Einiges über den Aberglauben des deutschen Soldaten im Kriege

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Titel: Einiges über den Aberglauben des deutschen Soldaten im Kriege
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 19-20
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[19] Einiges über den Aberglauben des deutschen Soldaten im Kriege. (Von einem preußischen Officier.) Es ist eine vielfach bekannte und oft behandelte Thatsache, daß alle Handwerke, die mit einer gewissen Gefahr für denjenigen, der sie betreibt, verbunden sind, auch einen ganz eigenthümlichen Aberglauben erzeugen, der wohl so alt sein mag, wie diese Gewerke selbst. Der Seemann läuft Freitags nicht in die offene See, der Bergmann enthält sich im Schachte des Fluchens, der Jäger erwartet ein Unglück, wenn ihm am Morgen als erstes ein altes Weib begegnet, der Schieferdecker stellt die Arbeit ein, wenn er dreimal klopfen hört, der Seiltänzer wagt das Seil nicht ohne sein Amulet zu besteigen – wie mir Fräulein Elise Godeau Anno 64 bei Kolter-Waitzmann oft genug versicherte – u. s. w.

Natürlicherweise kann man deshalb erwarten, daß auch der Soldat seinen besonderen Aberglauben habe, und man wird seine Erwartungen nicht getäuscht finden; denn allerdings huldigt auch er – natürlich nur im Kriege – vielfach abergläubischen Gebräuchen und Ansichten, von denen ich, nach meinen in den letzten Feldzügen gemachten Erfahrungen, einige Proben hier mittheilen will.

Es war im Jahre 1866 am Abende nach der Erstürmung von Königinhof. Das Regiment, dem ich damals zugetheilt war, hatte im Divisionsverbande ein Bivouac am Rande eines Waldes bezogen und war gerade mit dem Abkochen beschäftigt. Da es bereits stark dunkelte, so sah man in der Ferne den Horizont vom Feuerschein noch brennender Ortschaften nordlichtartig erhellt. Gluthrothe Rauchwolken, mit glimmenden Funken untermischt, trieben in dichten Massen am Himmel dahin und zeugten von den fürchterlichen, nunmehr auf kurze Zeit ruhenden Kämpfen der letzten Tage. Ich stand gerade im Schatten einiger starker Stämme, am Saume des Waldes, und betrachtete in Gedanken versunken das unheimlich-schöne Schauspiel. Einige Schritte von mir entfernt, doch so, daß sie mich nicht sehen konnten, saßen zwei Grenadiere, die offenbar in dieselbe Betrachtung versunken zu sein schienen. Der Eine sagte zum Andern: „Dort scheinen mir immer noch einige Dörfer zu brennen;“ worauf ihm der Andere in belehrendem Tone entgegnete: „Weißt Du denn noch nicht, daß im Kriege immer solche Feuerzeichen am Himmel stehen? Das hat mir schon mein Großvater erzählt, der die Freiheitskriege mitgemacht hat!“ Hierauf unterhielten sie sich etwas leiser und für mich unverständlich. Ich konnte ihre Reden erst wieder verstehen, als der Zweite den Ersten fragte: „Hast Du denn nicht auch den Brief, der unverwundbar macht?“ Der Angeredete verneinte diese Frage, und Beide standen auf und entfernten sich flüsternd.

Nun muß ich vorausschicken, daß ich schon oftmals unter den Mannschaften verschiedener Regimenter von einem noch heutzutage vorhandenen wunderthätigen Briefe hatte sprechen hören, der angeblich im dreißigjährigen Kriege unter den Landsknechten weitverbreitet gewesen sein und die Eigenschaft besessen haben soll, seinen Eigenthümer unverwundbar zu machen. [20] Es war mir aber trotz aller Nachfragen noch niemals geglückt, ein Exemplar desselben aufzutreiben, da der Brief nur dann seine wunderbare Eigenschaft beibehalten sollte, wenn ihn der Besitzer ganz geheim hielte. Auch diese schöne Gelegenheit, von den beiden Grenadieren vielleicht über das Geheimniß etwas Näheres zu erfahren, ließ ich ungenützt verstreichen und mit ihr jede Hoffnung, jemals in den Besitz desselben zu gelangen.

So kam indessen das Jahr 1870 heran und mit ihm der noch jetzt nicht beendete deutsch-französische Krieg. Mein Regiment wurde gleich anfangs mobil und sollte am 27. Juli früh um fünf Uhr abmarschiren. Ich hatte gerade meine Marschtoilette vollendet und stand im Begriffe, mich auf den Sammelplatz der Compagnie zu begeben, als ein etwa achtjähriger Junge, ohne zu klopfen, in meine Stube trat, mir einen Brief übergab und sich, ein kleines ihm dargereichtes Trinkgeld ausschlagend, schleunigst entfernte. Da ich der festen Ueberzeugung war, der Brief enthalte eine noch unbezahlte Rechnung, so steckte ich ihn – um mir die letzten Momente in der Garnison nicht zu verbittern – ungelesen zu mir und öffnete ihn erst während des Marsches auf unserem ersten Rendezvous. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als ich statt der Klagen eines durch den Ausmarsch der Truppen hart betroffenen Kaufmanns jenen vielfach ersehnten und oft gesuchten Brief entdeckte, den mir irgend ein für meine Erhaltung besorgtes Wesen in liebevollem Aberglauben zugesendet haben mochte. Ich gebe hier wortgetreu einen Theil seines unglaublich albernen Inhaltes wieder.

Die Überschrift lautet: „Ein Brief aus Holstein gesandt.“ Rechts daneben steht gewissermaßen als Motto:

„Der Glaube muß dabei sein,
Der Brief thut’s nicht allein.“

„Dieser Brief ist vom Himmel gesandt und in Holstein gefunden worden Anno 1579. Er war mit goldenen Buchstaben geschrieben und schwebte über dem Taufbecken zu Rudnau. Sowie man ihn ergreifen wollte, wich er zurück, bis 1591, wo Jemand den Gedanken faßte, ihn abzuschreiben und der Welt mitzutheilen. Zu diesem richtete sich der Brief und stand. Wenn Einem die Nase blutet oder er sonst einen blutigen Schaden hat und das Blut nicht stillen kann, der nehme diesen Brief und lege ihn darauf. Wer dies nicht glauben will, der schreibe diese Buchstaben: H. K. J. L. F. auf einen Degen oder auf die Seite des Gewehrs und stecke es auf einen Platz, so wird man ihn nicht verwunden können. Wer diesen Brief bei sich trägt, der kann nicht bezaubert werden, und seine Feinde können ihm keinen Schaden zufügen. Das sind die heiligen fünf Wunden Christi: H. G. L. G. K., und Du bist sicher, daß Dir kein falsches Urtheil geschehen kann. Wer sonst diesen Brief bei sich trägt, dem kann kein Blitz, kein Donner, kein Feuer oder Wasser Schaden thun. Und wenn eine Frau gebiert, und die Geburt nicht von ihr will, so gebe man ihr diesen Brief in die Hand und so wird sie gebären, und das Kind wird glücklich werden. – – – Wer diesen Segen gegen den Feind bei sich hat, der wird vor Gewehr und Geschütz bewahrt bleiben. Wer dieses nicht glauben will, schreibe es ab, hänge es einem Hunde an den Hals und schieße nach demselben, so werdet ihr sehen, daß es wahr ist (!!!). Wer diesen Brief bei sich hat, wird nicht gefangen, noch durch Feindes Waffe verletzt werden, so wahr es ist, daß Christus geboren und gen Himmel gefahren ist, so wahr er auf Erden gewandelt ist. Alles soll unbeschädigt bleiben. Ich beschwöre alle Gewehre und Waffen bei dem lebendigen Gotte im Namen † Gottes des Vaters † und des Sohnes † und des heiligen Geistes. – –

Gott mit uns.“

Dies und noch vieler andere Unsinn steht in dem „Briefe“.

Man sollte es gar nicht glauben, daß unzählige deutsche Männer an so Etwas glauben und sich wirklich für unverwundbar halten, wenn sie Derartiges bei sich tragen. Und dennoch habe ich von diesem Briefe nicht nur in den verschiedensten preußischen Provinzen sprechen hören, sondern ihn auch, während des noch andauernden Feldzuges, wörtlich in der Rheinpfalz gefunden. Es war in dem anmuthigen Städtchen Annweiler, in der liebenswürdigen Familie des Steuereinnehmers Herrn Rupertus, wo mir eine seiner Töchter ein Exemplar dieses Briefes als Curiosum zeigte. Irgend Jemand hatte dasselbe ihrem gegen Frankreich ziehenden Bruder als Universalmittel gegen Chassepots und Mitrailleusen mitgeben wollen.

Neben diesem so weit verbreiteten Aberglauben findet man auch noch so manchen andern; wobei es sich natürlich immer nur um das „kugelfest“ machen dreht. Was ich hierüber habe in Erfahrung bringen können, will ich noch in Kürze erwähnen.

Es ist ein vielfach verbreiteter Glaube unter den Soldaten, man müsse, ehe man in’s Gefecht geht, „drei“ Gegenstände von sich werfen. In Folge dessen sehen denn auch die Rendezvousplätze der Truppen nach dem Abmarsche oft verwunderlich genug aus. Sie sind bedeckt mit allem Möglichen, was der Soldat etwa entbehren kann: kleine Spiegel, Knöpfe, Knopfgabeln, Bürsten etc. liegen überall umher. Ganz besonders sind es Spielkarten, deren sich der Soldat gern auf diese Weise vor der Schlacht entäußert, da er annimmt, sie seien ein Werk des Teufels und „zögen die Kugeln an“. Deshalb findet man jene am allerhäufigsten unter den weggeworfenen Gegenständen. Besonders habe ich dies im Jahre 1866 in Oesterreich bemerkt, wo man die weggeworfenen Karten auf den verlassenen Bivouacsplätzen oftmals massenweise finden konnte. – Auf Camphausen’schen Gefechtsbildern kann man diese Wahrnehmung bisweilen angedeutet finden. – Auch Geld soll, aber in anderer, für den Besitzer heilbringender Weise „die Kugeln anziehen“. Deshalb sucht sich jeder Mann womöglich einige harte Thaler einzuwechseln, um sie in die verschiedenen Taschen zu vertheilen, weil er glaubt, die Kugeln werden ihn nunmehr nicht verwunden, sondern sich die Münzen als Ziel aussuchen und daselbst platt schlagen.

Man könnte nun fragen, ob es nicht Sache des Officiers sei, solchem Aberglauben zu steuern oder ihn sogar gänzlich auszurotten. Allerdings muß ich diese Frage bejahen; aber ich glaube nur, daß der Krieg selbst dazu nicht die geeignetste Zeit ist. Im Kriege ist der Soldat eine Maschine, die mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften arbeiten muß, gleichviel, woher sie dieselben nimmt. Der Schwache, der des Aberglaubens benöthigt ist, mag ihn zunächst behalten, wenn er nur hierdurch zu einem höchsten Kraftaufwande befähigt wird. Vielleicht aber dienen diese Andeutungen dazu, daß Ihnen auch von anderer Seite Beobachtungen und Erfahrungen auf diesem nicht nur dem Culturhistoriker interessanten Gebiete mitgetheilt werden.