« 3. Stunde Wilhelm Eichhorn
Einsegnungsunterricht 1917
5. Stunde »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
4. Stunde
am Montag, den 8. Oktober vormittag.
Lied 265, 1-5, 7. Psalm 18, 1-20. Kollekte 223, 49.
Das ausgewählte Rüstzeug der Reformation der Kirche.
Von Johann Hus, dem zweifellos wirksamsten Wahrheitszeugen vor der Reformation, der auch seine Lehre durch den Zeugentod besiegelt hat, wird gesagt, er habe sterbend ausgerufen in Anspielung an die Bedeutung seines Namens – Hus bedeutet im Böhmischen Gans –: „Jetzt bratet ihr eine arme Gans; es wird aber ein Schwan aus der Asche erstehen, den werdet ihr nicht unterdrücken können!“ Luther hat bekanntlich in sein Wappen einen Schwan aufgenommen. Dies Wort auf dem Scheiterhaufen läßt sich nicht geschichtlich nachweisen, aber es steht fest, daß Hus einige Male in Anspielung auf die Bedeutung seines Namens gesagt hat: „Eine Gans ist ein zahmes Tier, das nicht hochfliegen kann, aber nach mir werden edlere Vögel kommen, Falken und Adler, die werden sich höher in den Himmel schwingen!“ Eine Weissagung ist das ja nicht, es war vielmehr der Ausdruck festen Glaubens an seine Sache, festen Glaubens an die Sache Gottes, die nicht untergehen wird und kann. Als Weissagung aus Luther ist wohl auch von den Vätern unserer Kirche vielfach die Stelle Offbg. 14 angesehen worden, die auch als Epistel auf den Gedächtnistag der Reformation gesetzt ist: „Ich sahe einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen allen die auf Erden wohnen. Die Zeit des Gerichtes ist gekommen“. Eine Weissagung auf Luther ist das ebenfalls nicht. Wer das so ansieht, betrachtet die Offenbarung St. Johannis vom sogenannten kirchengeschichtlichen oder weltgeschichtlichen Standpunkt, als ob dieses Buch kirchen- und weltgeschichtliche| Ereignisse im Voraus offenbare. Das ist eine, wie wir überzeugt sind, irrige Aussassung dieses Buches, das vielmehr endgeschichtlich aufgefaßt sein will. Wohl von der Gegenwart ausgehend, wohl die Räume der Zeiten kurz durchmessend, geht das Buch doch ganz und gar auf das Ende der Dinge, den Ausgang der Kirche. Als Trostbuch für die Gemeinde Jesu Christi in der letzten Zeit, als Weisung für die Kirche aller Zeiten, vom Standpunkt des Endes und Ausgangs der Kirche aus die Dinge zu betrachten, so will die Offenbarung aufgefaßt und demgemäß auch jene Stelle Offenbarung 14 verstanden werden, daß nämlich dem Gericht noch ein mächtiger Bußruf vorangehen wird. Luther selbst hat manchmal gemeint, sein Zeugnis sei der letzte Bußruf an die Kirche vor dem jüngsten Tag. Er hielt das Ende der Welt schon für sehr nahe bevorstehend und so ist man darauf gekommen, eine Weissagung auf Luther in der Stelle erkennen zu wollen. Weissagung im eigentlichen Sinn findet sich aber nur im Zusammenhang mit der Heilsgeschichte. Heilsgeschichte ist nichts anderes als die durch unmittelbares Eingreifen Gottes in den Gang der Dinge betätigte Vorbereitung und Herbeiführung des Heiles der Menschheit. Die Heilsgeschichte reicht bis zur Begründung der Kirche in der Welt. Was von dem an geschieht bis zum jüngsten Tag, ist nicht Heilsgeschichte, sondern Kirchengeschichte. Da hat die Kirche des Herrn die Aufgabe, das Wort vom Heil weiter zu tragen durch die Zeiten, durch die Jahrhunderte hindurch der endlichen Erscheinung des Reiches Christi den Weg zu bereiten, kraft der in sie gelegten Gaben des Wortes und Sakramentes. Wir können uns das deutlich klar machen an den beiden sich so nahestehenden Männern Paulus und Luther. Beide sind von Gott sichtlich berufen gewesen. Paulus jedoch, der Apostel, der Mann der Heilsgeschichte, der Begründer der Kirche Christi in der Heidenwelt, wurde berufen auf unmittelbare Weise, so daß ihm der erhöhte Herr persönlich entgegentrat auf dem Wege nach Damaskus. Bei Luther zeigt sich wohl auch sichtlich die Führung Gottes, seine Weltregierung und das Herrschen des gen Himmel Erhöhten, aber nicht aus wunderbare Weise. Darin sind sie aber beide sich gleich, daß sie ein auserwähltes Rüstzeug, jeder für seinen Beruf gewesen sind.


Wir reden nun heute vom auserwählten Rüstzeug der Reformation der Kirche. Und das ist Luther.
1. durch sein Erleben im entscheidenden Punkt,
2. durch seine Ablehnung falscher Stützen,
3. durch sein Gründen allein auf das Wort,
4. durch seine Betätigung wahrhaft kirchlicher Haltung,
5. durch seinen Verzicht aus Selbstgenügsamkeit.


|
I.
Es ist ein Grundsatz in der Geschichte des Reiches Gottes, den der Apostel im 1. Korintherbrief ausspricht: „Nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt und das da nichts ist, daß er zunichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme.“ Das hat sich gezeigt in der Gestalt, in welcher der Menschensohn selbst auf Erden erschienen ist, in der Gestalt seiner Niedrigkeit. Das ist hervorgetreten bei der Auswahl der Apostel. Aus den einfachsten Kreisen des Volkes, nicht aus den Gelehrten und Großen dieser Erde sind sie berufen. Das zeigt sich auch nicht minder beim Werk der Reformation. Kaiser und Könige, Kirchenversammlungen, Universitäten in ihrem ganzen damaligen Ansehen haben versucht eine Reformation der Kirche herbeizuführen: es ist ihnen nicht gelungen. Luther ist dazu berufen gewesen, ein geringer Mönch, ein Lehrer in einer erst kurz erstandenen Hochschule in einem recht unbedeutenden kleinen Städtlein. Wodurch ist er aber dazu vor allem geeignet gewesen, das Werkzeug Gottes zu werden? Durch sein Erleben im entscheidenden Punkt. Der äußere Lebensgang Luthers ist bekannt. Sein Vater, aus angesehenem Bauerngeschlecht, hatte, weil er als ältester das Gut nicht bekam, das nach thüringischem und oberfränkischem Brauch der jüngste zu bekommen pflegte, sich nach einem andern Erwerbszweig umzusehen gehabt. Er wendete sich dem damals aufblühenden Bergbau zu. Anfangs ging es ihm hart; später in Mansfeld ging es ihm besser. Er wurde ein angesehener Mann, Mitglied des Rates der Stadt und Teilhaber an einem Bergwerk. So konnte er sich entschließen, seinen ältesten hochbegabten Sohn dem Studium zu widmen, damit ein Rechtsgelehrter und somit ein tüchtiger und angesehener Mann aus ihm würde. Er kam zuerst in die Schule nach Mansfeld, dann nach Magdeburg und Eisenach, im Jahre 1501 auf die Hochschule nach Erfurt. Wichtiger aber ist uns sein innerer Lebensgang. Die Feinde Luthers haben ihm je und je viel Böses nach gesagt, aber sie können nichts Schlimmes aus seinem Leben aufbringen, auch nicht aus seiner Jugend, auch nicht aus der Zeit vor der inneren Wendung. Er war auf der Universität ein frischer, hurtiger Geselle, wie er selbst sagte, arbeitete fleißig, widmete sich auch der Geselligkeit und war durch seine musikalische Begabung bekannt. Er ging aber in den Bahnen der mittelalterlichen Kirche. Bekanntlich waren es mancherlei Erinnerungen an den Tod, die in sein Leben eingriffen.| Ein Freund von ihm, dessen Namen wir nicht kennen (der aber jedenfalls nicht Alexius hieß), starb eines plötzlichen Todes. Er selbst verwundete sich mit dem Degen, den damals die Studenten führten, so daß er sich fast verblutet hätte. Aber entscheidend war jener Augenblick des Jahres 1505, da bei der Rückkehr von einem Ferienbesuch bei seinen Eltern der Blitz unmittelbar neben ihm in die Erde fuhr. Damals rief er aus: „Hilf, liebe St. Anna, ich will ein Mönch werden!“ Dies Gelübde ging nicht aus augenblicklichem Erschrecken hervor, sondern war das Ergebnis bedeutsamer Vorgänge in seinem Innern, da er von Jugend aus ernst gerichtet war, und die Sorge um die Seligkeit in seinem Herzen trug, wie auch das Ergebnis seiner bisherigen Anschauung, daß der Mönchstand der verdienstvollste Stand sei. Das Gelübde mußte nach seiner Ansicht gehalten werden. So machte er am 16. Juli 1505 einen Abschied mit seinen Freunden und erklärte den Tieferschreckten: „Heute seht ihr mich noch, morgen nimmermehr!“ Er klopfte am nächsten Morgen an die Pforte des Augustiner-Klosters an. Sein Vater war darüber hoch erzürnt, denn er hielt nicht viel auf den Stand der Geistlichkeit, der damals keiner großen Ehre wert war. Er hatte doch einen Juristen aus ihm machen wollen und dachte ihn sich schon als kaiserlichen Rat oder in sonst einer hohen Würde.
.
Was waren aber nun Luthers weitere Erfahrungen? „Wo ein Mönch durch Möncherei in den Himmel gekommen wäre, wollte ich auch hineingekommen sein.“ „Je mehr ich mir aber die Hände wusch«, sagt er ein andermal, „desto mehr Flecken kamen zum Vorschein.“ Er versuchte durch strengste Erfüllung der Mönchsgelübde der Seligkeit gewiß zu werden. Als ihm das weiße Ordenskleid der Augustiner angelegt wurde, glaubte er mit dem Rocke der Gerechtigkeit Christi gekleidet zu sein. Der ersehnte Friede kam aber nicht. Er kämpfte und rang durch Jahre hindurch. Das erste entscheidende Trostwort rief ihm sein alter Novizenmeister zu, dessen Namen wir nicht kennen, der ihm sagte: „Es steht doch im Glaubensbekenntnis: ich glaube eine Vergebung der Sünden.“ Der Ordensobere D. Johann von Staupitz, aus der edlen Mystik hervorgegangen, konnte ihm klar den Weg zur Gnade Gottes zeigen, doch allerdings wollte auch sein Wort noch nicht völlig verfangen. Im Jahre 1508 versetzte ihn Staupitz nach Wittenberg, da er ihn zum Lehrer der Theologie bestimmt hatte. Zunächst hatte er freilich philosophische Fächer zu lesen. Die Reise nach Rom 1510 ist nach Luthers Aeußerung nicht so entscheidend gewesen für seinen inneren Gang, als man gewöhnlich annimmt. Er ging, als Begleiter des eigentlich nach Rom gesandten Ordensangehörigen hin und hatte reichlich Zeit sich die Stadt zu besehen. Er sah viel dort und später hat er es hoch gewertet und gesagt: „Nicht viel gebe er darum,| daß er nicht in Rom gewesen wäre“. Für den Augenblick ist es nicht so entscheidend für sein Inneres gewesen. In den Jahren 1512–13 hat sich die entscheidende Wendung in ihm vollzogen und zwar durchs Wort der Schrift, durch den Römerbrief, den er ernstlich studierte. Wochen, Monate, lang hat er nachgesonnen was das Wort „Gottesgerechtigkeit“[1] bedeute, bis es ihm eines Tages aufging nach langem Suchen und Forschen aus dem Brief selbst heraus, daß damit die Gerechtigkeit gemeint sei, die Gott selber uns aus Gnaden gibt und die unsererseits im Glauben anzueignen ist. Damit hatte er den Grund gefunden, der seinen Anker ewig hielt. „Glaubst du, so hast du“, das war von dem an sein oft gebrauchtes kurzes Wort. Jetzt sah er die Schrift mit ganz andern Augen an. Bisher hatte er, wie er selbst sagt, auf jeder Seite der Schrift sein Todesurteil gefunden, das Urteil der wohlverdienten Verdammnis, jetzt fand er aus jeder Seite derselben die Verkündigung der Gnade. Auch die Schriften der Kirchenväter verstand er jetzt ganz anders, besonders die des Augustinus. Große Freude hatte er an den niederländischen Wahrheitszeugen, von denen wir zuletzt sprachen, die aus der rechten Mystik herausgewachsen waren. Insbesondere lernte er einen Traktat kennen, den er unter dem Titel „Deutsche Theologie“ herausgab als eine seiner ersten Veröffentlichungen. In den Vorlesungen ließ er auch schon merken, daß er einen andern Grund für sein Christentum gefunden hatte. Dabei war er noch mit allem Respekt vor der mittelalterlichen Kirche, ihren Einrichtungen und Ordnungen erfüllt. Wir sprechen zunächst noch nicht vom Reformationswerk selber, das wird Gegenstand des nächsten Vortrags sein, sondern von dem, was Luther zum eigentlichen Werkzeug des Reformationswerkes machte. Vor allem dies Erleben im entscheidendem Punkt; dann aber auch noch mehr. Wir bewundern an Luther die Klarheit seines Denkens, seine Aufrichtigkeit, seinen Mut, seine heilige Einfalt und innere Unabhängigkeit. Ihm war es in keiner Weise um den Beifall der Menschen, nur um seiner Seele Heil und Gottes Sache zu tun.


II.
Besonders groß aber ist er in der Ablehnung falscher Stützen. Hiedurch unterscheidet er sich nicht am wenigsten von Hus und Wiclif und anderen, die vor ihm eine Reformation der Kirche anstrebten. Luther war wohl auch von dem Bewußtsein der Bedeutung erfüllt die er durch Gottes Gnade hatte. Noch in seinem Testament, das er am 7. Februar 1546, wenige Tage vor seiner letzten Reise, also kurz vor seinem Tode, verfaßt hat, spricht er das aus. Er sagt da, er brauche keinen Notar, da er selbst Gottes Notarius und ein Zeuge| Jesu Christi gewesen sei und sein Name sei im Himmel und auf Erden und wie er glaube, auch in der Hölle wohl bekannt. Da tritt das Bewußtsein des Mannes von seiner ganzen Bedeutung voll hervor, aber nie hat sich Luther überhoben und auf eigene Kraft getraut. Nur auf Gott traute er, daher brauchte er falsche menschliche Stützen nicht. Denken wir an den größten Tag seines Lebens, den 18. April 1521, an sein Auftreten vor dem Kaiser in Worms. Auf den Kaiser machte der geringe Mönch keinen großen Eindruck, umsomehr als der Kaiser seine deutschen Worte nicht verstand. Umso größeren Eindruck machte er auf die Fürsten, am allermeisten waren für ihn begeistert die Ritter, der niedere, sogenannte landsäßige Adel, das ständig im Kampf mit den größeren Landesfürsten war, die den Adel sich zu unterwerfen suchten und die Reichsunmittelbarkeit desselben möglichst beschnitten. Die Ritter schlossen sich daher mehr an den Kaiser, an, standen fest zur kaiserlichen Gewalt, vertraten den nationalen Gedanken der Einheit des Deutschen Reiches, die Gedanken des Fortschrittes und der Freiheit. Aus ihren Reihen sind Männer wie Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen hervorgegangen, mutige Kämpfer gegen die Mißbräuche Roms, Kämpfer für die Geistesfreiheit und für den Fortschritt und für die nationale Stellung Deutschlands. Sie waren es mit dem Bürgerstand zusammen, die am lebhaftesten das Auftreten Luthers bewunderten. Einer von diesen Rittern war auch Georg von Frundsberg, der Luther ermutigend zusprach und der Schloßhauptmann der Wartburg Edler von Berlepsch, der mit großer Klugheit Luther zu schützen wußte. Desgleichen Hutten und Sickingen boten ausdrücklich ihre Burgen an, als es in Worms für ihn gefährlich zu werden schien. Ja schon bei der Reichsversammlung selbst, als bei Luthers Weigerung des Widerrufes ein Tumult entstand, in den Luther hineinrief „ich kann nicht anders, Gott helfe mir“ da meinten die Ritter man wolle Luther gefangen wegführen und schlugen an ihre Schwerter, um zu zeigen, daß sie auch noch da seien zur Hilfe bereit. Aber Luther brauchte das Schwert der Ritter nicht, er hatte einen andern Schutz. Die Ritter suchten Luther für ihre Sache zu gewinnen, das lehnte er ab, er verzichtete auf weltliche Stützen.
.
Ebenso war es mit einer Bewegung anderer Art, mit dem Bauernaufstand. Die Bauern, in Deutschland westlich der Elbe ursprünglich frei, waren in Abhängigkeit von den Rittern gekommen, die für sie den Kriegsdienst übernahmen und ihnen Schutz gewährten, wogegen die Bauern ihre Güter von den Herren zu Lehen nehmen und Abgaben entrichten mußten. Sie wurden mit der Zeit schwer gedrückt durch Abgaben und Frohnden und Bauernaufstände hat es schon in den Jahren 1502 und 1514, lange vor Luthers Auftreten gegeben. Das ist richtig, daß die Bauern Luthers Wort von der „Freiheit des Christenmenschen“ auch auf bürgerliche Freiheit bezogen| und weltliche Gedanken an das Reformationswerk anschlossen. So kam es, daß 1524 im Schwarzwald und im nächsten Jahre im Gebiete des Fürst-Abts von Kempten, begünstigt durch den Einfluß der benachbarten freien Schweiz, ein Bauernaufstand losbrach. Die Bauern stellten 12 Artikel der Bauernschaft Frankens und Schwabens auf, die Richtiges und Begründetes enthielten, auch die Forderung, dem Evangelium müsse von den Herren freie Bahn gelassen werden. Luther hat damals den Herren zugeredet, die wohlberechtigten Forderungen zu erfüllen, aber die Bauern gingen rasch weiter. Sie wendeten sich zum Aufruhr, begannen mit Sengen und Brennen die Schlösser und Güter ihrer Herren zu verwüsten. Einzelne der Ritter schlugen sich zu ihnen, wie Götz von Berlichingen. Luther hatte es in der Gewalt, diese Mengen für sich zu gewinnen, aber er hat nie nach Gunst der großen Haufen gefragt. Anfangs trat er für berechtigte Forderungen der Bauern ein, aber als sie revolutionär auftraten, wandte er sich von ihnen und schrieb wider die räuberischen und mörderischen Bauern. Es ist bekannt, daß der Theologe Thomas Münzer eine Herrschaft der Gläubigen jetzt schon auf Erden begründen wollte unter Abschaffung jeglicher Obrigkeit. Das half nicht wenig dazu, daß Luther auch von dieser Bewegung sich lossagte. Er wollte keine Revolution, er lehnte falsche Stützen ab.
.
Eine andere Geistesrichtung schien vielmehr berufen, die Reformation zu stützen, der sogenannte Humanismus, das Bestreben, echt menschliche Bildung zu fördern auf Grund dessen, was die alten Völker (Griechen und Römer) einst hervorgebracht haben, da auf dem, was Griechen und Römer ersonnen und erschaffen haben, unsere Bildung und Kultur unmittelbar beruht. Wir können nicht ausführlicher von dieser Bewegung reden; das sei jetzt schon gesagt, daß die Humanisten der Reformation wesentliche Dienste geleistet haben, besonders dadurch, daß sie die Sprachen erforschten, in welchen die heilige Schrift ursprünglich geschrieben ist. Johann Reuchlin aus Pforzheim, ein Oheim des Philipp Melanchthon, hat die erste hebräische Grammatik oder Sprachlehre verfaßt und der Humanist Erasmus hat das griechische Neue Testament nach den ihm zugänglichen Handschriften im Druck herausgegeben. Nach diesem griechischen Testament des Erasmus hat Luther das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Aber freilich, es lag im Humanismus eine Gefahr, da er menschliche Bildung auf menschlicher Grundlage anstrebte, den Menschen zu sehr auf sich selbst und sein eigenes Wissen zu stellen. Dieser Gefahr ist der Humanismus mehrfach unterlegen, in Italien freilich viel mehr noch als in Deutschland. Anfangs haben sich die Humanisten der Reformation sehr freundlich gegenüber gestellt. Einer aus ihren Reihen, Melanchthon, ist der nächste Gehilfe Luthers im Reformationswerk geworden. Aber etwas anders stand das damalige anerkannte Haupt der Humanisten in Deutschland, Desiderius Erasmus| aus Rotterdam, ein zwar begabter und gelehrter, doch eitler, selbstgefälliger und auf das Menschliche nur sich stützender Mann. Ihm war es der größte Anstoß, daß Luther aus Anlaß eines Kampfes mit dem König Heinrichs VIII. von England die völlige Unfähigkeit des Menschen lehrte, selbst sein Heil zu schaffen oder auf das Heil sich zu bereiten. Und so griff er Luther an im Jahre 1524 in einer Schrift über den „Freien Willen“. Luther wartete ein volles Jahr bis er ihm antwortete, da er nicht in Heftigkeit des Augenblicks antworten wollte. Aber seine Absage Erasmus gegenüber war gründlich. So hat Luther auch die Zustimmung und Unterstützung der Humanisten abgelehnt. Er hat auch hier falsche Stützen nicht gewollt.

Man kann dasselbe auch sagen – wovon jetzt nur kurz geredet sein soll – von dem Verhältnis zu den Schweizer Reformatoren, den Begründern der reformierten Kirche. Sie standen ihm nahe, aber ihr Ausgangspunkt war ein ganz anderer. Sie machten Luther den Vorwurf, daß er auf halbem Wege stehen geblieben sei, weil er so vieles, was die mittelalterliche Kirche Gutes hatte, beibehielt. Denselben Vorwurf haben ihm von andern Gesichtspunkten aus die Schwarmgeister gemacht. Sie sagten auch, Luther bleibe auf halbem Wege stehen, nämlich deshalb, weil er sich zu sehr durchs Wort der Schrift knechten lasse, aus der Schrift somit einen papiernen Papst mache, während sie den Geist hätten der ihnen unmittelbar eingebe, was zu glauben und zu lehren sei. Die Reformierten sind ja unendlich höher zu stellen als diese Schwarmgeister und es wäre sehr nahe gelegen, sich mit ihnen zusammenzuschließen. Derjenige Fürst der Reformationszeit, der am meisten Staatsmann gewesen ist, Philipp von Hessen, und dem Kaiser darin ebenbürtig war, hatte den höchsten sehnlichen Wunsch, man möchte sich mit den Schweizern einigen, da man dann anders dem Kaiser gegenüber treten könne, zumal die mächtigen oberschwäbischen Städte Ulm, Augsburg und Straßburg nach reformierter Seite hinneigten. Luther hat auch da keine falsche Stützen gewollt. Er gab bei der Besprechung in Marburg 1529 nach, soweit nachgegeben werden konnte und hat es besonders später bei der Wittenberger Konkordie ebenso gemacht: in der Form nachgegeben, was möglich war, in der Sache aber nicht. Er blieb in Marburg, Zwingli gegenüber bei dem Ausspruch: Ihr habt einen andern Geist als wir. In diesem Ablehnen falscher Stützen ist Luther ganz besonders groß, darum ist er gerade das auserwählte Rüstzeug für die Reformation gewesen.


III.
Aber am allermeisten ist er es doch durch das geworden, wovon wir weiter reden wollen, durch sein Gründen allein auf die Schrift. Besonders in den Kämpfen gegen die Irrlehre und| Mißbräuche der römischen Kirche hat Luther sich gerne auf die alte Kirche berufen. Es kam ihm dabei zugute, daß die meisten Irrlehren des Mittelalters von der Kirche damals noch nicht bekenntnismäßig festgelegt waren, das ist erst nach der Reformation durch die neulich erwähnte Kirchenversammlung von Trident geschehen. Damals war die Irrlehre noch nicht kirchliches Bekenntnis und so konnte sich Luther immer auf die Väter – die älteren Kirchenväter – beziehen und hat das reichlich getan. Das ist auch in dem Hauptbekenntnis unserer Kirche, der Augsburgischen Konfession, geschehen, wo Melanchthon mit großer Klugheit gleich im 1. Artikel sich auf die Nizänische Kirchenversammlung bezieht, im lateinischen Text besonders nachdrücklich. „Mit großer Zustimmung der Kirche wird gelehrt, daß der Beschluß der Synode von Nicaea wahr und ohne irgend welchen Zweifel zu glauben sei.“ Also Luther bezog sich reichlich auf die Väter der alten Kirche, aber mehr noch, er bezog sich auf die Schrift. Die mittelalterliche Kirche lehrte ja, daß die richtige Auslegung der Schrift der Kirche und den Kirchenversammlungen in die Hände gegeben sei. Luther hielt auch die Kirchenversammlungen hoch und wir wollen auch gerne annehmen und mit ihnen bekennen, was mit der Schrift übereinstimmt. Aber Luther ist je länger je mehr auf die Schrift selber zurückgegangen. Das war schon im Anfang seines Werks der Fall, indem die 62. unter den 95 Thesen sagt: „Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium von Christi Gnade und Christi Herrlichkeit.“ Noch ausschließlicher auf das Wort wurde er geführt durch den sich anschließenden Kampf. Den 95 Thesen trat besonders der Professor D. Johann Eck aus Ingolstadt entgegen, dem Luther es gar nicht zugetraut hatte, der offenbar sich Ehre und Ruhm beim Papst durch den Kampf erringen wollte. Anfangs gingen die Streitschriften herüber und hinüber, dann nahm der römische Stuhl Kenntnis davon, nachdem der Papst anfangs nur einen Witz über die Sache gemacht hatte „ein betrunkener Deutscher“ habe das geschrieben und wenn er wieder nüchtern sei, werde er schon anders reden, oder ein ander Mal, „Bruder Martinus scheine ein feiner Kopf zu sein, weil er gerade diesen Punkt herausgegrissen hätte“. Später entschloß er sich doch, gegen Luther vorzugehen. Luther wurde nach Rom vorgeladen. Die Universität trat für ihn beim Kurfürsten ein und der Kurfürst, auf dessen Stimme viel gegeben wurde, vermochte den Papst dazu die Sache auf deutschem Boden ausgleichen zu lassen. So wurde Luther nach Augsburg vor den dort gerade anwesenden Kardinal Cajetan vorgeladen, der nichts weiter forderte als Widerruf und immer Widerruf. So wurde die Sache in eine etwas feinere Hand, in die Hand des sächsischen Edelmanns Karl von Miltitz gelegt, der nach Sachsen reiste, um dem Kurfürsten die goldene Tugendrose zu überbringen. Er versuchte die Sache auszugleichen.| Er wußte durch Gewandtheit und Liebenswürdigkeit Luther soweit zu bringen, daß er versprach zu schweigen, freilich wie Luther klug hinzufügte, „wenn auch seine Gegner schweigen würden.“ Eck vermochte aber nicht zu schweigen. Er griff zwar zunächst nicht Luther selbst an, sondern seinen Amtsgenossen, den damals ihm gleichgesinnten D. Karlstadt. So ging der Streit doch weiter und es kam nach der Weise der damaligen Zeit zu einer öffentlichen Disputation über die Sache, die im Jahre 1519 vom 27. Juni ab in Leipzig 3 Wochen lang stattfand. Erst disputierte Eck 8 Tage lang mit Karlstadt, der sich nicht immer zu helfen wußte, dem gewandten Eck gegenüber, der besonders in den Kirchenvätern sehr bewandert war. Dann traten Luther und Eck 14 Tage lang sich einander gegenüber. Zu einem wirklichen Ergebnis führte diese Disputation nicht. Die Akten wurden an die Universität Paris geschickt, die sich aber hütete, eine Entscheidung zu geben. Für Luther hat diese Disputation ein wichtiges Ergebnis gezeitigt, nämlich gegenüber den Angriffen seines Gegners wurde Luther zu einer doppelten Erkenntnis gebracht, die er alsbald offen aussprach. Einmal, daß nicht alles, was Hus gelehrt hatte, Ketzerei sei, es sei vielmehr, wie er sagte, auch feine göttliche Wahrheit dabei gewesen. Das sagte Luther, weil ihm vorgeworfen wurde, er lehre die vom Konzil in Konstanz verworfene Irrlehre des Hus. Er hat sich dadurch den Herzog Georg von Sachsen zum Feind gemacht, der, als Luther dies aussprach, mit einem Fluch der damaligen Zeit dazwischenrief: „Das walt die Sucht!“ Die andere Erkenntnis aber, zu der Luther geführt wurde, war die, daß auch Konzilien irren können. Das brachte den Herzog Georg vollends in Harnisch und er ist der unversöhnliche Feind Luthers geblieben solange er lebte. Luther ist aber dadurch umso klarer auf die Schrift gewiesen worden. Auch Kirchenversammlungen können irren, wenn ihre Behauptung mit der Schrift nicht zusammenstimmt.
.
Noch mehr wurde Luther gedrängt sich auf die Schrift zu gründen durch den Kampf gegen die Schwarmgeister 1522. Bekanntlich war es das Auftreten der neuen Propheten aus Zwickau, das Luther veranlaßte, gegen den Willen des Kurfürsten sein Asyl auf der Wartburg zu verlassen, um in Wittenberg die Ordnung wieder herzustellen. Er wurde der Bewegung Herr, indem er eine Woche hindurch jeden Tag predigte und sich auch selbst nach Zwickau begab, wo er vom Fenster des Rathauses aus zu einer nach Tausenden zählenden Menge redete. Im Kampf mit diesen Schwarmgeistern, die behaupteten: der Geist wohne in ihnen und durch den Geist hätten sie die klare Erkenntnis ohne die Schrift und über die Schrift hinaus, ist Luther noch viel mehr zur Betonung der Schrift geführt worden, der Schrift allein. So ist er dazu gelangt, schon am 18. April 1521 vor Kaiser und Reich feierlich zu erklären: wenn er nicht aus der Schrift widerlegt werde, könne er nicht widerrufen.| So hat er später immer wieder nur auf das Wort sich bezogen. „Das Wort sagt“ er einmal, „tat es, das hat weiter gewirkt wenn ich schlief oder wenn ich mit Magister Philippo (d. i. Melanchthon) Wittenbergisch Bier trank,“ (also nichts tat), das Wort hat es gewirkt.


IV.
So ist Luther zum Reformator der Kirche geeignet gewesen durch dies sein Halten auf die Schrift, auf das Wort allein. Er ist auch ein geeignetes Rüstzeug der Reformation geworden durch seine Betätigung wahrhaft kirchlicher Haltung. Es handelt sich dabei um die Stellung zur kirchlichen Ueberlieferung. Die katholische Kirche stellt neben die Schrift, ja über sie, die angeblich mündliche Ueberlieferung oder die Tradition von den Aposteln her, die besonders in den Händen des päpstlichen Stuhles sei. Das ist eine bodenlose Behauptung, durch die alle möglichen Menschenfündlein in der Kirche eingeführt werden können, wenn man sich neben der Schrift auf eine derartige Ueberlieferung bezieht. Aber deshalb verwerfen wir und verwarf Luther das kirchlich Gewordene durchaus nicht. Die Reformierten nehmen bekanntlich eine andere Stellung zur Ueberlieferung ein. Sie versuchten einen völligen kirchlichen Neubau. Sie machten Luther den Vorwurf auf halbem Wege stehen geblieben zu sein. Sie wollten alles von vornherein neu aufbauen und in dem Sinne haben sie sich die „Reformierten“ genannt. Darin liegt für uns Lutheraner der Vorwurf, daß bei uns die Reformation nicht völlig durchgedrungen sei. Weil auch die Schwarmgeister ihm vorgeworfen hatten, auf halbem Wege stehen geblieben zu sein, hat Luther anfangs die Reformierten zu ungünstig beurteilt, bis er Zwingli in Marburg selber kennen lernte. Aber dieser Unterschied bleibt: die Reformierten verwerfen alles kirchlich Gewordene. Es hat sich das bei den Reformierten sichtlich gerächt. Dadurch ist diese Kirche ein fruchtbarer Mutterboden für die Sekten geworden. Luther hielt an dem kirchlich Gewordenen fest, soweit es mit der Schrift übereinstimmte. Gerne acceptierte er die Bekenntnisse der alten Kirche soweit sie mit der Schrift zusammenstimmten. Auch wir erkennen die Beschlüsse der ältesten Kirchenversammlungen zu Nicäa, zu Konstantinopel, zu Ephesus und Chalcedon gerne an. Aber mehr noch, auch was sonst in der Kirche an äußeren Ordnungen geworden war, hielt Luther fest soweit es nicht gegen die Schrift war. So behielt er bei die sonntäglichen Perikopen, dann die Form des Gottesdienstes, auch die Liturgie. Bei seinem Katechismus hat er auch in sehr schöner kirchlicher Weise sich an das schon Vorhandene gehalten. Glaube, Vater unser und die zehn Gebote mußten schon vor der Reformation die Kinder vor dem 1. Abendmahlsgang lernen, freilich ein Auswendiglernen ohne Sinn und Verstand. Als Luther seinen Katechismus| schrieb, stellte er diese drei Hauptstücke voran und fügte ihnen nur die herrlichen Erklärungen bei. Ebenso beim Kirchenlied werden wir sehen, wie Luther außerordentlich schön und richtig das Vorhandene benützte. Er hat zum Teil an alte lateinische Hymnen und an vorhandene deutsche Verse oder an Psalmen angeknüpft, auch die Melodien vielfach der vorreformatorischen Zeit entnommen sodaß wir manche der gewaltigsten Melodien der vorreformatorischen Kirche verdanken. So ist es für uns erhebend, wenn wir in manchen Bestandteilen der Liturgie uns mit der ältesten Kirche zusammenfinden, wie etwa das sonntäglich von uns gesungene Laudamus auf das IV. Jahrhundert zurückgeht und wenn wir auch in Taufe und Form der Trauung an altkirchliche Vorlagen uns anschließen. Damit wird die Einheit der Kirche Gottes auch äußerlich und tatsächlich festgehalten. Dieser geschichtliche, konservative Zug der Reformation Luthers ist besonders dankenswert, in ihm liegt recht eigentlich der kirchliche Charakter unserer lutherischen Reformation begründet.


V.
Wir sind ferne davon, Luther zu einem Heiligen stempeln zu wollen. Wir erkennen manche Mängel an ihm an und manches Unvollendete. Aber was Luther nachgesagt wird von groben Sünden oder häßlichem Lebensausgang, das ist völlig unwahr. Besonders die Rede von seinem Selbstmord ist schon 1 Jahr vor seinem Tode von seinen Feinden verbreitet worden und er gab die betreffende Schrift zum Spott selbst heraus. Er führte ein Leben großer Arbeit, aber doch auch unbefangener Fröhlichkeit in seiner Familie, in Freundschaft und Verkehr. Wie dieser Mann voll Geistes und Kraft war, beweisen die Worte, die er während des Essens sprach. Er hatte stets eine große Tischgesellschaft um sich, denn er hatte Studenten, Kandidaten und junge Doktoren in seinem Hause wohnen, die natürlich auch seinen Tisch teilten. Die Aussprüche, die er hier tat, sind gesammelt worden und diese Tischreden Luthers, die einige Bände füllen, gehören zu dem Schönsten was wir von ihm haben, wenn sie auch nicht auf völlige Genauheit Anspruch machen können, da sie den Weg über das Lateinische zu uns gemacht haben. Wie harmlos konnte er fröhlich sein. Nach Tisch mußten die jungen Leute ein Kegelspiel machen. Luther schob die erste Kugel selbst. Da ließ er sich gerne von den jungen Leuten auslachen, denn er fehlte meist, sagte aber auch dagegen von den gescheiten Doktoren, die 12 Kegel fällen könnten, da doch nur neune dastünden. Solche und ähnliche Scherze haben wir von ihm mehr. Als durchaus innerlich geheiligter und doch zugleich natürlicher Mann tritt er uns entgegen, aber seine Mängel verkennen wir deshalb durchaus nicht. Er war heftig, derb und in mancher Streitschrift zu scharf. – Ein bedauerlicher| Vorfall ist ihm unterlaufen, von dem wir kurz reden müssen, es ist die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen. Derselbe war mit seiner eigentlichen Gemahlin, einer Verwandten Kaiser Karl V. völlig zerfallen und lebte längst getrennt von ihr. Er vermochte nicht sich zu enthalten, immer wieder kamen Versündigungen vor und jahrelang enthielt er sich des Sakraments, weil er sich nicht für würdig erachtete. Schließlich faßte er den Entschluß eine neue Ehe einzugehen mit dem Hoffräulein Margarete von der Saale. Eine Ehescheidung, womit jetzt die Großen der Welt und andere sich zu helfen wissen, gab es damals wie jetzt noch in der römischen Kirche nicht und so glaubte Luther i. J. 1540 ihm den seelsorgerlichen Rat geben zu dürfen, eben doch diese weitere Ehe, nachdem er tatsächlich von seiner ersten Gemahlin längst getrennt war, einzugehen, ohne zu bedenken, daß wenn die freilich geheim zu haltende Sache bekannt würde, dadurch der Landgraf in die größte Schwierigkeit geraten mußte, da nach dem damals geltenden Gesetz die Doppelehe mit dem Tode bestraft wurde. Die Sache hat der Reformation manchen Schaden getan. Es ist ein irriger seelsorgerlicher Rat zu dem Luther sich glaubte verstehen zu müssen unter Hinweisung auf alttestamentliche Patriarchen, ohne zu bedenken, daß Sinn und Geist des Neuen Testaments die Wiederherstellung der völligen Einehe von selbst mit sich gebracht haben. Auch als Organisator ist Luther nicht gerade hervorragend gewesen, aber er verzichtete auch völlig auf jegliche Selbstgenügsamkeit. Er meinte nicht, daß er überall das Richtige finde und erkannte Fehler und Mängel an. Er hat stillschweigend zugegeben, daß noch eine Weiterführung des Reformationswerkes nach mancher Seite hin denkbar sei. Calvin hätte ein derartiges Zugeständnis weder laut noch still gemacht. Gerade im Unterschied von ihm tritt Luthers Verzicht auf jegliche Selbstgenügsamkeit uns entgegen. Eben das hat ihn auch mit zum Reformator der Kirche besonders befähigt. Wir gestehen gerne zu, daß die Reformation nach manchen Seiten hin eine andere Organisation, einen besseren Fortgang hätte finden können. Manche guten Ansätze sind bald wieder verschwunden, zu Anderm ist es gar nicht gekommen. Die Reformation bleibt ein von Gott herbeigeführtes aber von Menschen ausgeführtes Werk, darum entbehrt sie mancher Unvollkommenheit nicht. Was wir damit zugestehen ist im Sinne Luthers. Wir danken Gott, daß Er diesen Mann so sichtlich zum Reformator der Kirche bestimmt und zubereitet hat. Ja er ist das auserwählte Rüstzeug Gottes gewesen zur Herbeiführung des längst ersehnten Werkes. Auf ihn sonderlich dürfen wir das neulich schon angeführte Wort des Ebräerbriefes beziehen: „Gedenket an euere Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; welcher Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach.“
Psalm 18, 30–40; Lied 170, 1. 4.



  1. von Luther übersetzt „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“


« 3. Stunde Wilhelm Eichhorn
Einsegnungsunterricht 1917
5. Stunde »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).