Enthüllungen zur Konitzer Mordaffaire/Irrungen und Wirrungen
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|[51] Nun wird man mir vielleicht einwenden: „Ja, wenn das alles so ist, wie hier behauptet wird, wie kommt es denn, daß die Behörden nicht schon längst das förmliche Verfahren gegen die beiden Verdächtigen in die Wege geleitet haben?“ Diese Frage, deren Berechtigung zu bestreiten ich leider nicht in der Lage bin, bringt uns nun auf das Kapitel der polizeilichen Irrungen und Wirrungen, das in der Konitzer Mordaffaire einen besonders breiten Raum einnimmt. Daß die Untersuchung des traurigen Falles amtlicherseits nicht immer so geführt worden ist, wie es im Interesse der Sache zu wünschen gewesen wäre, beweist am besten der unrühmliche Ausgang derselben. Es wäre thörichter Selbstbetrug, wollte man den schmählichen Mißerfolg der behördlichen Bemühungen, des Thäters habhaft zu werden, auf die von diesem bei der That und nachher an den Tag gelegte übergroße Vorsicht und Schlauheit zurückführen. Die alte Kriminalistenwahrheit, daß jeder Verbrecher einmal eine Dummheit macht, durch welche er sicht selbst ans Messer liefert, wird wohl nicht leicht eine augenscheinlichere Bestätigung finden, wie dort in Konitz. Die nachträgliche Verschleppung des Armes und der Kleider, die ungewöhnlich lange, sorgfältige Aufbewahrung der letzteren in einem doch sicher nur dem betreffenden Verbrecher zugänglichen Versteck waren zweifellos, vom Verbrecherstandpunkt aus betrachtet, ganz haarsträubende Dummheiten, von denen jede einzelne ihm leicht zum Verhängniß hätte werden können. Sie beweisen jedenfalls zu Genüge, daß der Thäter überhaupt kein überlegender, vorsichtig handelnder Mensch, sondern ein ganz dummdreister Patron ist, der sein bisheriges Entkommen wahrscheinlich weit weniger seiner Pfiffigkeit als den bei seiner Verfolgung amtlicherseits gemachten Fehlern verdankt. Daß die Behörden den Ernst der Situation nicht rechtzeitig erkannten, daß sie die Tragweite und Bedeutung des hier verübten Verbrechens von Anfang an viel zu sehr unterschätzten, das beweist am besten der eigenthümliche Wandlungsprozeß den die auf die Entdeckung der Mörder ausgesetzte Belohnung allmählich durchgemacht hat. Am 11. März verschwindet Winter. Am 13. wird das an ihm verübte Verbrechen durch Auffinden der ersten Leichentheile ruchbar. Am 15., nachdem die nachträgliche Verschleppung des |[52] Armes bereits deutlich gezeigt hat, daß man es hier mit einem ungewöhnlich frechen Verbrecher zu thun hat, entschließt man sich endlich blutenden Herzens dazu, wenigstens 100 Mark – sage und schreibe hundert Mark – für die Entdeckung der Mörder als Prämie auszusetzen. Am 21., als die That bereits von der Bevölkerung als Ritualmord bezeichnet wurde, als die Behörden also über den Ernst der Lage nicht mehr gut im Zweifel sein konnten, wurde diese horrende Belohnung auf 1000 Mark erhöht. Sie stieg dann unter dem Druck der Ereignisse nach und nach bis auf 6 700 Mark, bis dann am 27. April – also 14 Tage nach Auffindung des Kopfes – der große Blender, die 20 000 Mark, vom Ministerium des Innern für die Entdeckung der Thäter ausgelobt wurden. Man denke: 100 Mark Belohnung und zwar auch erst nach mehrtägigen Erwägungen als Prämie für die Aufhellung eines derartigen Verbrechens! Muß man da nicht vor Verwunderung die Hände über den Kopf zusammenschlagen? Diese sonderbare Bewerthung läßt eigentlich nur den Rückschluß zu, daß den leitenden Persönlichkeiten das Entsetztliche und Grausige dieses Mordes zunächst garnicht recht zum Bewußtsein gekommen ist. Es ist sofort, unmittelbar nach Auffindung der ersten Leichentheile von vielen Seiten auf die merkwürdige Uebereinstimmung des Skurzer mit dem Konitzer Morde hingewiesen worden. Dieser Hinweis hätte die betreffenden Beamten schon stutzig machen müssen. Sie hätten sich bei nur etwas aufmerksamer Beachtung der anläßlich dieser Mordthat von vornherein in der Konitzer Bürgerschaft herrschenden Stimmung sagen müssen, daß das vorliegende Verbrechen die Skurzer Affaire unseligen Angedenkens in jeder Beziehung leicht noch weit in den Schatten stellen konnte. Diese Erwägung hätte aber die maßgebenden Stellen von vornherein veranlassen müssen, alles aufzubieten, um wenigstens die Aufklärung dieses letzteren Falles mit allen Mitteln so schnell wie irgend möglich herbeizuführen. Von einem solchen besonders regen Eifer ist aber wahrhaftig nichts zu spüren gewesen. Der bereits von antisemitischer Seite so schwer gerügte Theaterbesuch des ersten Staatsanwalts und Bürgermeisters am Tage der Auffindung des Rumpfes; die erst nach einigen Tagen erfolgte Auslobung einer Prämie für die Ergreifung der Thäter; die wahrhaft lächerliche Bemessung dieser Belohnung u. s. w. sind sprechende Beweise dafür, daß die amtlichen Ermittelungen im ersten Stadium der Untersuchung jedenfalls in einem mehr als gemütlichen Tempo betrieben worden sind. Der Konitzer Gymnasiastenmord war auch ohne das Hineintragen der Judenhetze bereits eine kriminelle Sensation allerersten Ranges, die Behandlung, die ihm aber zunächst zutheil geworden ist, war die einer Bagatellsache siebten Grades. |[53] Das muß man sich stets vor Augen halten, wenn man den traurigen Ausgang dieser Untersuchung in allen Theilen recht verstehen will. Eine Blutthat ist gewöhnlich leicht aufzuklären, solange das vergossene Blut noch warm ist. Was aber in solchen Fällen in den ersten 24 Stunden versäumt ist, das läßt sich gewöhnlich in 24 Jahren nicht wieder gut machen. Die Schuld daran, daß die Aufklärung der mysteriösen Angelegenheit zunächst mit völlig unzureichenden Mitteln betrieben wurde, trägt wohl in erster Linie die in einem solchen Falle jedenfalls immer übel angebrachte kleinstädtische Sparsamkeit und Pfennigpfuchserei. Diese kurzsichtige, finanzielle Kirchthurm-Politik tritt ja auch für den Fernerstehenden in den ominösen „100 Mark Belohnung“ bereits klar und deutlich zu Tage. Wenn nun auch in Bezug auf diesen Punkt unter dem Druck der öffentlichen Meinung bei den maßgebenden Stellen späterhin eine etwas richtigere Auffassung bemerkbar wurde – die im Stillen betriebenen eigentlichen Ermittelungen und Recherchen haben bis zuletzt unter der schäbigsten Sparsamkeit zu leiden gehabt. Es klingt spaßhaft, aber es ist in Wahrheit traurig genug. In der Konitzer Morduntersuchung, die dem Staat und der Kommune schließlich Tausende und Abertausende gekostet hat, ist wegen lumpiger 30 oder 40 Pfennigen Reisespesen, die angeblich zu viel liquidirt waren, zwischen den zur Aufklärung dorthin entsandten Beamten und der zuständigen Stelle wochenlang ein reger Schriftwechsel hin und her gegangen. Während alle Welt wähnte, daß die nach Konitz gesandten Kriminal-Kommissare und Beamten dort nur so im Golde wühlten, haben dieselben in Wahrheit manchmal, um den ewigen Aerger mit den betreffenden Finanzgewaltigen von vornherein aus dem Wege zu gehen, kleine Auslagen für Porto etc. einfach aus ihrer Tasche von ihrem Tagegeld bezahlt. Und dieses Tagegeld war doch schon an und für sich so bemessen, daß sie wahre Rechenmeister sein mußten, um damit nothdürftig ihren standesgemäßen Unterhalt zu bestreiten. So erhielten beispielsweise die nach Konitz entsandten Kriminal-Schutzleute pro Tag 4 Mark Diäten. Wer das Gasthofsleben auch nur einigermaßen kennt, wird mir zugeben müssen, daß man sich schon sehr einschränken muß, um mit diesem Betrage in einer fremden Stadt nur den nackten Lebensunterhalt zu bestreiten. Für das doch im Interesse der Untersuchung liegende, ihre eigentliche Aufgabe bildende tagtägliche Herumhorchen in allen Kneipen bleibt dabei kein rother Pfennig übrig. Konnte oder wollte man ihnen aber diese Möglichkeit nicht gewähren, dann wäre es wirklich besser gewesen, man hätte die betreffenden Beamten überhaupt in Berlin gelassen. Daß dieselben mit den ihnen ausgesetzten Diäten – namentlich in einer den Behörden gegenüber so aufsässigen Bevölkerung – so |[54] gut wie zur Unthätigkeit gezwungen waren, stellte sich ja bald zur Evidenz heraus. Die der Konitzer Staatsanwaltschaft vorgetragene Bitte, das ihnen gewährte Tagegeld wenigstens auf 6 Mark zu erhöhen, wurde aber von derselben rundweg abgelehnt. Ein Beweis dafür, ein wie geringes Verständniß die damaligen Vertreter dieser Behörde der ganzen Sachlage entgegen brachten. Zum Kriegführen – auch zum Kriegführen gegen das Verbrecherthum – gehört eben Geld, und wenn man die mit den Ermittelungen betrauten Beamten so knapp hält, daß sie sich nicht getrauen, einmal irgendwo 10 Mark für eine diskrete Recherche auszugeben, dann darf man sich auch über den unbefriedigenden Ausgang der ganzen Untersuchung nicht mehr allzu sehr wundern. Es klingt unglaublich, ist aber Thatsache: in der ganzen Konitzer Morduntersuchung sind für die Vigilanz insgesammt nur 65 Mark liquidirt worden. Diese Summe wird von unseren großstädtischen Kriminal-Abtheilungen manchmal für Aufklärung von Diebstählen oder gleichwerthigen Fällen ausgegeben, von denen außer den Betheiligten kein Mensch etwas erfährt. In der Konitzer Mordaffaire, anläßlich derer sich die halbe Monarchie in zwei Lager spaltete, ist aber angeblich selbst die Höhe dieser Summe noch monirt worden. Hätte nicht das Hineintragen des politischen und religiösen Moments in die Affaire die Veranlassung gegeben, daß von den verschiedenen Interessengruppen schließlich eine ganze Anzahl genügend dotirter Privat-Rechercheure nach Konitz gesandt worden wären, die, ohne finanziell von der Gnade des betreffenden Beamten abhängig zu sein, ihm doch in strikter Verfolgung ihres Auftrages fortgesetzt über alle Vorkommnisse in der Stadt auf den Laufenden erhielten, dann hätte man wahrscheinlich auf den für jedes größere Kapitalverbrechen zum unentbehrlichen Nothbehelf gewordenen Vigilantendienst überhaupt verzichten müssen. Die Thätigkeit der meisten dieser Privat-Rechercheure ist späterhin vom grünen Tisch aus ziemlich hochmüthig und wegwerfend beurtheilt worden. Gewiß, ihre Doppelstellung als Rechercheure irgend einer Zeitung resp. Partei und freiwillige Helfershelfer der Behörden führte nothgedrungen mancherlei Uebelstände mit sich. Man darf aber doch darüber nicht vergessen, daß ein gut Theil Material, welches die Behörden in rührender Bescheidenheit als das Produkt amtlicher Ermittlungen bezeichneten, im Grunde von diesen Privatrechercheuren herstammte. Denn in Bezug auf die lokalen Verhältnisse und Ereignisse erwiesen sich die Letzteren jederzeit weit besser informirt als die hochmögenden Herrn vom grünen Tisch, die jedenfalls sehr weise gehandelt hätten, wenn sie bei der Entscheidung über die Frage, ob irgend eine neue auftauchende Wahrnehmung oder Bekundung der Wahrheit entspreche oder nicht, sich mehr auf diese Ermittelungen ver- |[55] lassen hätten, anstatt jedesmal gleich nach dem Hilfsmittel des Eides zu greifen. Denn der Eid, das war der Weg, auf welchem die in der Untersuchung thätigen richterlichen Beamten das Geld, welches den Polizeibeamten für ihre Arbeiten so kärglich zugemessen wurde, mit vollen Scheffeln aus den Fenstern warfen. „Soviel Meineide, wie in Konitz geschworen sind, soviel Meineide giebt es überhaupt nicht!“ Dieses lästerliche Spottwort war ja damals in aller Munde, und es sind ja auch unzählige tiefsinnige Betrachtungen in der deutschen Presse über die mutmaßlichen Ursachen dieser unheimlichen Meineid-Epidemie seinerzeit veröffentlicht worden. Den wirklichen Kern der Sache hat meines Wissens keine einzige auch nur gestreift. Nicht die entsetzlich vielen Meineide, die dort in Konitz notorisch geleistet sind, sondern die vielen Eide, die man höchst unnötiger und überflüssiger Weise um der nichtigsten Ursachen willen fortwährend gefordert hat: die sind es, die meiner Ansicht nach der Konitzer Affaire ihr ganz besonderes Gepräge verleihen. Unter den unzähligen, mit der Morduntersuchung im direkten Zusammenhang stehenden Meineidaffairen, von denen einige wie der Speisiger-, Maßloff- und Levyprozeß geradezu horrende Summen verschlungen haben, befindet sich auch nicht eine einzige, die sich nicht bei einigem Geschick der betreffenden richterlichen Beamten sehr wohl hätte vermeiden lassen. Denn alle die diesen Prozessen und Verfahren zu Grunde liegenden angeblichen Falscheide sind immer in einem der verschiedenen Ermittlungsverfahren oder einer Voruntersuchung geleistet worden. Und da empfiehlt es sich vielleicht doch, sich einmal ernsthaft die Frage vorzulegen: war es wirklich nötig, solche Elemente, wie Speisiger, Maßloff und Konsorten, deren Aussagen von vornherein den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen, die eben abgegebene Aussage sofort beschwören zu lassen? Die Strafprozeßordnung giebt zwar dem Richter das Recht, auch in der Voruntersuchung bereits den Eid von dem betreffenden Zeugen zu verlangen, wenn die Beeidigung als Mittel zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage erforderlich erscheint, aber die Pflicht, von diesem Recht unter allen Umständen Gebrauch zu machen, existirt doch nicht für ihn. Ein der gestellten Aufgabe auch nur einigermaßen gewachsener Untersuchungsrichter hätte sicherlich Mittel und Wege gefunden, um die Beeidigung derartiger wahnwitziger Aussagen zu vermeiden. Er hätte ganz bestimmt der erregten Stimmung der Bevölkerung bis zu einem bestimmten Grade Rechnung getragen. Er hätte gewußt, dass die üppigen Phantasiegebilde mancher Zeugen nicht so sehr auf deren Lügenhaftigkeit als vielmehr auf eine gewisse Autosuggestion zurückzuführen seien, und daß eben deshalb diese Zeugen weil sie sich einer direkten Unwahrheit gar nicht bewußt waren, auch |[56] unter dem geforderten Eide kein Jota ihrer einmal abgegebenen Aussage ändern würden. Er hätte diese mehr bedauernswerthen als verdammungswürdigen Geschöpfe sicher nicht in so leichtfertiger Weise in den Meineid hineingetrieben, wie es dort in Konitz leider so häufig geschehen ist. Und er hätte durch diese seine sorgfältige Umsicht nicht nur unzähligen Familien viel Herzeleid erspart, sondern er hätte vor allen Dingen auch die eigentliche Morduntersuchung dadurch vor dem Schicksal bewahrt, in dem Sumpf der immer stärker anschwellenden Nebenverfahren allmählich zu ersticken. Den Vorwurf, bei der Abnahme des Eides nicht immer die für eine so hochwichtige Affaire doppelt erforderliche Sorgfalt und Vorsicht an den Tag gelegt zu haben und durch das wüste Herumwirthschaften mit dem Eide den Respekt vor der Bedeutung und der Heiligkeit des Eides im Grunde genommen mehr verletzt zu haben als die Bevölkerung selbst, - diesen Vorwurf kann man den in der Konitzer Mordaffaire thätigen richterlichen Beamten nicht ersparen. Wenn der Eid in Konitz schließlich zum allgemeinen Gespött geworden ist, dann tragen meines Erachtens daran die Hauptschuld diejenigen, die immer bereit waren, bei dem geringfügigsten Anlaß die Eidesformel handwerksmäßig herunterleiern zu lassen. Aber immerhin! Wenn das in diesen Fällen beliebte Verfahren auch ganz ersichtlich eine schreckliche Versündigung gegen den Geist der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen bedeutet, - mit dem Buchstaben des Strafrechtes läßt es sich ja schließlich zur Noth noch rechtfertigen. Die Konitzer Justizbehörden haben sich aber schließlich auch im Laufe der Untersuchung einige Streiche geleistet, die den Schildbürgern alle Ehre gemacht hätten, und deren Bekanntwerden wahrscheinlich bei jedem Strafrechtslehrer wehmütige Betrachtungen über den entsetzlichen Rückgang der juristischen Bildung auslöst. Da ist zunächst der in verschiedenen Fällen (Matheus Meyer, Moritz Levy) dem Verdächtigen und seinen Angehörigen in aller Form zugeschobene Reinigungseid, ein vom modernen Strafrecht im Allgemeinen längst überwundener Standpunkt, der unter Anderem in Konitz zu der wunderlichen Erscheinung geführt hat, daß der vom Staatsanwalt unter dem Verdacht des wiederholten wissentlichen Meineides in Haft genommene Moritz Levy von demselben Staatsanwalt im Prozeß Maßloff als völlig glaubwürdiger Zeuge bezeichnet wurde. Da ist ferner das merkwürdige Verfahren gegen Hoffmann, das in einigen seiner Phasen wirklich den Gipfelpunkt strafprozessualischen Blödsinns bildet. Man überlege: Der Schlächtermeister Hoffmann erscheint dem nach Konitz gesandten Kriminal-Inspektor Braun dringend der That verdächtig. Er und seine Tochter werden von ihm einem mehrstündigen scharfen Kreuzverhör unterworfen, allerdings wieder |[57] freigelassen, da der Untersuchungsrichter die gegen Hoffmann ins Feld geführten Verdachtsgründe nicht für ausreichend erachtet, um daraufhin die Untersuchungshaft über ihn zu verhängen. Soweit hat der Fall durchaus nichts Bemerkenswerthes, denn derartige Meinungsverschiedenheiten zwischen Kriminal-Kommissar und Untersuchungsrichter kommen öfter vor. Aber nun der zweite Akt. Der Untersuchungsrichter lehnt zwar wegen mangelnder Beweise die Verhängung der Untersuchungshaft ab, eröffnet aber nichtsdestoweniger in aller Form die Voruntersuchung gegen Hoffmann. Sämmtliche Zeugen-Vorladungen tragen den Vermerk: „In der Strafsache gegen den Schlächtermeister Hoffmann wegen Todtschlag werden Sie u. s. w.“ Ist das nicht ein Stück aus dem Tollhaus? Daß sich Leute auf freiem Fuß befinden, gegen welche wegen irgend einer strafbaren Handlung die Untersuchung eingeleitet ist, kommt ja häufig genug vor. Aber dann handelt es sich doch regelmäßig um Delikte, bei denen weder Fluchtgefahr noch Kollusionsgefahr vorliegt. Daß aber ein des Mordes Verdächtiger während der gegen ihn in aller Form geführten Untersuchung auf freiem Fuß belassen wird, dürfte in der Kriminalgeschichte wohl ohne Beispiel dastehen. Allerdings hatte ja der Untersuchungsrichter die Untersuchung nicht gerade auf Mord, sondern nur auf Todtschlag geführt, aber gerade diese eigenmächtige Verdrehung des Thatbestandes zeigt vielleicht am besten, in wie sonderbarer Weise das ganze Verfahren überhaupt gehandhabt wurde. Daß nicht ein Mord, sondern nur ein Todtschlag vorlag, mag die persönliche Ueberzeugung des betreffenden Richters gewesen sein. Wie die Sachen aber vorläufig lagen, mußte doch wohl die ganze Untersuchung unbedingt auf Mord geführt werden. Den Geschworenrn konnte man es dann ruhig überlassen, welche Schuldfrage sie nach der Beweisaufnahme zu bejahen, für gut befanden. Der Umstand, daß man ihrem Urtheil in dieser bestimmenden Weise vorgriff, wirft jedenfalls ein merkwürdiges Licht auf die von Seiten der Behörden in diesem Verfahren beobachtete Objektivität. Uebrigens büßt die Belassung des Hoffmann auf freien Fuß auch dann noch nichts von ihrer Merkwürdigkeit ein, wenn man wirklich nur Todtschlag annimmt. Denn auch dann war die zu erwartende Strafe in Folge der gräßlichen Begleitumstände noch immer so hoch, dass auch die größte Bürgschaft, der klangvollste Name den Betreffenden nicht vor der Untersuchungshaft hätte bewahren dürfen, zumal hier, wo die Kollusionsgefahr schon an und für sich die denkbar größte war. Und an diese vermeintliche Kollusionsgefahr glaubte wohl Niemand mehr als der Untersuchungsrichter Dr. Zimmermann selbst, als er während der Dauer dieser sonderbaren Untersuchung die älteste Tochter des Hoffmann |[58] wegen angeblicher Zeugenbeeinflussungen in wenig chevaleresker Weise aus dem Gerichtsgebäude wies. Es ist einfach unmöglich, für dieses sonderbare Vorgehen des Konitzer Untersuchungsrichters eine auch nur einigermaßen plausible Erklärung zu finden. Man ist hier zu Lande nachgerade gewöhnt worden, daß unsere Justizorgane mit der Verhängung der Untersuchungshaft gewöhnlich sehr schnell bei der Hand sind, und es ist bekanntlich bei Mordfällen durchaus nichts Seltenes, daß die Polizei gleichzeitig ein Dutzend Personen – obgleich offenbar nur eine die That begangen haben kann - in Haft nimmt und in Haft behält, bis sie über ein sie anscheinend belastendes Moment befriedigende Aufklärung gegeben haben. Können sie das nicht, dann wandern sie gewöhnlich auch sofort in Untersuchungshaft, es sei denn, daß der gegen sie geltend gemachte Verdachtsgrund zu schwach ist, um daraufhin allein die Voruntersuchung gegen sie zu eröffnen. In diesem Falle wird der Betreffende natürlich ebenso wie der Schlächtermeister Hoffmann vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt; die etwa für nöthig erachteten weiteren Ermittelungen gegen ihn werden aber alsdann aus naheliegenden Gründen von der Behörde in der denkbar diskretesten Form angestellt. Daß der Richter in einem solchen Falle den Namen der Beschuldigten und die ihm zur Last gelegte Unthat offen in die Zeugen-Vorladungen schreiben läßt, dürfte wohl noch nicht vorgekommen sein. Es war eben ein Abderitenstreich, wie deren leider so viele im Laufe dieser Affaire in Konitz verübt worden sind. Als weiteren Beweis dafür, wie wenig die dortigen richterlichen Beamten die eigenthümlichen Verhältnisse übersahen, und wie sie nicht zur rechten Zeit das Richtige thaten, will ich hier aus meinen persönlichen Erfahrungen Folgendes berichten: Anfang Juli 1900 trat der vielgenannte Journalist Wienecke im Auftrage des antisemitischen Agitators Werner mit der vertraulichen Anfrage an mich heran, ob ich geneigt sei, gewisse Aktenstücke, die sich im Besitz des Werner befanden, darunter der vertrauliche Bericht des ersten Staatsanwalts an den Minister, das erste ärztliche Gutachten und Anderes, zu erwerben. Da mir an dem Besitz dieser Aktenstücke sehr wenig, an der Unschädlichmachung der antisemitischen Agitation aber sehr viel gelegen war, so setze ich die zuständigen Behörden sofort von diesem sonderbaren Anerbieten des Wienecke in Kenntniß mit dem Hinzufügen, daß es mir zweifellos nicht schwer fallen würde, bei Weiterführung der offenbar ganz ernst gemeinten Verhandlungen auch herauszubekommen, auf welche Weise denn Werner überhaupt in den Besitz dieses Aktenmaterials gelangt sei. Der Untersuchungsrichter Dr. Zimmermann erklärte mir aber auf meinen Vorschlag, ich solle mir keinen Bären aufbinden lassen, solche Aktenstücke, wie die mir zum Kauf angebotenen, existirten garnicht. |[59] Sie mußten aber doch wohl existirt haben, denn nachdem sich die Verhandlungen mit mir zerschlagen hatten, sind die betreffenden Schriftstücke von Werner wahrscheinlich an einige antisemitische Zeitungen verhökert worden, denn sie wurden kurz nachher von diesen sämmtlich veröffentlicht. Und nun geschah das Wunderbare: Zum Dank dafür, daß ich versucht hatte, die Behörden rechtzeitig in den Stand zu setzen, die unbefugte Publikation dieser Aktenstücke zu verhindern, wurde gegen mich das Strafverfahren wegen Beamtenbestechung und Hehlerei eingeleitet. Es wurde feierlich Haussuchung bei mir gehalten u. s. w. Der Fall ist bezeichnend für die geniale Art und Weise, in der die ganze Angelegenheit von den Konitzer Justizgewaltigen bearbeitet wurde. Was an jenem Tage, da ich dem Gericht die betreffende Mittheilung brachte, mit einigen Worten zu erledigen war, dafür mußten später ein Dutzend auswärtiger Gerichte und Polizeibehörden in Bewegung gesetzt werden, um die erforderlichen Zeugenvernehmungen und Haussuchungen durchzuführen. Aus dem einem, bei genügender Einsicht vielleicht nötig gewordenen Straf- oder Ermittelungsverfahren entwickelte sich später ein ganzer Klüngel von Straf- und Zeugnißzwangsverfahren. Wenn man die Avancementsverhältnisse für den juristischen Nachwuchs bewuster Weise hätte aufbessern wollen, man hätte nicht geschickter zu Werke gehen können, als es in Konitz fortwährend geschah. Diese Zeit- und Geldvergeudung betrachte ich übrigens immer noch als das kleinere Uebel. Weit bedenklicher erscheint mir dagegen schon die in diesem Vorfall sich dokumentirende Thatsache, daß hier eine wirklich in allen Einzelheiten zutreffende Mittheilung von dem betreffenden Beamten einfach achtlos in den Papierkorb geworfen wird, während doch oft genug auf das unsinnigste Gewäsch hin ganze Stöße von Akten vollgeschmiert worden sind. Die betreffende Meldung stand ja gewiß mit der eigentlichen Mordaffaire nur in einem sehr lockeren Zusammenhange, aber wer will nach einer derartigen Probe wohl noch die Garantie dafür übernehmen, daß werthvolle, sich direkt auf die Mordaffaire beziehende Nachrichten nicht hin und wieder ein ähnliches Schicksal gehabt haben? Daß die den dortigen Beamten so sehr nachgerühmte Prüfung auch der unsinnigsten Gerüchte nicht schließlich auf Kosten wirklich wichtiger Bekundungen und Wahrnehmungen erfolgt ist? Meine eigenen Erfahrungen in Bezug auf die noch vor Pfingsten 1900 persönlich dem Staatsanwalt und anderen Beamten übermittelten auffälligen Bekundungen des Weichel über das Noch-Vorhandensein der Kleider etc. lassen mir diese Annahme als im höchsten Grade wahrscheinlich erscheinen. Mag sein, dass man meine Mittheilungen an und für sich oder aber das denselben zu Grunde |[60] liegende Gerede des Weichel zunächst einfach als Flunkerei betrachtete, - in dem Augenblick aber, wo die längst vernichtet geglaubten Effekten des Ermordeten wider Erwarten doch noch auftauchten, da hätte man sich vorsichtigerweise die Frage vorlegen müssen, ob nicht die längst vorher gemachten Erzählungen über ihr Noch-Vorhandensein am Ende irgend einen realen Hintergrund hatten. Das Auftauchen der Kleidungsstücke bildet sicherlich eine der wichtigsten Episoden in der Konitzer Mord-Affaire. Ihr bestimmtes Vorherprophezeien kann daher vom kriminellen Standpunkt aus unmöglich als irrelevante Thatsache behandelt werden. Ich bin nun aber über die Unterlagen meiner damaligen Behauptungen bis heute nicht ein einziges Mal gerichtlich oder sonst wie vernommen worden, und ich kann diesen auffälligen Umstand nur damit erklären, daß die Beamten, denen ich seiner Zeit diese Mittheilungen gemacht habe, zur Zeit der Kleiderfunde sämmtlich nicht mehr in Konitz waren, die in jenen Tagen mit der Untersuchung betrauten Beamten aber von jenen Meldungen nichts wußten, weil sich ein Vermerk darüber überhaupt nicht bei den Akten befand. In den beiden hier angeführten Fällen kann man ja den Behörden klipp und klar den Nachweis liefern, daß sie die ihnen in bester Absicht übermittelten, zutreffenden und durchaus nicht ganz unerheblichen Nachrichten nicht mit der einer so sensationellen Affaire gegenüber erforderlichen Sorgfalt geprüft und behandelt haben. Wie oft im Uebrigen wichtige, vielleicht hochwichtige Mittheilungen, die ihnen aus der Mitte der Bevölkerung zugingen, von ihnen unbeachtet gelassen wurden, entzieht sich selbstverständlich jeder Kontrolle. Nach diesen Proben zu schließen, wird es jedenfalls oft genug vorgekommen sein. Denn es ist leider eine alte Erfahrungsthatsache, daß Zeugen, die wirklich Positives zu bekunden wissen, sich gewöhnlich schon in ihrem Gewissen beruhigt fühlen, wenn sie den ihnen bekannten Umstand der zuständigen Behörde in der schlichtesten Form mittheilen, sich aber nur selten darum kümmern, ob man dort ihrer Mittheilung irgend welchen Werth beilegt oder nicht, während umgekehrt gerade die unzuverlässigsten Zeugen ihren Phantasiegeweben unausgesetzt das lebhafteste Interesse widmen und dadurch, daß sie sich fortwährend dem Gericht in Erinnerung bringen, mit dazu beitragen, daß die wirklich werthvollen und brauchbaren Aussagen mehr und mehr in den Hintergrund geraten und nicht die nöthige Beachtung finden. Außerdem mag auch das eigenthümliche Vorgehen der Behörden selbst manchen davon abgehalten haben, eine vielleicht nicht unwesentliche Bekundung zu machen. Ich meine hier nicht das vielfach verbreitete Gerede von der angeblich barschen und schroffen Behandlung, welche den meisten sich meldenden Zeugen durch die betreffenden Beamten zu Theil geworden sein soll. In dieser Beziehung ist zweife los gewaltig übertrieben worden. Es ist gewiß |[61] nicht ganz zufällg, daß diese Behauptungen vornehmlich immer von den Zeugen verbreitet wurden, deren Aussagen von vornherein den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen. Daß den betreffenden Beamten beim Anhören dieser endlosen Phantasieaussagen manchmal der Geduldsfaden riß, wird wohl kein verständiger Mensch als besonders groben Fehler bezeichnen wollen. Was ich vielmehr meine, ist die Thatsache, daß amtlicherseits den Zeugenaussagen gegenüber nicht immer die nöthige Diskretion gewahrt wurde. In den öffentlichen Bekanntmachungen wurde ja freilich allen Zeugen stets die strengste Diskretion zugesichert. Wie es aber in Wahrheit mit diesem Versprechen gehalten wurde, beweist der Umstand, daß mehrere Gymnasiasten auf Grund ihrer vor der Polizeibehörde abgegebenen Aussage vom Schuldirektor disziplinarisch bestraft worden sind, und daß die vielgenannte Symanowski wegen ihres dem Kriminal-Kommissar Wehn gegenüber zugestandenen häufigen Geschlechtsverkehrs mit Gymnasiasten und anderen jungen Leuten von der Ortspolizei-Verwaltung sofort unter Sittenkontrolle gestellt wurde. Von diesem offiziellen Wortbruch gilt das Wort, das der geistvolle Fouquè seiner Zeit auf die Füsslirung des Herzogs von Enghien geprägt hat: „Das ist mehr wie ein Verbrechen, das ist eine Dummheit!“ Eine Dummheit, die wahrscheinlich unter Anderem mit die Schuld daran trägt, daß sich die beiden jugendlichen Begleiter des Winter an jenem kritischen Sonntag-Nachmittag durchaus nicht gemeldet haben, obgleich sie doch – wenn sich die betreffenden Zeugen nicht überhaupt irren – mit dem Morde selbst wahrscheinlich nicht das Mindeste zu thun haben. Gerade die Gymnasiasten und leichten gefälligen Schönen durfte man doch am allerwenigsten durch eine solche verkehrte Polzeimaßregel vor der Zeit kopfscheu machen. Man war auf ihre vertraulichen Mittheilungen geradezu angewiesen, wenn man hinter all die stillen Winkelchen kommen wollte, in denen die Konitzer Gymnasiasten von denen ihnen zur Zeit noch verbotenen Früchten naschten. Das auch Furcht vor Disziplinarstrafe erfolgte Verschweigen auch nur eines dieser Orte kann möglicherweise entscheidend für den Gang der ganzen Untersuchung gewesen sein. Diese bei den erwähnten Vorgängen gewiß nicht unberechtigte Furcht, durch eine wahrheitsgemäße freiwillige Aussage sich später vielleicht Unannehmlickeiten zuzuziehen, konnte auch durch die ausgesetzte hohe Belohnung nicht kompensirt werden. Denn diese Belohnung bildete nur dann ein wirksames Gegengewicht jener Scheu, wenn die betreffenden Mittheilungen auch von jugendlichen Laiengemüthern sofort als solche hätten erkannt werden können, die auf den Gang der Untersuchung von entscheidendem Einfluß waren. Das braucht aber, bei an und für sich richtigen, wichtigen |[62] Meldungen durchaus nicht immer der Fall zu sein. Wahrnehmungen, die der Betreffende selbst für ganz unerheblich hält, können den erfahrenen Kriminalisten unter Umständen auf die richtige Spur bringen. Die Möglichkeit, solche Wahrnehmungen immer gleich mitgetheilt zu erhalten, hat man sich aber zweifellos durch dieses unkluge Vorgehen, wenn nicht gänzlich verscherzt, so doch jedenfalls erheblich erschwert. Selbst wenn die höheren Beamten in Konitz – die ja für die hier gerügten verkehrten Maßnahmen direkt die Verantwortung trifft – auch den besten Willen gehabt hätten, den sich meldenden Zeugen gegenüber die versprochene strengste Diskretion zu bewahren, wäre es noch sehr zweifelhaft gewesen, ob sie überhaupt in der Lage waren, diese Absicht wirklich durchzuführen. Es ist eine nicht wegzudisputirende Thatsache, daß die zuständigen Behörden die unteren Organe während der Affaire überhaupt nicht mehr richtig in der Hand hatten. Die sämmtlichen Subaltern- und Unterbeamten der Justiz- und Polizeiverwaltung fraternisirten ganz offen mit der antisemitischen Bewegung und setzten den Anordnungen ihrer Vorgesetzten zwar keinen direkten offenen, dafür aber um so nachhaltigeren passiven Widerstand entgegen. Auf diesen Umstand ist wahrscheinlich nicht nur das regelmäßige verfrühte Bekanntwerden geplanter amtlicher Aktionen, sondern möglicherweise auch die Ergebnißlosigkeit mancher Haussuchungen zurückzuführen. Thatsache ist jedenfalls, daß, während die Haussuchungen bei den allgemein verhaßten Levys stets mit Rigorosität durchgeführt wurden, bei dem mindestens ebenso verdächtigen Plath in einer Weise Haussuchung gehalten wurde, daß sich derselbe späterhin öffentlich darüber lustig machte. Die mangelhaft betriebenen Haussuchungen haben bekanntlich in der Konitzer Affaire von jeher die Hauptbeschwerde der Bürgerschaft gegen die mit den Ermittelungen betrauten Beamten gebildet. Namentlich der Umstand, daß der sofort nach Bekanntwerden des Mordes aus der Mitte der Bürgerschaft heraus den Behörden unterbreitete Vorschlag unter Mitwirkung der freiwilligen Feuerwehr, Turnerschaft, Schützengilde etc. die in der Nähe des Fundortes der ersten Leichentheile belegenen Gebäude Haus für Haus einer gewissenhaften Durchsuchung zu unterziehen, von diesem garnicht weiter beachtet wurde, ist den dortigen Beamten späterhin stets zum schweren Vorwurf gemacht worden. Mit Unrecht! Welcher Beamte hätte denn wohl die Verantwortung für die unübersehbaren Folgen einer solchen gewagten Maßregel übernehmen mögen. Die mit diesem ehrenvollen Amt Bertrauten hätten sich zwar wahrscheinlich mit Feuereifer auf diese ihnen neue und ungewohnte Aufgabe gestürzt; was aber die mit einer solchen Haussuchung Bedachten dazu gesagt haben würden, wenn plötzlich ihre lieben Freunde und getreuen Nachbarn jeden |[63] Winkel in ihrer Wohnung durchschnüffelt hätten, um später viellleicht die bei dieser Gelegenheit gewonnene Kenntniß der intimsten Familienverhältnisse mit Behagen am Biertisch breit zu treten, das steht auf einem anderen Brett. Auch die Gefahr, daß man bei diesen Haussuchungen schließlich den Bock zum Gärtner machte und dem wirklichen Mörder vielleicht Gelegenheit gab, kompromittirende Gegenstände in das Haus einer ihm feindlichen Person zu schleppen und so den Verdacht auf die bequemste Weise von sich auf andere zu lenken, lag doch recht nahe. Denn eine Garantie dafür, daß der Mörder nicht schließlich Mitglied einer dieser Korporationen war, konnte gewiß Niemand übernehmen. Aber selbst, wenn man von diesen schlimmsten Eventualitäten noch absieht, - was hätte man denn auch im Grunde mit der Massenverwendung derartiger ungeschulter Hilfskräfte erreicht? Garnichts! Die aufgeregte Phantasie dieser Leute hätte immer nur Umschau gehalten nach einem schwarz drapirten, mit allerei kabbalistischen Zeichen geschmückten Ort, in dem man gleich bis an die Knöchel im Blut watete: für die wirklichen Feinheiten, auf die es bei einer Haussuchung ankommt, hätten dieselben sicherlich kein Auge gehabt. Richtig Haussuchungen halten, ist nämlich auch eine Kunst, die mancher nie lernt. Das hat gerade Konitz zur Genüge bewiesen. Meiner Ansicht nach war es schon ein Fehler, daß man die Haussuchung in der ersten Zeit fast ausschließlich von den mit der halben Stadt – wenn auch nur vom Biertisch her – versippten und verschwägerten Ortspolizei ausführen ließ. Ja, ich halte es noch für einen Fehler, daß man später, als Massenhaussuchungen für nothwendig erachtet wurden, zu diesem Zweck Kriminalbeamte aus Berlin und Danzig verschrieb, anstatt dafür den zweifellos für eine solche Aufgabe weit besser qualifizirten Gensdarmen zu verwenden. Denn der Gensdarm giebt gewöhnlich in Bezug auf allgemeine kriminelle Erfahrung dem großstädtischen Kriminal-Schutzmann nicht nur im Durchschnitt ein paar Points vor, - er kennt auch die kleinstädtische Bauart, die den ländlichen Gebäuden eignen unzähligen Winkelchen und Verstecke von vornherein weit besser als dieser. Alles Umstände, die bei der Lösung einer solchen Aufgabe schwer in die Wagschale fallen. Nebenbei bemerkt, wäre auch wohl die für diese Massenhaussuchungen benöthigte Anzahl Gensdarmen aus den umliegenden Kreisen und Ortschaften, weit schneller zur Stelle zu schaffen gewesen, als das bei den Berliner Kriminalbeamten leider der Fall war. Denn die nöthigen Verhandlungen mit dem Berliner und Danziger Polizei-Präsidium wegen Entsendung der betreffenden Beamten nahmen natürlich bei der bekannten bureaukratischen Schwerfälligkeit unserer Behörden ziemlich viel Zeit in Anspruch, sodaß die geforderten Beamten erst in Konitz eintrafen und mit den Haussuchungen |[64] beginnen konnten, als die Mörder glücklich das letzte Kleidungsstück des Ermordeten fortgeschafft hatten. Diese fürchterliche Zeitvergeudung tritt uns bei dieser Affaire, bei der natürlich, wie bei fast allen Kriminal-Affairen, schnelles Handeln die erste Vorbedingung des Erfolges war, auf Schritt und Tritt entgegen. Für die Bearbeitung der traurigen Affaire war offenbar von Anfang an amtlicherseits die Parole ausgegeben worden: „Nur ja keine Ueberstürzung!“ Und diese Parole ist nicht nur von den Konitzer Lokalbehörden, sondern auch von den Berliner Centralstellen stets mit rührender Gewissenhaftigkeit befolgt worden. Gleich nach Auffinden der ersten Leichentheile wurde von der Konitzer Ortspolizei in Berlin um Entsendung eines geschulten Beamten gebeten. Diesem Gesuch konnte aber zunächst nicht entsprochen werden, weil vorläufig kein Kriminal-Kommissar dafür disponibel war. Erst am 27. März konnte Kriminal-Kommissar Wehn in Konitz mit den Ermittelungen beginnen. Man denke: in unserem vielgerühmten Polizeistaat dauert es rund 14 Tage, ehe für die Aufklärung einer solchen Mordthat, die doch auch ohne politischen Beigeschmack bereits eine Sensations-Affaire ersten Ranges geworden war, ein besonders geschulter Beamter verfügbar wird. Das sind doch wirklich jammervolle Zustände. Und als man dann endlich der Bitte entsprach, da schickte man wieder aufs Gradewohl den Ersten – Besten, ohne lange zu fragen, ob er sich für die ihm dort gestellte besonders schwierige Aufgabe eignete oder nicht. Das soll für den Kriminal-Kommissar Wehn durchaus kein Vorwurf sein, denn gerade an der Thätigkeit dieses Beamten wird wohl die unbefangene Kritik sehr wenig auszusetzen haben. Aber seine Berufung nach Konitz war sicherlich mehr ein Zufall als eine Folge sorgfältiger Erwägungen von Seiten der maßgebenden Stellen, wie sie der Ernst der Situation erfordert hätte. Als Wehn nach Konitz geschickt wurde, war die unselige Blutthat bereits in aller Form zum Ritualmord gestempelt worden. Und da muß man sich doch verwundert fragen: warum in aller Welt ist nicht gleich nach Bekanntwerden dieser Thatsache ein Beamter dorthin geschickt worden, der in der Bearbeitung einer solchen Affaire bereits eine gewisse Erfahrung besaß? Warum ist beispielsweise nicht der Kriminal-Inspektor Höft gleich mit den Ermittelungen betraut worden? Höft besitzt nicht nur als alter erfahrener Kriminalist einen ausgezeichneten Ruf, er kannte nicht nur von Skurz her bereits die eigenartigen Begleiterscheinungen einer solchen Affaire aufs Beste: er war vor allen Dingen auch ein Konitzer Kind, dem es zweifellos weit besser als jedem Anderen gelungen wäre, allerlei werthvolle Beziehungen zu den verschiedenen Schichten der Bürgerschaft herzustellen. |[65] Es ist ja möglich, daß das mit Rücksicht auf die antisemitischen Angriffe, die gegen Höft, in Folge seiner Sturzer Thätigkeit, zweifellos sofort erfolgt wären, absichtlich unterblieben ist, obwohl man sich bei einiger Ueberlegung sagen mußte, daß solche Angriffe, angesichts der ganzen Sachlage, früher oder später ja doch von der einen oder anderen Partei gegen den betreffenden Beamten erfolgen mußten. Diese zarte Rücksichtnahme auf parteiisches Vorurtheil läßt sich leider in dem Konitzer Fall noch recht häufig konstatiren. Es ist einfach ein Widersinn ohne Gleichen, wenn von offiziöser Seite immer wieder betheuert wird, daß alle in der Konitzer Affaire thätigen Beamten im vollsten Maße ihre Schuldigkeit gethan hätten, wenn sie von Seiten ihrer vorgesetzten Behörde fortwährend strafversetzt und mitten aus ihrer dortigen Thätigkeit abberufen werden, denn diese Abberufungen bildeten ja gewissermaßen die indirekte offizielle Bestätigung des von antisemitischer Seite gegen die betreffenden Beamten erhobenen Vorwurfs der mangelden Befähigung. Mochte auch die Bevölkerung in Folge der maßlosen Verhetzung wirklich kein rechtes Vertrauen mehr in die kriminellen Fähigkeiten der dort thätigen Beamten setzen – die maßgebenden Behörden mußten es doch besser wissen: sie durften unter keinen Umständen einen Beamten wieder von seinem Posten abberufen, nur weil er der zur Zeit, dort allmächtigen Partei nicht genehm war, gleich viel ob seine Thätigkeit daselbst Erfolg versprach oder nicht. Dieser fortwährende Beamtenwechsel hat gleichfalls redlich das Seine dazu beigetragen, daß die Untersuchung nicht vom Fleck kam. Wie konnte sie auch? Für diese die Volksleidenschaften bis aufs Tiefste aufwühlende Affaire war die nur durch längeres Verweilen am Orte zu erlangende intimste Kenntniß der lokalen Verhältnisse ein unentbehrliches Requisit des Erfolges. Wie sollten sich aber Leute diese Kenntniß verschaffen, die kaum, daß sie am Schauplatz ihrer neuen Thätigkeit angekommen waren und sich nothdürftig mit dem derzeitigen Stande der Ermittelungen vertraut gemacht hatten, schon wieder ihre Abberufung erhielten. Fünf Berliner Kriminal-Kommissare, drei städtische Polizei-Kommissare, zwei Untersuchungsrichter und zwei erste Staatsanwälte im Laufe eines Jahres! Diese Zahlen führen in der Beziehung eine deutliche Sprache. Einige dieser Versetzungen sollen ja allerdings schon vor dem Morde beschlossene Sache gewesen sein, aber eben der Umstand, daß man sie unter diesen Verhältnissen nicht wieder rückgängig machte, zeigt zur Genüge, wie wenig der bureaukratische Unverstand geneigt war, der inzwischen total veränderten Situation irgendwelche Konzessionen zu machen. Die Konitzer Mordthat war sicherlich ein weit aus dem Rahmen einer gewöhnlichen |[66] Kriminal-Affaire heraustretender Fall. Nie ist [sie] aber nichtsdestoweniger wie jede andere nach Schema F bearbeitet worden. Wie wenig die Behörden geneigt waren, die Konitzer Affaire von einer etwas höheren Warte anzusehen und zu behandeln, beweist ja am besten das viel gerügte Vorgehen gegen Hoffmann. Selbst wenn die gegen diesen ins Feld geführten Verdachtsmomente wirklich triftige gewesen wären, bleibt die Einleitung des öffentlichen Verfahrens gegen ihn noch immer eine den Verhältnissen wenig Rechnung tragende Unüberlegtheit. Das bisherige Verhalten des Hoffmann seit dem Morde namentlich seine Ueberwachung am Tage des Begräbnisses des Ermordeten hatte wohl zur Genüge gezeigt, daß an ein und freiwilliges Geständniß desselben nicht zu denken war. Seine etwaige Verurtheilung hätte also immer nur durch einen umfangreichen Indicienbeweis herbeigeführt werden können. Ob eine solche aber im Interesse des öffentlichen Friedens gelegen hätte, wäre wohl noch eine Frage. Denn die antisemitische Partei und namentlich die Staatsbürger-Zeitung hatten sich in dieser Affaire bereits viel zu weit vorgewagt, um nicht mit äußerster Hartnäckigkeit ihre in dieser Frage einmal eingenommene Stellung zu vertheidigen. Die Verurtheilung des Hoffmann – wie auch jedes anderen Menschen – in dieser bereits zum Mittelpunkt des Parteihaders gewordenen Affaire lediglich auf Indicienbeweise hin hätte sicherlich zu einer ähnlichen Bewegung wie im Dreyfußprozeß geführt. Unter solchen Umständen liegt es wohl im Interesse der Staastraison, lieber den vermeintlich Schuldigen frei ausgehen zu lassen, als ihn zu verurtheilen auf Grund von Argumenten, die der böswilligen Ignoranz irgendwelche Gelegenheit giebt, ernsthafte Zweifel an der Schlüssigkeit des beigebrachten Beweismaterials zu äußern. Bei der Dürftigkeit der gegen Hoffmann vorliegenden Verdachtsmomente war aber auch unter normalen Verhältnissen an eine Verurtheilung desselben garnicht zu denken. Das ganze Verfahren gegen ihn war also nichts weiter, als eine – milde ausgedrückt – höchst überflüssige Provokation der bereits aufs Höchste erregten Bevölkerung. Dieselbe wäre sicher unterblieben, wenn die Herren am grünen Tisch geneigt gewesen wären, der Eigenart der ganzen Affaire auch nur das geringste Zugeständniß zu machen. Aber der leidige Juristendünkel unserer Tage, der immer eine besondere Ehre darin zu suchen scheint, sich regelmäßig und überall mit den Forderungen des gesunden Menschenverstandes in Widerspruch zu setzen, hat sich eben auch in Konitz in der herrlichsten Weise offenbart. Das Schreibwerk, daß für viele Leute ja allerdings den Maßstab für die Güte der gelieferten Arbeit bildet – stand in schönster Blüthe. Es wurden um der nichtigsten Ursachen willen ganze Berge von Akten vollgeschrieben, obwohl das wirkliche Resultat der bisherigen amtlichen Ermittelungen bequem auf einer |[67] Postkarte Platz hat. Es fanden unzählige Konferenzen in der traurigen Angelegenheit statt, aber wenn die Herren auseinander gingen, wußte gewöhnlich keiner von ihnen, wer denn eigentlich Koch und wer Kellermeister war, der Ressort-Partikularismus trieb wundersame Blüthen, und die Wahrheit des Sprichwortes: „Viele Köche verderben den Brei“ hat sich vielleicht nie glänzender offenbart als dort in Konitz. Zwischen dem grausigen Verbrechen in Konitz und seiner Sühne steht in erster Linie der berühmte grüne Tisch. Wenn auch durch das Hineintragen der Judenhetze und die dadurch hervorgerufene Mythenbildung die Eruirung des Thäters etwas erschwert wurde; unmöglich gemacht war sie dadurch noch nicht. Der Mörder hat – wie ich bereits gezeigt zu haben glaube – nach der That und wahrscheinlich auch bei der That Dummheiten über Dummheiten gemacht, und wenn es den Behörden trotzdem nicht gelungen ist, ihn zu ermitteln, so beweist das meines Erachtens, daß die von ihnen bei seiner Verfolgung gemachten Fehler eben noch größere waren. Die Schreibseligkeit und Schwerfälligkeit unserer Bureaukraten, der Mangel einer einheitlichen, zielbewußten, energischen Führung der Untersuchung trägt in erster Linie die Schuld daran, daß die Letztere schließlich ausgegangen ist, wie das Hornberger Schießen. Wenn es den Behörden nicht mehr gelingt, ein solches Verbrechen aufzuklären, wo der Mörder so viele Lebenszeichen und Handhaben zu seiner Ermittelung liefert, so beweist das eben, daß ihre Kampfmittel und Kampfmethoden gegen das Verbrecherthum ganz unzulängliche sind – altüberlieferte Paradetaktik, die jeder neuen und eigenartigen Erscheinung gegenüber sofort versagt. Die Konitzer Mordthat schreit zum Himmel, aber weniger des vergossenen Blutes wegen, als wegen der dabei zu Tage getretenen kriminellen Uebelstände. * * *
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