnerischer Seite in Bezug auf die Familie Levy geschah, gegen Hoffmann und seine Familie das tollste Zeug zusammenphantasirten und alles Ungünstige für baare Münze nahmen, was ihnen – z. T. aus den unsaubersten Motiven – von den verschiedensten Seiten über diesen zugetragen wurde. Und das Gefährliche an diesen unter den Juden und judenfreundlichen Elementen über Hoffmann im Umlauf befindlichen Gerüchten war, daß sie wie ein schleichendes Gift im Verborgenen um sich griffen und nicht, wie es im Falle Levy von antisemitischer Seite geschah, offen in der Presse zur Diskussion gestellt wurden. Wäre dies geschehen, dann wäre ja vermuthlich die zwischen Antisemiten und Philosemiten entbrannte Preßfehde zunächst eine noch weit heftigere geworden, aber die Behörden wären doch dann höchst wahrscheinlich garnicht in die Lage gekommen, sich so unsterblich zu blamieren, wie |[33] sie es durch die Einleitung des förmlichen Strafverfahrens später unstreitig gethan haben.

Denn das steht fest: eine öffentliche Beleuchtung und Kritik hätte das gegen Hoffmann im Verborgenen zusammengetragene Belastungsmaterial nimmermehr ausgehalten; es wäre bei Zeiten – auch von den Behörden – als das erkannt worden, was es war: nämlich ein abenteuerliches Gemisch von Dichtung und Wahrheit. Nebenbei bemerkt, wäre es auch dem Verdächtigen in diesem Falle weit leichter gewesen, das diesen angeblichen Wahrnehmungen zu Grunde liegende offenbare Lügengewebe sofort als solches zu erkennen und nachzuweisen.

Man glaube nämlich nicht etwa, daß nur im Falle Levy immer das Blaue von Himmel herunter gelogen worden ist; die Hetze gegen Hoffmann ist in ganz demselben Styl betrieben worden. Was für Levy Herr Maßloff, das war für Hoffmann der ebenso oft genannte Privat-Detektiv Schiller. Die von dem Letzteren angeblich gemachten Wahrnehmungen in Bezug auf das auffällige Gerede und Betragen des von ihm verfolgten und überwachten Schlächtergesellen Welke, die eigentlich den Anstoß zu der so viel Staub aufwirbelnden Verhaftung des Hoffmann gaben, waren notorisch von A bis Z ebenso erlogen, wie die angeblich am Levyschen Kellerfenster gemachten Wahrnehmungen des Maßloff. Die Schillerschen Flunkereien sind nur nicht so bekannt geworden, wie die Maßloffschen, weil sie nicht wie diese in der Form von Zeugenaussagen auftraten, sondern unter der Flagge vertraulicher Berichte an Staatsanwalt und Kriminalpolizei segelten. Gerade dadurch sind dieselben aber für Hoffmann weit verhängnisvoller geworden, als es die Maßloffschen jemals für Levy hätten werden können.

Die Rolle, welche dieser von dem jüdischen Aufklärungs-Komitee nach Konitz entsandte Chef-Rechercheur dort namentlich in dem Verfahren gegen Hoffmann gespielt hat, ist meines Erachtens niemals nach Gebühr gewürdigt worden. Er war thatsächlich die treibende Kraft in dem Vorgehen der Behörden gegen Hoffmann. Der Umstand, daß die wenig oder garnicht kontrollirten, vertraulichen Mittheilungen dieses Mannes, dessen Unzuverlässigkeit den Berliner Beamten doch kein Geheimniß sein konnte, im Stande waren, der Untersuchung eine solche Wendung zu geben, wird für die betreffenen Beamten immer ein schwerer Vorwurf bleiben. Der Kriminal-Kommissar Wehn wußte ganz genau, was er that, als er das schriftliche Anerbieten des inzwischen aus dem Berliner Polizeidienst entlassenen Schiller, ihm unentgeltlich Vigilantendienste zu leisten, kurzer Hand in den Papierkorb warf. Der Umstand, daß der später nach Konitz entsandte Kriminal-Inspektor Braun diese Vorsicht nicht beachtete, hat demselben ein gut Teil seines wohlerworbenen Renomees gekostet.

Selbst wenn man uebrigens das gesammte von Schiller und |[34] anderen Leuten im Stillen gegen Hoffmann zusammengetragene Belastungsmaterial als wahr unterstellt, selbst dann bleibt es noch räthselhaft, wie daraufhin allein gegen einen bis dahin allgemein geachteten Mann das förmliche Strafverfahren eingeleitet werden konnte. Eine Anzahl unbewiesener Behauptungen und eine mehr als gewagte Hypothese einerseits und ein absolut sicheres Alibi für die Zeit, in welcher nach medizinischen Gutachten zweifellos die That verübt sein muß, in Verbindung mit dem denkbar besten Leumund andererseits, - das gab doch allein schon so unlösliche Widersprüche, daß ein klein wenig mehr als Vorsicht in der Prüfung der gegen Hoffmann vorgebrachten Verdachtsgründe sicherlich sehr am Platze gewesen wäre.

Nach der dem Verfahren gegen Hoffmann zu Grunde liegenden Annahmen der Anklagebehörde soll derselbe, nachdem er angeblich bereits früher einmal mit seiner älteren Tochter trübe Erfahrungen in dieser Beziehung gemacht hatte, seine Tochter Anna direkt beim intimen Umgange mit dem jungen Winter in einem ihm gehörigen Eisschuppen in der Nähe der Spüle (der Fundstelle des Rumpfes) überrascht und den Verführer seiner jugendlichen Tochter im aufwallenden Zorn sofort getötet und dann in der bekannten Weise zerstückelt haben.

Prüfen wir doch einmal die Berechtigung dieser Annahme.

Zunächst sei zugegeben, daß das Gerede von dem angeblichen Fehltritt seiner ältesten Tochter in dem leichtfertigen Prahlen eines verlotterten Schulamtskandidaten aus Löbau eine anscheinend berechtigte Unterlage hatte. Bei den angestellten Ermittlungen entpuppte sich dann allerdings die angebliche Entbindungsanstalt einfach als eine Frauenklinik, die das Fräulein Hoffmann eines Leidens wegen hatte aufsuchen müssen. Gerade dieses Mitglied der Hoffmanschen Familie hat jedenfalls auf den Unbefangenen durchaus nicht den Eindruck gemacht, als ob es sich so leicht von irgend einem grünen Gymnasiastenjüngling würde verführen lassen, und zweifellos würde wohl auch in einem solchen Falle die Stellung dieses Mädchens in der Familie eine ganz andere gewesen sein, als sie es notorisch war. Fällt aber diese dem Vater hier angedichtete trübe Erfahrung mit der älteren Tochter weg, dann ist nicht recht verständlich, wie er durch das kurze Verschwinden seiner jüngeren Tochter gleich auf so finstere Gedanken kommen konnte, daß er sich, mit allerlei Mordinstrumenten bewaffnet, auf die Suche nach ihr begab.

Nach der dem Verfahren gegen ihn zu Grunde liegenden Annahme muß er doch mindestens das zur Tödtung benutzte Messer bereits von Hause mitgenommen haben, da ja sonst der Gedanke an eine Tödtung im Affekt einfach widersinnig wäre. Selbst wenn man annimmt, daß er den jungen Winter nicht erstochen, sondern erdrosselt und dann erst zerstückelt habe, bleibe doch immer noch die Frage ungelöst, wo und wann diese Zerstückelung vor sich gegangen |[35] sein könne. Die Blutleere des Körpers beweist, daß die Zerstückelung unmittelbar nach Eintritt des Todes vorgenommen sein muß, und in dem Eisschuppen kann dies unmöglich geschehen sein, denn im Finstern konnte eine kunstgerechte Zerlegung nicht gut erfolgen, und Licht konnte in den Schuppen schon deshalb zu diesem Zweck nicht angezündet werden, weil alsdann die in demselben sich abspielenden Vorgänge von jedem auf der Straße Vorbeipassierenden wahrgenommen werden mußten. Die Annahme, daß der junge Winter in diesem Schuppen zerstückelt worden sei, steht auf gleicher Höhe mit der, daß diese Zerstückelung auf offener Straße oder freiem Felde vorgenommen worden sei. Das Eine ist so unsinnig wie das Andere.

Hätte Hoffmann wirklich den Winter in der gedachten Weise in jenem Schuppen erdrosselt, dann hätte er ihn behufs Zerstückelung der Leiche schon nach seinem ca. 200 Schritte davon entfernten Grundstück schleppen müssen, um die grausige Arbeit einigermaßen ungestört vornehmen zu können. Dafür, daß dies nicht geschehen ist, spricht aber der Umstand, daß er gerade an jenem Sonntag Abend seinen Lehrlingen, die sich zum Abendessen verspätet hatten, zur Strafe das nochmalige Fortgehen verbot. Hätte er wirklich an jenem Abend noch eine so lichtscheue Arbeit vorgehabt, dann wäre er doch froh gewesen, wenn kein Mensch zu Hause gewesen wäre, dann hätte er seinen Lehrlingen sicher keinen Hausarrest gegeben. Es ist ferner zu bedenken, daß, wenn Anna Hoffmann an jenem Sonntag überhaupt ein Rendez-vous mit Winter gehabt haben sollte, dies doch nur in der Zeit von 6½ Uhr bis höchstens 7 Uhr gewesen sein könne, denn nur während dieser Zeit hat sie das elterliche Haus zu einem kurzen Gange in die Stadt auf einige Zeit verlassen. Diese Zeit würde nun allerdings noch leidlich mit der ärztlicherseits festgelegten Todesstunde des Winter in Einklang zu bringen sein; es drängt sich aber auch hier sofort die Frage auf: Wo um alles in der Welt hat sich denn blos der Ermordete während der fünf Stunden vorher aufgehalten? In irgend welchem Lokal oder bei einer bekannten Familie ist er nicht gewesen; auf den Straßen wird er sicherlich nicht fünf Stunden lang zwecklos hin und her geschlendert sein, obgleich man ihn verschiedentlich gesehen haben will, und in dem kalten Eisschuppen wird er auch nicht hungernd und frierend von 2 bis 7 auf seine Flamme gewartet haben. Es bleibt also nur die Annahme übrig, daß er gleich nach dem Fortgehen aus dem Fischerschen Zigarrenladen dasjenige Haus betrat, in welchem er sein Ende gefunden hat. Das kann aber unter keinen Umständen, das Hoffmannsche gewesen sein, denn die Familie Hoffmann befand sich von 3 bis 6 Uhr garnicht zu Hause.

Diese thatsächlichen Feststellungen allein find schon geeignet, die völlige Unschuld des Hoffmann nach jeder Richtung hin zu erweisen, und nun beachte man auch die psychologischen Momente. |[36] Daß ein Vater, der seine jugendliche Tochter in einer derart verfänglichen Situation mit ihrem Liebhaber antrifft, auf diesen in seiner ersten Wuth vielleicht so losschlägt, daß er liegen bleibt, das ist gewiß möglich. Sicherlich hätte aber auch die ungerathene Tochter in einem solchen Falle von dem mit Recht erbosten Vater auf der Stelle ihr gehörig Theil bekommen, noch ehe demselben zum klaren Bewußtsein gekommen wäre, welches Unheil er in seinem Jähzorn angerichtet hatte. Daß aber das fast noch im Kindesalter stehende Mädchen nach einer so erschütternden Szene ruhig nach Hause gegangen sein und mit seinem vielleicht einige Augenblicke später eintreffende Vater ganz unbefangen Abendbrod gegessen haben sollte, ohne daß die übrigen Familienmitglieder und Hausgenossen – und Hoffmann hatte einen sehr starken Hausstand – in ihrem Benehmen auch nur das Geringste bemerkten, - diese Annahme ist ein geradezu ungeheuerliches Attentat auf den gesunden Menschenverstand.

Mit dem Motiv: Todtschlag in Folge beleidigter Familienehre verträgt sich das Moment der nachträglichen scheußlichen Zerstückelung der Leiche überhaupt nicht. Wenn Hoffmann wirklich den Winter in der gedachten Weise getödtet hätte, dann gab es für ihn nach geschehender That nur zweierlei: Entweder er stellte sich unter wahrheitsgemäßer Darstellung des Sachverhalts sofort den Behörden oder aber die ihm soeben von seiner Tochter zugefügte Schmach hatte ihn so schwer getroffen, daß er das nun unvermeidliches Breittreten der Affaire in der Oeffentlichtkeit nicht überleben zu können vermeinte, dann bot der nahe See oder das zur That benutzte Messer für ihn den bequemsten Ausweg. So hätte er nicht blos als Ehrenmann handeln müssen, sondern so hätte er auch zweifellos gehandelt, wenn anders nicht sein ganzes bisheriges Leben eine einzige große Lüge war. Daß das Letztere aber nicht der Fall war, dafür liefert wohl die fanatische Parteinahme der Bevölkerung für den Beschuldigten den besten Beweis.

In den Konitzer Unruhen steckte gewiß ein gut Theil Mache, aber die Tumultszenen vom 29. Mai waren sicher keine Mache; sie waren vielmehr der elementare Ausbruch des Volksunwillens über das Vergehen der Behörden gegen einen Mann, der sich bis dahin allgemeinster Achtung erfreute. Das hätte den betreffenden Beamten zu denken geben sollen. Die nur scheinbaren Biedermannsexistenzen pflegen solchen Schicksalsstürmen, wie es die hier erhobenen Beschuldigungen waren, nicht zu widerstehen. Ihre durch jahrlange äußere Heuchelei aller Art erworbene Reputation pflegt bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich schmählich in die Brüche zu gehen. Wenn in solchen Fällen der ganze Freundes- und Bekanntenkreis einmüthig zu dem Angeschuldigten steht, dann ist das wohl immer ein Beweis dafür, daß seine Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit eine starke solide Unterlage hat. Wirkliche Rechtschaffenheit |[37] setzt aber stets gesundes sittliches Empfinden voraus, und mit einem solchen Empfinden ist die scheußliche Zerstückelung der Leiche unmöglich in Einklang zu bringen. Selbst wenn seine Moral die denkbar hausbackenste Alltagsmoral war; selbst wenn ihm in entscheidenden Augenblick die sittliche Kraft gefehlt hätte, einen der beiden angedeuteten Wege zu gehen; selbst dann konnte ein Mann wie Hoffmann doch noch nicht auf einen so grässlichen Ausweg gerathen; selbst dann hätte es für ihn noch näher gelegen, die Leiche irgendwo in der dunklen Rähmestraße einfach liegen zu lassen.

Das sind zweifellos alles Argumente, die sich nicht so ohne Weiteres von der Hand weisen lassen. Wenn die maßgebenden Behörden in Konitz trotzdem dazu gekommen sind, das förmliche Strafverfahren gegen Hoffmann einzuleiten, so beweist das meines Erachtens nur, welche ungeheure Bedeutung man dem Umstand beigelegt hat, daß Hoffmann Schlächter von Beruf war, und daß sich sein Grundstück in nächster Nähe der Fundstelle des Rumpfes befand. Da darf man sich dann freilich auch nicht wundern, wenn nun umgekehrt die antisemitische Bevölkerung so hartnäckig an den Schlächter Levy als muthmaßlichen Thäter festhielt; denn wen die Zugehörigkeit zum Schlächtergewerbe und die günstige Grundstückslage allein schon stichhaltige schwere Verdachtsgründe darstellen, dann ist sicher der Verdacht gegen Levy und seine Söhne ganz ebenso berechtigt wie der gegen Hoffmann und seinen Gesellen Welke.

In Wahrheit ist ja auch Levy nur deshalb von der antisemitischen Partei als Gegenkandidat Hoffmanns auf den Schild erhoben worden, weil diese beiden angeblichen Hauptbelastungsmomente auf ihn ganz ebenso zutrafen wie auf jenen. Später hat man dann allerdings, ganz wie bei Hoffmann, auch bei ihm noch allerlei verdächtige Nebenumstände aufgestöbert, um dadurch vor der eigenen Vernunft die dürftige Unterlage des ganzen Verdachtes ein wenig zu verdecken. Man wird gut thun, sich das immer vor Augen zu halten, namentlich in Bezug auf das wahnsinnige Maßloffsche Geflunker. Der Verdacht gegen Levy ist thatsächlich nicht erst in Folge dieser Bekundungen entstanden, sondern umgekehrt, diese Bekundungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach erst die Folge des bereits durch die angedeuteten Ursachen gegen Levy wachgerufenen Verdachts.

Ich kann mir hier wohl ein näheres Eingehen und Widerlegen des einzelnen nach und nach gegen Levy geltend gemachten Verdachtsgründe ersparen. Dieselben haben in mehreren Sensationsprozessen den Gegenstand tagelanger Erörterungen gebildet, und es wird noch zur Genüge bekannt sein, daß dabei nicht viel von ihnen übrig blieb. Nach dem in diesem Punkte völlig übereinstimmenden Gutachten aller Sachverständigen ist der Tod des Ernst Winter zweifellos bis spätestens 7 Uhr Abends eingetreten, und bis um |[38] diese Zeit – ja noch darüber hinaus – verfügen alle Mitglieder der Familie Levy über ganz dasselbe einwandsfreie Alibi wie Hoffmann. Ueber diese Thatsache kommt man nun einmal nicht hinweg.

Der Streit, der so viel Staub aufgewirbelt hat, ob Levy oder Hoffmann der Mörder des unglücklichen Winter sei, läßt sich also mit absoluter Sicherheit dahin beantworten, daß es eben keiner von Beiden war. Ich für meine Person stehe jedenfalls keinen Augenblick an, den gegen mich selbst gerichteten Verdacht für durchaus nicht unbegründeter zu erklären, als den gegen Levy und Hoffmann.

Ich habe bereits erwähnt, daß neben Hoffmann und dem später aus gleichen Gründen in den Verdacht gerathenen Levy sich auch von Anfang an ein Verdacht gegen den Schneidermeister Otto Plath geltend machte, daß dieser Mann im Gegensatz zu Levy und Hoffmann, an deren Schuld in den maßgebenden Kreisen heute kein Mensch mehr glaubt, auch jetzt noch, wie ja der letzte Prozeß gegen die „Staatsbürger-Zeitung“ zur Evidenz beweist, nicht außer allem Verdacht steht. Denn das Non liquet, zu welchem einer der mit der Untersuchung betrauten Beamten in seinem vom Ministerium eingeforderten Bericht in Bezug auf einen der des Mordes Verdächtigten kam, bezog sich eben auf den Schneidermeister Plath. Wenn der Name Plath bei der öffentlichen Erörterung der Konitzer Vorgänge nicht so sehr in den Vordergrund getreten ist, wenn derselbe dem großen Publikum nicht so bekannt geworden ist, so findet das darin seine Erklärung, daß Plath eben nicht wie Levy und Hoffmann auf Grund der abenteuerlichsten und wahnwitzigsten Hypothesen und Kombinationen von den beiden sich dort erbittert in den Haaren liegenden Parteien als Mordkandidat irgendwie in Anspruch genommen wurde, sondern daß es ausschließlich kriminelle Erwägungen waren, die ihn der Mordthat im hohen Grade verdächtig erscheinen lassen.

Die Umstände, welche den Verdacht auf Plath gelenkt haben, sind in Kürze folgende:

Der Rumpf des Ermordeten wurde bekanntlich in einer Hülle von grauer Packleinwand und brauner Lederpappe aus dem Wasser gezogen. Die Packleinwand war signiert: H. W. 3742. Durch sofortige Nachfrage in der Güterabfertigungsstelle wurde festgestellt, daß der Schneidermeister Plath unter dieser Signatur vor einiger Zeit aus einer Tuchfabrik einen Ballen Lodenstoff bezogen hatte. Daraufhin wurde diese Packleinwand Plath vorgelegt und sofort von ihm als diejenige erkannt, in welcher er seiner Zeit den fraglichen Stoff erhalten hatte. Eine befriedigende Auskunft darüber, auf welchem Wege die Leinewand aus seinem Hause gekommen sein könnte, vermochte er nicht zu geben. Es wurde indessen festgestellt, daß seine alte, inzwischen verstorbene Aufwärterin von Zeit |[39] zu Zeit aufgesammelte Lumpenabfälle an die Schwester des Schlächtermeisters Levy zu verkaufen pflegte und dies auch noch im Februar gethan hatte. Ob sich aber dieses betreffende Stück Packleinewand überhaupt unter den angeblich zuletzt verkauften Lumpen befunden hat, konnte nicht festgestellt werden, da die Aufwärterin inzwischen leider verstorben war und die Levy den ganzen Kauf bestritt.

Da festgestellt wurde, daß der unverheirathete Plath, dessen Grundstück sich in der Gymnasialstraße unmittelbar neben dem des Bäckermeisters Lange (des Pensionsvaters des Ermordeten) befand, mit dem halb so alten Winter in auffällig regem Verkehr gestanden hatte, und daß Winter vorher die Absicht ausgesprochen hatte, seinen Freund an jenem kritischen Sonntage zu besuchen, so wurde bei Plath eine Haussuchung vorgenommen. Es wurden dabei neben einigen Resten verbrannten Tuches, einem Fetzen blutbefleckter Leinewand, der angeblich von einer früheren kleinen Wunde seines jüngeren Bruders herrühren sollte, auch Papier von genau derselben Art, wie es zur Umhüllung des Rumpfes gedient hatte, beschlagnahmt. Natürlich mußte Plath daraufhin genau seinen Verbleib an dem kritischen Tage nachweisen. Er that das und gab an, daß er von 1 ½ bis 4 ½ Uhr zunächst mit dem Lehrer Weichel einen Spaziergang gemacht und dann bis gegen 1 Uhr Nachts in verschiedenen Restaurants mit bekannten Herren zusammen gekneipt hätte. Die von ihm darüber benannten Zeugen bestätigten auch unter ihrem Eide die Wahrheit dieser Angaben.

Um nun zu verstehen, wie trotz dieses anscheinend schlüssigen Alibibeweises der Verdacht gegen Plath weiter bestehen konnte, muß man wissen, daß nach und nach im Laufe der Untersuchung doch verschiedene Momente zu Tage traten, die wohl geeignet waren, den Glauben an die absolute Zuverlässigkeit einiger der ihn stützenden Zeugenaussagen arg zu erschüttern. Gerade in Bezug auf die hauptsächlich für den Mord in Frage kommende Zeit von 1½ bis 4½ Uhr steht und fällt das Alibi des Plath mit der Aussage des Weichel. Nun ist aber bekanntlich Weichel später selbst auf Grund verschiedener, anderer Momente in den Verdacht der Thäterschaft gerathen; seine Plath entlastenden Aussagen können also schon aus diesem Grunde keine besondere Beweiskraft mehr beanspruchen. Abgesehen davon leiden aber auch die Angaben von Weichel und Plath über ihren Verbleib während der 3 Stunden an einer starken inneren Unwahrscheinlichkeit.

Weichel und Plath sind beide in Konitz stadtbekannte Leute und beide berühmte Kneipgenies. Daß diese Männer nun an jenem Sonntag Nachmittag – man denke daran, daß es Winter war – 3 Stunden lang ziel- und zwecklos durch die Straßen gewandert sein sollten, ohne jemals irgendwo einzukehren, ohne irgend einen Bekannten getroffen und begrüßt zu haben, das erscheint |[40] doch im höchsten Grade unwahrscheinlich. Sie waren sicherlich während der 3 Stunden nicht auf der Straße, sondern an irgend einem Ort, den zu nennen sie irgend welche Bedenken tragen. Welche Bedenken das sind, ist ja nebensächlich. Es braucht durchaus nicht Mordschuld zu sein. Die anfänglich unwahren Bekundungen eines in der Affaire mehrfach genannten jüdischen Kultusbeamten klärten sich ja schließlich auch in harmloser Weise dahin auf, daß er während der kritischen Zeit bei einer Prostituirten war. Jedenfalls tragen aber ihre bisher aufrecht erhaltenen Aussagen von dem damaligen dreistündigen Spaziergang den Stempel der Unwahrheit an der Stirn und bilden so lange einen schweren Verdachtsgrund gegen Beide, bis sie sich entschließen, über ihr wirkliches Thun und Treiben während dieser Zeit wahrheitsgemäße Angaben zu machen.

Natürlich muß man, ehe man diese Verdachtsgründe weiter spinnt, auch die Frage zu beantworten versuchen: Hat denn einer dieser beiden Männer überhaupt die zur Zerlegung der Leiche erforderliche anatomische Geschicklichkeit besessen.

Diese Frage beantwortete ich mit einem unbedingten Ja.

Nicht blos Einer besaß diese Geschicklichkeit, sondern wahrscheinlich alle Beide. Thatsache ist jedenfalls, daß der Schneider Plath 14 Tage vor dem Morde in einem geselligen Zirkel – allerdings, wie es scheint, in etwas angeheitertem Zustande – einen Vortrag über die anatomische Zerlegung eines menschlichen Körpers gehalten hat. Ob dieser Vortrag wissenschaftlich korrekt war oder nicht, oder ob Plath im Stande war, die von ihm an den Tag gelegten und zur Schau getragenen theoretischen Kenntnisse auch wirklich in die Praxis umzusetzen, thut zunächst nichts zur Sache. Der Umstand, daß er überhaupt einen solchen Vortrag halten konnte, beweist zum Mindesten, daß er sich innerlich sehr viel mit derartigen Problemen beschäftigt haben muß. Und das wiegt in diesem Falle schon sehr schwer. Ob er sich diese Kenntnisse als Autodidakt oder als Mitglied der freiwilligen Sanitätskolonne erworben hat, brauchen wir dabei garnicht zu untersuchen.

Bei Weichel ist ja die Antwort auf diese Frage schon insofern leichter zu geben, als er wie viele Lehrer gleichfalls im Sanitätsdienst der Armee ausgebildet worden ist. Bei seiner notorischen Intelligenz ist dabei sicherlich manches in Bezug auf Obduktion und Sezirung Wissenswerthe hängen geblieben. Daß ihm diese Dinge jedenfalls durchaus nicht unbekannt sind, beweist schon zur Genüge seine im Eifer der Rede einem der nach Konitz gesandten Beamten gegenüber gethane Aeußerung, daß der Bauchschnitt an der Winterschen Leiche um den Nabel herum geführt werden mußte, weil sonst das Messer ausgesprungen wäre. Wenn Weichel auch vielleicht derartig zerstückelte Leichen während seiner Dienstzeit im Garnisonslazareth zu Graudenz nicht zu sehen |[41] Gelegenheit hatte, so hat er dieselben auch unzweifelhaft in seinem Vaterhause kennen gelernt. Denn Weichel ist zur Zeit des Mordes die einzige Persönlichkeit in Konitz gewesen, die nachweislich die Leiche des seiner Zeit in Skurz bis auf den Fehlschnitt am Knie auf völlig gleiche Weise wie Winter ermordeten und zerstückelten Knaben Cybulla zu sehen Gelegenheit hatte. Die Leiche war, wenn ich nicht irre, nach der Auffindung direkt in das Haus seines Vaters gebracht worden, und die damals von dem Jüngling gemachten Beobachtungen in Bezug auf die Art der Zerstückelung müssen doch ziemlich fest gehaftet haben, wenn er 16 Jahre später auf die erste Kunde von dem Winter´schen Leichenfund sofort auf die frappante Aehnlichkeit der beider Mordthaten hinweisen konnte.

Meiner Ueberzeugung nach hat man gerade das letztere Moment in Konitz lange nicht nach Gebühr gewürdigt, weil man sich eben in den maßgebenden Kreisen noch immer nicht zu der Erkenntnis durchgerungen hat, welche bedeutsame Rolle gerade die Ansteckungsfähigkeit des Verbrechens selbst in Kriminal-Affairen manchmal spielt. Der Nachahmungstrieb irgend einer verbrecherisch veranlagten Persönlichkeit war vielleicht die treffendste Antwort auf die Frage nach dem Motiv der scheußlichen Zerstückelung.

Jedenfalls würde dieses Moment, meiner Ansicht nach, schon genügen, um den Verdacht gegen Weichel bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen. In Wahrheit ist aber der Verdacht gegen Weichel zunächst aus ganz anderen Quellen entsprungen. Was Weichel hauptsächlich in den Verdacht gebracht hat, der Ermordung des jungen Winter nicht ganz fern zu stehen, war vielmehr sein außerordentlich auffälliges Betragen nach dem Morde. Die Zusammenstellung der in dieser Beziehung bei ihm beobachteten Züge ergiebt zweifellos ein Gesammtbild von ziemlich erdrückender Schwere.

Als ich Anfang Mai 1900 in Konitz eintraf, war der Verdacht gegen ihn aus den angeführten Gründen jedenfalls schon im leisen Entstehen begriffen, denn ich wurde bereits von dritter Seite auf seine auffällig lebhafte Antheilnahme an meiner Person aufmerksam gemacht. Die Art, wie ich dann ein paar Tage später seine persönliche Bekanntschaft machte, war jedenfalls für ihn selbst wie für die damaligen Zustände in Konitz merkwürdig genug. Ich befand mich eines Tages in dem bekannten Zigarrengeschäft von Fischer, als mir Weichel nachkam in der offenbaren Absicht – denn als Nichtraucher hatte er ja in dem Geschäft sonst absolut nichts zu suchen – mich gründlich auf Herz und Nieren zu prüfen. Er erzählte mir unter Anderem, daß er persönlich lebhaften Antheil an der ganzen Affaire nehme und gern bereit sei, mich bei der Aufklärung derselben in jeder Beziehung mir Rath und That zu unterstützen. Ich bat ihn schließlich, mich mit seinem Freund Plath bekannt zu machen, eine Bitte, welche er auch ohne Zögern sofort erfüllte. |[42] Man muß diese ganz sonderbare Szene aus dem damaligen Milieu von Konitz heraus beurtheilen. Wir sogenannte Judenspitzel – und in diesen Ruf war auch ich unverschuldet gerathen – wurden von der fanatisirten antisemitischen Bevölkerung bis aufs Blut bekämpft – und nun kommt dieser Mann, einer der ärgsten Schreier in diesem Streit, und bietet mir nicht nur unaufgefordert seine thatkräftige Unterstützung an, sondern vermittelt auch sofort meine Bekanntschaft mit seinem selbst im Verdacht der Thäterschaft stehenden intimen Freund, obgleich er sich doch zweifellos sagen mußte, da ich als Privat-Detektiv wahrscheinlich nicht aus purem Wohlwollen für Plath dessen Bekanntschaft zu machen strebte.

Ich nahm nun Veranlassung, mich näher über die persönlichen Verhältnisse des Weichel, über sein Vorleben, über den Zweck der unmittelbar nach dem Morde nach Berlin unternommenen Reise etc. zu informiren. Durch die Tölpelhaftigkeit irgend einer der von mir nothgedrungener Weise in Vertrauen gezogenen Personen muß er wohl von meinen auf ihn selbst bezüglichen Recherchen Wind bekommen haben, denn als ich eines Tages im Restaurant Klawonn saß, kam er mir plötzlich nach und machte mir unter vier Augen die bittersten Vorwürfe darüber, daß ich ihn selbst im Verdacht habe, den Mord begangen zu haben. Ich suchte ihm das natürlich nach Kräften auszureden, was mir denn auch ziemlich schnell gelang. Weichel schlug ganz unvermittelt einen anderen Ton an und erklärte plötzlich, er wisse ganz bestimmt, daß in dieser Nacht (es war vom 22. zum 23. Mai, also vor der Beerdigung Winters) die noch vorhandenen Sachen Winters von den Mördern weggeschafft werden sollten. Er habe Zutrauen zu mir; er halte mich für einen tüchtigen Kriminalisten und wolle mir gern die mit der Ergreifung der Thäter verbundene Ehre und Belohnung zukommen lassen; er selbst wolle garnichts von dem Gelde haben, ich müsse mich aber auf der Stelle entschließen, da er sonst sofort zu dem Kriminalinspektor Braun gehen und dem die Sache mittheilen würde.

Natürlich verblüffte mich dieser sonderbare Vorschlag ins geheim nicht wenig. Ich nahm mich aber zusammen und ließ meine Verwunderung nicht merken. Ich deutete ihm nur an, daß die von ihm vorgeschlagene nächtliche Streife voraussichtlich wenig Zweck haben werde, da ja die sämmtlichen Kleidungsstücke des Ermordeten sicherlich längst von den Mördern verbrannt und vernichtet wären. Da platzte Weichel plötzlich im Eifer der Debatte mit der Aeußerung heraus: „Ach Gott bewahre! Das ist ja Unsinn! Die sind ja alle noch da!“

In dem Augenblick, als diese Worte fielen, wußte ich, daß wir klugen Köpfe mit all unserem Menschenwitz uns gründlich geirrt hatten, daß unsere Annahme, die Sachen seien noch in der |[43] Mordnacht gleich von den Thätern verbrannt worden, ein großer Irrthum war, daß die sämmtlichen Effekten des Ermordeten thatsächlich noch vorhanden waren, und daß der Mann, der da vor mir saß, ihr Versteck ganz genau kannte.

Ich kann ja hier leider nur die Worte des Weichel wiedergeben. Bei Worten macht aber bekanntlich erst der Ton die Musik, und der Ton läßt sich leider nicht vor Gericht stellen. Der Umstand aber, daß mich diese Aeußerung sofort aus einem Saulus zum Paulus machte, läßt doch wohl einen kleinen Rückschluß zu, auf den unwillkürlich und unbeabsichtigt überzeugenden Ton, in welchem diese Worte damals gesprochen worden sind. Wie alle Welt hatte auch ich bis zu jenem Tage fest geglaubt, daß die Sachen sofort von den Mördern vernichtet worden wären. Mit dieser Thatsache mußte man ja auch schließlich rechnen, selbst wenn die zahlreichen Zeugenaussagen über den wahrgenommenen Brandgeruch in der kritischen Zeit nicht gewesen wären. Auf den Gedanken, daß die Mörder die sämmtlichen Sachen sozusagen 10 Monate lang fein säuberlich in ihren Spinden aufbewahren würden, konnte eigentlich kein vernünftiger Mensch kommen. Von dem Augenblick an, wo mir aber Weichel jene Mitteilung machte, habe ich hartnäckig allen Beamten und allen Menschen gegenüber die Ansicht verfochten, daß die Sachen noch irgendwo wohlverwahrt vorhanden seien, und die Ereignisse haben mir jedenfalls glänzend Recht gegeben. In meinen Augen ist das ein schlagender Beweis dafür, daß der Eindruck, den ich von jener Aeußerung empfangen hatte, jedenfalls der richtige gewesen war.

Uebrigens ist es ja auch bei dieser einen Aufklärung Weichels in Bezug auf das Vorhandensein der Sachen mir gegenüber nicht geblieben.

Unsere Nachtwache an jenem Abend im Hoffmannschen Eisschuppen an der Spüle verlief nämlich, wie ich das ja vorausgesehen hätte, völlig ergebnislos. Und als ich nun am anderen Tage in ihn drang, mir doch zu sagen, worauf sich eigentlich seine feste Ueberzeugung von dem Vorhandensein der Sachen stütze, oder wer nach seiner Ansicht im Besitz derselben sei, da gab er zwar im Allgemeinen ausweichende Antworten, verharrte aber dabei, daß er ganz bestimmt wisse, daß die Sachen noch vorhanden seien. Er schlug mir sogar schließlich vor, sie nächtlicher Weile aus dem Hause, wo sie seiner Behauptung nach, verborgen gehalten wurden, mittelst Nachschlüssels gemeinsam mit ihm zu stehlen, und als ich ihn auf das Gefährliche eines solchen Unternehmens aufmerksam machte, als ich darauf hinwies, daß uns dieser Streich, wenn er sich schließlich irrte und sich die Sachen in dem betreffenden Hause nicht vorfänden, wir aber bei unserem nächtlichen Besuch in demselben vielleicht ertappt würden, leicht als ganz gewöhnlicher Einbruchsversuch ausgelegt werden könnte, und daß namentlich ich als |[44] verhaßter Judenspitzel in diesem Falle sicher sehr schlimm fahren würde, da versicherte er mit nochmals auf das Bestimmteste, daß er sich nicht irre, daß die Sachen noch alle vorhanden seien.

Ich habe selbstverständlich die Behörden von diesem ganzen Gerede des Weichel und namentlich von diesem seinen letzten Vorschlag sofort in Kenntnis gesetzt, obgleich ich den Letzteren selbst keinen Augenblick ernst genommen habe. Er ist auch zweifellos nicht ernst gemeint gewesen. Ich habe ihn von vornherein nur als eine ziemlich kläglich ausgefallene Verlegenheitsphrase betrachtet, mit der er sich mir gegenüber aus der durch seinen ersten Vorschlag geschaffene unangenehmen Situation mit einigem Anstand herauswinden wollte. Ich nehme nämlich an, daß Weichel bei seinem ersten Vorschlag in Wahrheit ganz andere Gedanken im Schilde führte, als die, mir hochherzig die ausgesetzte hohe Belohnung und die damit verbundene Ehre zuzuwenden. Entweder er wollte meine Willfährigkeit, ihm an irgend einen abgelegenen stillen Ort zu folgen, dazu benutzen, mich aus der Welt zu schaffen, weil er mich vielleicht bereits für gefährlicher hielt, als ich thatsächlich war, oder aber sein Komplize sollte thatsächlich in jener kritischen Nacht einen Theil der Sachen verschleppen, und er wollte mir vielleicht dadurch, daß er mit mir am entgegengesetzten Ende der Stadt den bösen Mördern auflauerte, die Ueberzeugung beibringen, wie bitter Unrecht ich ihm mit meinem Verdacht gethan hatte.

Eins von beiden ist sicher das Motiv seines Vorschlages gewesen. Denn das Verhalten Weichels an diesem Tage mir gegenüber war doch so sonderbar und auffällig gewesen, wie nur möglich.

Man überlege einmal:

Der Mann erfährt an jenem Tage von dritter Seite, daß ich ihn selbst im Verdacht habe, an jener Mordthat irgendwie betheiligt zu sein, und da kommt er auf jene Nachricht hin zu mir und macht mir den Vorschlag, mit ihm gemeinsam in der Nacht die Mörder zu fangen und Lohn und reiche Ehre einzuheimsen. So reagirt doch das Menschenherz gewiß nicht auf eine derartige Insinuation. Entweder er stellte sich, als ihm diese Nachricht wurde, auf den Standpunkt eines lachenden Philosophen und sagte: „Was der Kerl will ein Detektiv sein und den Mord hier aufdecken und hält mich für den Mörder? …. Ein Schafskopf ist das, aber kein Kriminalist!“ oder aber er machte den Standpunkt der fanatisirten Konitzer Bevölkerung zu dem seinen und schimpfte: „Was, so ein Judenspitzel will mich zum Mörder stempeln? …. Ih, den soll ja ….“ Die sonderbare Handlungsweise des Weichel mir gegenüber kann nur mit seinem bösen Gewissen wirklich befriedigend erklärt werden. |[45] Das Merkwürdige ist nun, daß sich auch mit Plath ein ganz ähnlicher Vorgang abgespielt hat.

Auf der Suche nach einem passenden Motiv für den Mord und in der Annahme, daß Plath der Thäter sei, war man bekanntlich dahin gelangt, den Letzteren als Urning anzusprechen, dessen Opfer Winter geworden sei. Diese Annahme läßt sich nicht ganz von der Hand weisen, denn das Sexualleben und das sexuelle Empfinden des Plath ist zweifellos kein ganz normales. Der Detektiv Schiller unternahm es nun in einer, nebenbei bemerkt, sehr täppischen Weise – über diesen Punkt Klarheit zu schaffen. Er wollte nämlich versuchen, mit Plath zusammen schlafen zu gehen, um bei dieser Gelegenheit festzustellen, ob derselbe wirklich ein sogenannter „warmer Bruder“ sei. Dieses Vorhaben des Schiller war dem Plath aber vorher von seinen guten Freunden und Bekannten hinterbracht worden. Trotzdem entblödete sich dieser nicht, den sich betrunken stellenden Schiller eines Tages mit in seine Wohnung und in sein Bett zu nehmen, um ihn so ad oculos zu demonstrieren, daß die in dieser Beziehung über ihn umlaufenden Gerüchte auf bloßem Gerede beruhten.

Also ganz dieselbe Sache wie bei mir und Weichel.

Jeder verständige Mensch wird mir zugeben, daß sich ein Mann mit reinem Gewissen derartigen Verdächtigungen gegenüber ganz anders benimmt. Entweder man lacht darüber, oder man haut dem Betreffenden kräftig eins hinter die Ohren, aber man legt sich nicht mit ihm ins Bett, um ihn so indirekt zu einem besseren Glauben zu bekehren. Man erreicht durch diese seltsamen Reinigungsprozeduren gewöhnlich das gerade Gegentheil von dem, was man damit erreichen wollte. Man macht sich dadurch erst recht verdächtig.

Die von Weichel hier befolgte Methode ist ja dem Kriminalisten durchaus nicht fremd. Die Kriminalgeschichte kennt Tausende von Fällen, wo man überhaupt erst durch den anfällig großen Eifer des betreffenden Verbrechers, den Behörden bei der Aufhellung der begangenen Unthat behilflich zu sein, auf die wirkliche Spur geführt wurde. Bei allen Kapitalverbrechen, soweit dieselben von Leuten mit ausschweifender, namentlich nach der Räuberromanseite hinneigenden Phantasie verübt sind, ist dieses Moment oder aber das Fingiren von an ihnen selbst verübten oder versuchten Verbrechen sogar ein charakteristisches Symptom für die Thäterschaft des Betreffenden!

Bei Weichel trifft nun Beides zu.

Er ist, anstatt den ihm bei seiner vorgesetzten Behörde wegen seines schmerzhaften Kehlkopfleidens bewilligten längeren Urlaub zu der ihm angerathenen Kur in einer Berliner Klinik zu benutzen, während dieser ganzen Zeit ruhig in Konitz geblieben und hat dort sozusagen den Hans Dampf in allen Gassen gespielt. |[46] „Vom Lehrer Weichel erfuhr ich“, „der Lehrer Weichel sagte mir eines Tages“, „der Lehrer Weichel theilte mir mit: ..“ Das sind in den Aussagen der mit der Untersuchung betrauten Beamten während der zahlreichen Prozeßverhandlungen ständig wiederkehrende Redewendungen. Selbst in Konitz, wo ja damals die ganze Bevölkerung ein bischen Kriminal-Kommissar spielte, ist der Eifer dieses Mannes besonders auffällig hervorgetreten. Und man sucht vergeblich nach einer plausiblen Erklärung dafür. Weichel war weder mit Winter selbst, noch mit dessen Eltern irgendwie bekannt oder befreundet; er hatte auch durchaus kein Berufsinteresse an der Sache. Er hatte auch kein ausgesprochenes Parteiinteresse, da er sich bald als Judenfreund, bald als Judenfeind, ein anderes Mal wieder ganz neutral gab. Man könnte vielleicht zu seinem Gunsten annehmen, daß ihn das Bestreben, mit der ausgesetzten hohen Belohnung seinen schlechten Finanzen ein wenig aufzuhelfen, dabei geleitet habe. Damit ist aber wieder sein Vorschlag an mich, mit ihm gemeinsam die Mörder abzufangen, nicht in Einklang zu bringen. Hätte er wirklich nur auf die Belohnung spekulirt, dann hätte er doch sicherlich nicht mich, sondern irgend einen Beamten für sein Vorhaben zu gewinnen versucht, denn diese waren ausdrücklich von der Belohnung ausgeschlossen, während er bei mir doch mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß ich schließlich einen Anspruch auf einen Theil der Belohnung erheben würde.

Sein nun einmal nicht wegzuleugnendes auffällig reges Interesse an dem jeweiligen Stand der Morduntersuchung muthet auf jeden Fall den unbefangenen Beobachter ganz seltsam an. Noch mehr ist das freilich der Fall bei dem angeblichen Einbruchsdiebstahl, dessen Opfer Weichel geworden sein will.

Unmittelbar nach der im Januar 1901 anläßlich der Kleiderfunde auch bei ihm stattgefundenen Haussuchung sprengte nämlich Weichel überall in der Stadt die Kunde aus, daß man bei seiner Abwesenheit in seiner Wohnung eingebrochen habe, und daß die Diebe bei dieser Gelegenheit ein möglicher Weise dem Ermordeten gehörendes Halstuch hätten liegen lassen. Als muthmaßliche Ursache des ganzen Diebstahls gab er nämlich an, daß die wirklichen Mörder, die Juden, ihm wahrscheinlich auf diese Weise irgend welche dem Winter gehörige Kleidungsstücke als wichtige Belastungsobjekte ins Haus hätten praktiziren wollen.

Meiner Ueberzeugung nach ist diese ganze Erzählung des Weichel freie Erfindung. Solchen märchenhaften Diebstahlsgeschichten, bei denen die Diebe nicht nur nichts stehlen, sondern im Gegentheil dem Betreffenden noch etwas in´s Haus schleppen, steht wohl jeder Kriminalist mit Fug und Recht sehr skeptisch gegenüber. Es handelt sich da zweifellos um ein von Weichel ziemlich ungeschickt fingirtes Verbrechen, für welches es angesichts der ganzen Sachlage eben nur eine Erklärung giebt. Weichel muß aus irgend |[47] einem Grunde Ursache gehabt haben zu der Befürchtung, daß die bei ihm Haussuchung haltenden Beamten doch am Ende irgend etwas könnten gefunden haben, was den Verdacht gegen ihn zu bestärken geeignet war, und da hat er eben vorbauen wollen. Dieser nachträgliche Einbruchsdiebstahl sollte ihm wahrscheinlich die Erklärung dafür liefern, auf welche Weise der fragliche, in die Hände der Beamten gefallene Gegenstand vielleicht in seinen Besitz gelangt sein könnte.

Dieser unvorsichtige Schachzug ist in meinen Augen thatsächlich eines der stärksten indirekten Belastungsmomente, die man sich nur denken kann. Es ist eine jener kopflosen Dummheiten, die man bei den allmählich in die Enge getriebenen Verbrechern häufig zu beobachten Gelegenheit hat. Etwas unbehaglich hat sich Weichel damals sicher gefühlt. Sein aufgeregtes Wesen ist allgemein aufgefallen und hat ja auch dazu geführt, daß sich während der Periode der Kleiderverschleppung resp. noch nachher ein förmliches, zum Theil aus strammen Antisemiten bestehendes Ueberwachungskomitee, gegen ihn gebildet hatte, das jeden seiner Schritte möglichst eingehend kontrollirte. Es sind ihm damals in Restaurants die Taschen seines Ueberziehers heimlich daraufhin durchsucht worden, ob sich nicht vielleicht ein Winter gehöriger Gegenstand darin befände; es ist ihm im betrunkenen Zustande ein Stehkragen, den man für den Kragen des Ermordeten hielt, heimlich aus der Tasche genommen und der Staatsanwaltschaft übergeben worden, und zwar von Leuten wie Dr. Arthur Müller und Referendar Laudon, deren sociale Stellung und oft genug bewiesene gut antisemitische Gesinnung – man denke daran, daß Dr. Müller es war, der der antisemitischen Partei den Inhalt jener vielbesprochnen amtlichen Schriftstücke durch einen Vertrauensbruch an seinem Vater in die Hände spielte – sie wohl hinlänglich gegen den Verdacht schützt, daß sie ohne Grund und Ursache gegen einen christlichen Lehrer in dieser Weise leichtfertig vorgegangen seien.

Das ganze Verhalten des Weichel nach dem Morde war eben ein so seltsames, daß schließlich auch in den Köpfen der Leute, die sich gewiß nicht leichten Herzens mit dem Gedanken befreundet haben, in einem Nicht-Juden den Mörder zu sehen, der Verdacht gegen ihn mehr und mehr Wurzel faßte. Bis zu welchem Grade sich auch in diesen Kreisen der Verdacht gegen Weichel schließlich verdichtet hat, beweist wohl am besten die Thatsache, daß der vielgenannte Herr Zimmer, der frühere Redakteur und Specialberichterstatter der Staatsbürger-Zeitung und damaliger Vertrauensmann des antisemitischen Aufklärungskomitee´s in Konitz in dem Prozeß gegen den unglücklichen Moritz Lewy unter seinem Eide unaufgefordert die Erklärung abgab: „Nach meiner Ueberzeugung muß der Lehrer Weichel um die That wissen.“

Diese beiden zuletzt erwähnten Thatsachen bilden eigentlich |[48] schon eine vollauf genügende Antwort auf die an und für sich vollkommen berechtigte Frage, ob denn dem Weichel überhaupt eine derartige That zuzutrauen sei. Ich meine, wenn gebildete, intelligente, durchaus nicht voreingenommene Leute, die Weichel schon lange Jahre vorher kennen, die stets mit ihm am Biertisch zusammengesessen haben, ihn der That für fähig halten, dann wird ihm dieselbe wohl auch zuzutrauen sein. Wenn man dem Schlächtermeister Hoffmann schon aus der harmlosen Aeußerung: „Anna, komm her! Und ihr Lümmels macht, daß ihr von der Ladenthür weg kommt!“ einen Strick hat drehen wollen, dann wird man doch wohl die notorische, nicht mehr bei Worten gebliebene Bedrohung seiner Frau mit Todtschlag auch bei Weichel als ein Belastungsmoment in diesem Sinne ansprechen dürfen.

Bei Plath kann man wohl die Frage, ob er einer solchen That überhaupt fähig ist, noch zuversichtlicher bejahen. Denn dem Plath ist ja eine dahingehende Beschuldigung von einem seiner langjährigen, intimsten Freunde, von einem Manne, dem er einst das Leben gerettet hat, der ihm also gewiß zu Dank verpflichtet war und der diese seine Dankesverpflichtung gegen Plath auch immer sehr lebhaft betont hat, nämlich von dem Journalisten Lurch ganz unzweideutig ins Gesicht geschleudert worden, und Plath hat diese Beschuldigung trotz der in Konitz herrschenden Epidemie der Beleidigungs-Klagen ruhig auf sich sitzen lassen – und das ist ein charakteristisches Zeichen.

Anfang September 1900, gerieten nämlich der genannte Lurch und Plath eines Tages in dem Lokal von Jeleniewski in angeheitertem Zustande wegen irgend einer harmlosen Ursache aneinander. Im Verlauf dieses Wortgefechtes schleuderte plötzlich Lurch in höchster Erregung Plath die Worte entgegen: „Wenn ich das schon damals (Lurch war einer der Alibizeugen Plath’s) gewußt hätte, dann hätte ich anders für dich ausgesagt. Aber ich werde jetzt dafür sorgen, daß noch einmal Haussuchung bei dir gehalten wird, und dann sollen sie schon die Blutflecke finden, die sie bis jetzt immer nicht gefunden haben!“

Diese jedenfalls mehr als auffällige Aeußerung des Lurch ist gerichtsnotorisch, denn sie bildet die Unterlage einer Privat-Beleidigungs-Klage, zu deren Anstrengung sich Plath schließlich doch auf ein sehr deutliches Entweder-Oder der Vereine, deren Mitglied er war, hatte entschließen müssen. Er nahm seinen Antrag aber noch vor Eintritt in die Verhandlung wieder zurück und söhnte sich mit Lurch aus, der wegen dieser Aeußerung, die Plath so gelassen aufnahm, von der darüber maßlos erregten Bürgerschaft fast gelyncht worden wäre.

Die angedrohte Haussuchung fand übrigens 2 Tage nach jenem Renkontre thatsächlich statt. Sie ergab das jedenfalls überraschende Resultat, daß sich in einem Raum des Plath’schen Hauses |[49] wirklich eine Wand vorfand, die über und über mit Blut – angeblich Hasenblut – bespritzt war, was aber bei den früheren Haussuchungen niemals bemerkt worden war, weil immer ein paar Anzüge an der fraglichen Wand gehangen hatten. Jedenfalls ein drastischer Beweis für die Sorgfalt, mit der in Konitz in dieser hochwichtigen Affaire die Haussuchungen jedesmal vorgenommen worden sind.

Solche kleinen Züge, wie die oben geschilderte Scene zwischen Lurch und Plath, sind doch gewiß äußerst bezeichnend. Wenn ein solcher Mann, der 20 Jahre hindurch der treueste Freund und Kneipkumpan des Plath gewesen war, der schon mehrere Jahre als Mieter in seinem Hause wohnte und in der Plath’schen Familie ein und aus ging, ihm in der Weinstimmung – die bekanntlich wohl ausplaudert aber nicht erfindet – eine so unerhört schwere Beschuldigung, die, wie ich zeigte, des realen Hintergrundes nicht ganz entbehrte, offen in's Gesicht schleudert; wenn er heimlich in allen Ecken und Winkeln das von ihm und Plath gemeinsam bewohnten Hauses nach etwaigen Spuren der That herumsucht und herumspionirt: dann beweist das doch zum mindestens zunächst, daß er ihm die That an und für sich sehr wohl zutraute, und es beweist ferner das er das dunkle, unbestimmte Gefühl haben mußte, daß trotz des beschworenen Alibi’s des Plath mit diesem irgend etwas an dem kritischen Sonntag nicht in Ordnung war.

Seine Aeußerung: „Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich damals anders für dich ausgesagt!“ läßt doch nur den Schluß zu, daß er sich inzwischen darüber klar geworden sein mußte, daß er damals seine Reinigungsaussage ein klein wenig günstiger für Plath gefärbt hatte, als er eigentlich vor seinem Gewissen verantworten konnte. Wenn man nun annimmt, daß er wahrscheinlich nicht der einzige war, dem das passirt ist, dann will doch der Alibibeweis des Plath überhaupt nicht mehr viel sagen.

Jedenfalls beweisen derartige Vorkommnisse – und darauf kommt es hier lediglich an – daß die sittlichen Qualifikationen des Weichel wie des Plath derartige sein müssen, daß ihnen selbst von ihren nächsten Freunden und Bekannten eine solche That zugetraut wird.

In Bezug auf zwei Punkte tappt allerdings der Verdacht gegen Weichel und Plath völlig im Dunkel. Das ist der Beweggrund der That und der Thatort selbst. Das Plathsche Grundstück liegt dicht am Markt im westlichen Theil der Stadt. Dagegen, daß hier der Mord verübt sein kann, spricht meiner Ansicht nach hauptsächlich die bereits von mir gebührend beleuchtete Schwierigkeit, mit dem schweren Packet des Rumpfes unangefochten und ungesehen die Danzigerstr. zu überschreiten. Weichel’s erste Wohnung war zwar noch näher an der Fundstelle gelegen als die Grundstücke von Hoffmann und Lewy, aber es hält trotzdem sehr schwer, |[50] die Möglichkeit, daß der Mord hier verübt sein könnte, einigermaßen plausible zu motitiviren.

Ebenso verhält es sich mit dem Beweggrund. Abenteuerliche Hypothesen und gewagte Kombinationen, wie solche bei dem Verdacht gegen Hoffmann und Lewy eine so große Rolle gespielt haben, lassen sich natürlich auch hier mit leichter Mühe in Hülle und Fülle geben, aber irgend eine Erklärung, die besonderen Anspruch auf irgend eine Wahrscheinlichkeit erheben könnte, läßt sich nicht recht finden. Man darf indessen bei der Beurhteilung der gegen Plath und Weichel vorliegenden Verdachtsgründe den absoluten Mangel an einer leidlich befriedigenden Antwort auf diese an und für sich durchaus berechtigte Frage auch nicht überschätzen. Eine solche Antwort kann vorläufig nach Lage der Sache immer nur eine Wahrscheinlichkeitsantwort sein, und wie wenig Werth gerade in der Konitzer Affaire die Wahrscheinlichkeitsrechnung bisher gehabt hat, beweist ja zur Genüge, die wider alle Berechnung so unglaublich spät nach dem Morde erfolgte planmäßige Verschleppung der Kleider.

Jedenfalls hat die nach allen Richtungen von den verschiedenen Seiten aus geführte Untersuchung gegen keinen Menschen ein solches Belastungsmaterial zu Tage gefördert wie gegen Weichel und Plath. Es sind ja im Laufe dieser Untersuchung unzählige Personen vorübergehend in den Verdacht der Thäterschaft gerathen, aber die sie anscheinend oder angeblich verdächtigenden Momente haben bei gewissenhafter Prüfung fast ausnahmslos eine harmlose Erklärung gefunden. Von den gegen Plath und Weichel sprechenden Belastungsmomenten ist aber bis heute auch nicht eines irgendwie wirklich entkräftet worden. Im Gegentheil! es sind ihrer nach und nach immer mehr geworden. Der Verdacht gegen beide Männer hat sich bisher thatsächlich immer in aufsteigender Linie bewegt. Ich habe mich bei meinen Ausführungen selbstverständlich nur auf die Aneinanderreihung notorischer Thatsachen beschränkt; wie viel Wahres außerdem an den verschiedenen in dieser Beziehung über sie umlaufenden dunklen Gerüchten ist, wage ich nicht zu entscheiden. Die von mir angeführten Thatsachen genügen aber meiner Ansicht nach vollkommen, um den Verdacht gegen Weichel und Plath bis zu einem gewissen Grade als berechtigt erscheinen zu lassen.

Plath und Weichel sind zweifellos aufgrund der hier angeführten Momente dringend verdächtig an der Ermordung des jungen Winter in irgend einer Weise betheiligt zu sein. Ich für meine Person scheue mich jedenfalls keinen Augenblick, mit dieser Einschränkung die im Eingange dieses Abschnittes gestellte Frage: „Wer war der Mörder?“ in diesem Sinne zu beanworten.

Fußnoten Bearbeiten

  1. Original:Augen.
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  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.