Textdaten
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Autor: Heinrich Ehrlich
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Titel: Elisabeth Leisinger
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 389, 394
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[389]

Elisabeth Leisinger als Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“.
Nach einer Photographie von J. C. Schaarwächter in Berlin.

[394]

Elisabeth Leisinger.

(Mit Bildniß S. 389)


Die Kunst des „schönen Gesanges“, des durch Studium entwickelten Wohlklangs der Stimme, wird jetzt in viel geringerem Maße gepflegt als in vergangenen Jahren. Diese Erscheinung liegt tief begründet in der ganzen Lebensbewegung der Zeit, die sich im Bühnenleben wiederspiegelt. Energisches Vorwärtsdringen zum Ziele, Gleichgültigkeit, selbst Rücksichtslosigkeit gegenüber allem Herkömmlichen, Ueberlieferten, das vielleicht ein schnelles Erreichen des Zieles aufhalten könnte, kennzeichnet die meisten Bestrebungen auf allen Gebieten. Der Bühnengesang ist heute nicht mehr die reife Frucht langjähriger fleißiger und gründlicher Studien, sondern mit seltenen Ausnahmen das Ergebniß einer schnellen Ab- und Zurichtung natürlicher Anlagen. Die echte italienische Gesangsschule besteht nicht mehr – als ihre letzten Vertreter leben noch der uralte Lamperti (jetzt in Nizza) und die große 1821 geborene Viardot zu Paris; sie arbeitete fast ein Jahr lang nur auf Tonansatz hin, auf richtiges Athemholen, Ausgleichen der Stimmregister, also auf rein mechanische Entwickelung des Stimminstrumentes, bevor sie den Lernenden zu Solfeggien und Vortragsstudien übergehen ließ. Erst nachdem die Technik vollständig festgestellt war, erlaubte sie das Studium von Rollen.

Der italienische Lehrer, der heute dieses Verfahren anwenden wollte, fände sehr wenige, vielleicht gar keine Schüler. Wer in Italien eine gute Stimme hat, will nach höchstens anderthalb Jahren der Vorbereitung glänzende Rollen einüben, um an einem der vielen italienischen Theater, in Nord- oder Südamerika, Australien, Indien, wo eben nur das Stimmmaterial bezahlt wird, als „Primadonna“ oder „Primo uomo“ eine vortheilhafte Anstellung zu erlangen.

In Deutschland geht es nicht viel besser, nur wird dazu noch philosophirt. Viele Gesangsbeflissene sind der Ueberzeugung, daß für die Musikdramen Richard Wagners eine musikalische Schulbildung, „philisterhafte Dressur“, nicht nothwendig sei, nur eine klangreiche Stimme, Leidenschaftlichkeit, poetische „hochdramatische“ Auffassung; andere, welche nicht die Erfolge auf „hochdramatischem“ Felde allein anstreben, meinen, es komme vor allem drauf an, temperamentvolle Beweglichkeit zu entfalten, viele Partien zu studieren, um überall Verwendung zu finden.

Beide Ansichten sind sehr irrthümliche. Nur die richtige Schulung verleiht dem Sänger jene Oekonomie der Stimme, jene Berechnung, Vertheilung und Erhaltung der Kraft, welche ihn befähigt, selbst bei abnehmender Klangfülle, durch Vortrag, Tonfärbung, Deklamation in edlem Stil den Hörer in allen Partien zu fesseln. Ja noch mehr! Schulung und Studium allein entwickeln die Mannigfaltigkeit im Ausdruck der Empfindungen; sie lehren zu gleicher Zeit, in der höchsten Leidenschaft die Kraft zu zügeln, das Maß des Schönen zu wahren und andererseits das weniger Bedeutende durch den Vortrag künstlerisch zu heben. –

Alle diese Darlegungen sind durchaus nicht etwa dem Zwecke gewidmet, die vergangene Zeit als die so viel bessere erscheinen zu lassen, das viele Schöne und Großartige, was unsere Zeit gebracht hat, herabzusetzen. Denn an naiven Stillosigkeiten litt die „gute alte Zeit“ keinen Mangel. Dafür nur ein Beispiel: Franz Wild († 1860) war seinerzeit der berühmteste Tenorbariton. Im „Don Juan“, der damals überall mit den niedrigsten Posseneinlagen gegeben wurde, sagte er nach der Serenade: „Ach, sie hört mich noch nicht,“ und sang – – – „Flattre, flattre, kleiner Vogel“ von einem Modekomponisten jener Tage, und mit größtem Beifalle. Das geschah damals an der Wiener Hofoper, heute dürfte es kein Sänger in einer kleinen Provinzstadt wagen! Und dabei war Wilds Wiedergabe des Don Juan eine in manchen Scenen unerreichte! Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß gegenwärtig gar wenige Opernsänger und -sängerinnen in Verfolgung des richtigen Weges, durch immerwährendes Studium, die Technik der Stimme in der Weise zu vervollkommnen suchen, daß diese in der geistigen Wiedergabe der Rolle sich ganz frei entfalten kann und über alle Ausdrucksmittel verfügt. Zu den wenigen Künstlern, die diesen richtigen Weg verfolgt haben, gehört Elisabeth Leisinger.[WS 1]

Man kann wohl sagen, die Laufbahn der liebenswürdigen jungen Künstlerin war von einem günstigen Stern beschienen sogar in jenen Abschnitten, wo sie Schwierigkeiten überwinden, ja selbst Schmerzliches erdulden mußte. Sie ist die Tochter einer einst berühmten Sängerin, die als württembergische Kammersängerin Fräulein Wirst der Stolz der Stuttgarter Bühne gewesen war, aber nach ihrer Vermählung mit dem württembergischen Oberstabsarzte Dr. Leisinger der Oeffentlichkeit für immer entsagt, ja selbst eine Abneigung gegen das Theater gefaßt hatte. Mit Freuden bemerkte sie, daß die Tochter, ihr einziges Kind, von früher Jugend an großes Talent zur Musik zeigte; zugleich aber entdeckte sie mit Schrecken, daß das Mädchen ein immer stärkeres Verlangen nach der Bühne bekundete. All ihre Bemühungen, sie von dem Gedanken an eine Laufbahn als Opernsängerin abzubringen, blieben fruchtlos; selbst das Mittel, sie vom Theaterbesuche ganz fern zu halten, half nichts. Verwandte und Freunde des Hauses, die an des Mädchens schöner glockenreiner Stimme Freude hatten, suchten der Mutter Widerstand durch Ueberredung zu beseitigen; aber sie wollte nicht einmal die eigene Tochter in der Kunst unterweisen, in welcher sie selbst so Ausgezeichnetes geleistet hatte, und nur widerstrebend ließ sie sich das Zugeständniß abringen, daß Elisabeth bei der in Stuttgart lebenden vortrefflichen Gesanglehrerin Frau Müller-Berghaus Unterricht nehmen durfte. Und erst nachdem die Fortschritte der jungen Kunstbeflissenen die allgemeine Anerkennung der Musikverständigen gefunden, und nachdem die Kränklichkeit und das Verscheiden des Gatten eine Aenderung in den äußeren Verhältnissen herbeigeführt hatten, entschloß sich Frau Leisinger, dem Drängen und Bitten der Tochter nachzugeben, sie der Musik ganz zu widmen und zu Frau Viardot nach Paris zu führen; von dieser sollte sie die rechte künstlerische Weihe erhalten. Vom Sommer 1882 bis zum Herbste 1883 weilten die beiden in der Seinestadt, und Elisabeths künstlerische Entfaltung war eine um so raschere und vollkommenere, als die Mutter nunmehr allen Unterrichtsstunden beiwohnte und zu Hause die Studien der Tochter im Sinne der großen Lehrerin überwachte.

Nach Stuttgart zurückgekehrt, trat Elisabeth in zwei Konzerten an die Oeffentlichkeit mit einem so ganz entschiedenen Erfolge, daß ein auf der Suchreise befindlicher Theateragent aus Berlin sie sofort dem damaligen, seither verstorbenen königlichen Intendanten von Hülsen[WS 2] dringend empfahl. Dieser forderte sie zu einem Gastspiele auf. Am 28. März 1884 betrat Elisabeth Leisinger, damals zwanzigjährig, zum ersten Male eine Bühne, die der Berliner Hofoper, als Rosine in Rossinis „Barbier von Sevilla“. Während aber ihr Gesang sich gleich in der ersten Scene mit glänzender siegreicher Freiheit und Sicherheit bewegte, waren ihre Bewegungen und ihr Mienenspiel von einer Schüchternheit, daß die Regisseure die richtige Bemerkung aussprachen, das Fräulein müsse bisher das Theater sehr wenig oder gar nicht besucht haben, sonst wäre eine derartige Verschiedenheit in den Leistungen, so viel Sicherheit einerseits, so viel Unbeholfenheit andererseits, gar nicht erklärlich.

Das Publikum bereitete der jungen Anfängerin einen glänzenden Erfolg, einen noch glänzenderen in der zweiten Antrittsrolle, Mignon; die Kritik begrüßte sie einstimmig als eine in jeder Hinsicht ungemein sympathische Sängerin und hob hervor, daß die Glockenreinheit der Stimme nicht als eine rein mechanische erscheine, vielmehr als Ausdruck der Gemüths- und Gesangsfreudigkeit der Künstlerin. Die Intendanz verpflichtete den neuen Liebling der Berliner auf drei Jahre für die Hofbühne und verwendete ihn in neuen Rollen, immer mit bestem Erfolge.

Im Jahre 1886 während der Ferien ging Fräulein Leisinger nochmals zu ihrer Lehrerin Viardot nach Paris, um sich noch weiter zu vervollkommnen; und dort trat ein Zwischenfall ein, der ihr manche bittere Stunden verursachte, zuletzt aber die schönste Lösung fand. Frau Viardot wollte ihre deutsche Lieblingsschülerin den französischen Musikgrößen vorführen und ließ sie eines Vormittags in der Großen Oper die Arie der Königin aus den „Hugenotten“ singen. Die Direktoren und andere geladene Gäste waren entzückt von der schönen Stimme, der ausgezeichneten Meisterschaft und dem sympathischen Aeußern der jungen blonden Deutschen und man bot ihr einen glänzenden Kontrakt an; und Fräulein Leisinger, die trotz aller Erfolge – nicht ganz mit Unrecht – sich von Herrn von Hülsen zurückgesetzt glaubte, und der die Pariser Freunde zu solchem Anerbieten Glück wünschten, ward geblendet und unterzeichnete den Kontrakt.

Am 14. September 1887 trat sie als „Margarethe“ in der Großen Oper auf und – wurde kalt aufgenommen. Es wäre ungerecht, wollte man gegen das Pariser Publikum den Vorwurf erheben, daß lediglich Hetzereien gegen die „Deutsche“ bei diesem Mißerfolge entscheidend gewesen waren. Nein, die einfachste, beiden Theilen nur zur Ehre gereichende Erklärung ist die, daß Elisabeth Leisinger eine rein deutsche Koloratursängerin ist, welche von den überlieferten Forderungen des französischen Publikums keinen Begriff hatte, und daß selbst die Direktoren der Großen Oper über dem Wohlgefallen am schönen Gesange der Künstlerin diese Forderungen vergessen hatten. Beweglichkeit, ausdrucksvolles Mienenspiel, reine deutliche Aussprache und Deklamation sind so ganz unumgängliche Vorbedingungen für jede Leistung in der Großen Oper, daß die berühmtesten Sängerinnen und Sänger der verflossenen Periode, Madame Miolän-Carvalho, Frau Vanderheuvel (Tochter und Schülerin von Duprez), Roger und Faure, erst in die Große Oper gelangten, nachdem sie sich in der Opéra comique[1], in der Spieloper, die beste französisch dramatische Vorbildung angeeignet hatten.

Es war der Künstlerin nicht schwer, ihren Pariser Kontrakt zu lösen; sie kehrte nach Berlin zurück und Kaiser Wilhelm I. gestattete sofort ihren Wiedereintritt in die Königliche Oper. Das Publikum bereitete ihr, als sie in der Rolle der Agathe im „Freischütz“ zagenden Herzens hervortrat, einen wahrhaft festlichen Empfang, der sie für alles Leid, das sie erduldet hatte, reichlich entschädigte. Seitdem ist sie in ununterbrochener Thätigkeit dort verblieben und in rund 45 verschiedenen Rollen aufgetreten. Ihre künstlerische Wesenheit tritt in voller nachhaltiger Wirksamkeit in den Partien hervor, welche neben vollendeter musikalischer Bildung wahren innerlichen Gemüthsausdruck verlangen: Agathe im „Freischütz“, Mignon, Elvira in „Don Juan“, Vielka im „Feldlager“, Eva in den „Meistersingern“, Desdemona in Verdis „Othello“. Aber auch lustig bewegten Rollen wie jener der Frau Fluth in den „Lustigen Weibern von Windsor“ versteht sie ausgezeichnet gerecht zu werden. Es giebt ja im Publikum Leute genug, auf welche ungebändigte Leidenschaftlichkeit den stärksten Eindruck macht, wieder andere, die selbst unkünstlerische Willkür bewundern, wenn diese nur mit jenen Bühneneffekten und dem Temperamente verbunden ist, das im gewöhnlichen Coulissenjargon „Theaterblut“ genannt wird. Aber alle wahren Freunde der Tonkunst, welche wohlthuende Reinheit der Stimme, musikalische Bildung und edlen, aller Effekthascherei fernstehenden Vortrag zu schätzen wissen, werden Elisabeth Leisinger immer als eine ausgezeichnete und sympathische Gesangskünstlerin verehren.

Heinrich Ehrlich.



  1. In der „Opéra comique“ werden nicht etwa nur komische Opern gegeben, sondern alle jene, in welchen Gespräche vorkommen, die von der „Académie“ (Große Oper) grundsätzlich ausgeschlossen sind. „Zauberflöte“, „Fidelio“, „Freischütz“, „Vampyr“ müßten in der „Opéra comique“ gegeben werden, wie denn auch der tragisch endende „Marco Spada“, „Fra Diavolo“, „Carmen“ daselbst vorgeführt worden sind.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe neben den biographischen Notizen zu Elisabeth Leisinger auch den Artikel über Max von Mülberger, ihrem späteren Ehemann.
  2. Botho von Hülsen