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Titel: Eine offene Frage
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 97–100
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine offene Frage.

Die im vergangenen Herbst zu Berlin stattgehabte Waldeck-Feier rief mir ein Erlebniß in das Gedächtniß zurück. Wenn ich dasselbe hier wiedergebe, so habe ich mich hierbei von der Absicht leiten lassen, die Aufmerksamkeit auf eine Lücke in unserer Gesetzgebung hinzulenken. Vielleicht findet sich bei den nahe bevorstehenden Berathungen der Criminal-Gesetze für den Norddeutschen Bund Gelegenheit, diese Lücke auszufüllen.

An einem Sonntage wurde mir, der ich damals noch Gefängnißinspector war, ein junger Mann zugeführt. Seine Begleitung bestand aus einem Gensd’armen und zwei Polizeibeamten. Der Gensd’arm führte bei der Ueberlieferung das Wort, die Uebrigen verhielten sich schweigsam, selbst der Gefangene gab keinen Laut von sich.

„Den Vogel hätten wir!“ sagte der Gensd’arm. „Das ist ein Fang, wie ich ihn mein’ Lebtage noch nicht gemacht habe. Da sieht man wieder einmal, daß die Steckbriefe ihr Gutes haben. Freilich muß man sich die Mühe geben, den Steckbrief und namentlich das Signalement dem Gedächtnisse genau einzuprägen; dann hält es gar nicht schwer, die verdächtige Person zu greifen. Der da“ – er wies mit der Hand nach dem Gefangenen – „lief mir heute gerade in’s Garn, als ich den Steckbrief still nachbetete, der vor sechs Wochen hinter dem Mörder des Viehhändlers P– erlassen ist. Ich erkannte auf den ersten Blick die gesuchte Person; die Aehnlichkeit ist zu auffallend, sie ist zutreffend. Der Herr Staatsanwalt hat sich auch schon davon überzeugt. Verwahren Sie den Patron gut, Herr Inspector; es scheint sich der Mühe zu lohnen.“

Ich schenkte diesen Worten, die mit vielen Unterbrechungen gesprochen wurden, keine große Aufmerksamkeit, beschäftigte mich vielmehr mit der Durchsicht der mir gleichzeitig übergebenen Papiere und richtete nur einige Male meinen Blick von den Papieren fort und auf den Gefangenen. Dieser war unweit der Thür hoch aufgerichtet; in soldatischer Haltung stehen geblieben. Es war eine große, kräftige, sogar etwas starke Gestalt. Der Blick, der dem meinigen vielleicht zufällig begegnete, war ruhig und fest, die Farbe des Gesichts gesund, der Kopf mit schwarzen, glänzenden Haaren bedeckt. Von dem Gesicht war eigentlich wenig zu sehen; ein gutgepflegter, ungewöhnlich voller und langer Bart bedeckte die Wangen, die Oberlippe und das Kinn. Auf der hohen und breiten Stirn bemerkte ich über dem linken Auge eine Narbe, die etwa anderthalb Zoll lang sein mochte und nach oben zu unter den Haarwurzeln verlief. An der Kleidung zeigte sich kein Makel, sie war neu und modisch.

Die Persönlichkeit des Gefangenen hatte so viel Charakteristisches, daß sie leicht erkenntlich gemacht und eben so leicht erkannt werden konnte. Der Scharfsinn des Gensd’armen hatte daher auch keine besonders schwierige Probe zu bestehen gehabt.

Das Verhalten des Gefangenen während des Actes der Ueberlieferung war vollkommen unbefangen, genau so, als ob er frei, unbetheiligt und ein müßiger Zuschauer sei. Die Worte des Gensd’armen machten auf ihn keinen bemerkbaren Eindruck, er schien dieselben gar nicht auf sich zu beziehen und der ganze Auftritt ihn so zu sagen zu amüsiren.

Als die Sicherheitsbeamten mein Zimmer verließen, machte der Gefangene vor jedem Einzelnen eine tiefe Verbeugung, und kaum hatte der Letzte von ihnen die Thür hinter sich geschlossen, so schlug der Gefangene beide Hände klatschend zusammen, rieb diese sodann gegeneinander und lachte dabei so laut, so ungezwungen heiter und vergnügt, wie nur ein Mensch lachen kann, wenn ihm ein guter Streich gelungen ist oder wenn er auf Kosten eines Anderen sich belustigt hat.

Ich hatte an jenem Tage nicht gerade viel zu thun. Außerdem interessirte mich der Gefangene. Sein Auftreten war nicht gewöhnlich, seine Persönlichkeit gewinnend. und dann hatte ich auch bei der flüchtigen Durchsicht der mir übergebenen Papiere mich mühelos mit seinen Verhältnissen bekannt gemacht und Manches gefunden, das Theilnahme erregen mußte. Außer einem Reisepasse und einigen Rechnungsauszügen befanden sich unter diesen Papieren mehrere Briefe, welche gleichmäßig „Lieber, bester Mann“ überschrieben waren und fast in jeder Zeile Worte der innigsten Liebe und der treuesten Hingebung enthielten. Eine Stelle hatte hauptsächlich meine Aufmerksamkeit gefesselt, weil sie mir von dem Bestehen eines glücklichen Familienlebens Zeugniß gab.

„Nicht wahr, mein lieber, guter Mann“ – so lautete diese Stelle – „Du theilst meine Sehnsucht und meine Wünsche? Ich rufe mir stündlich Dein theures Ich vor die Augen, umschließe Dich mit meinen Armen und herze und küsse Dich nach Herzenslust. Ja, lache nur, mein Herzblatt; ich bin bei dieser Tändelei doch so unaussprechlich, so namenlos glücklich, daß nur die Wirklichkeit mich noch glücklicher machen könnte.“

Im Allgemeinen hält man die Gefängnißbeamten für Menschen ohne alles Gefühl. Es würde allerdings kein Wunder sein, wenn es so wäre, denn täglich tritt ihnen ja das menschliche Elend in den ergreifendsten Gestaltungen vor Augen. Die nicht zu zählende Wiederkehr desselben Anblickes könnte wohl das Gefühl abstumpfen, die Theilnahme schon im Keime ersticken, das Mitleid in der Brust gar nicht aufleben lassen. Und doch trifft das Alles nur in einzelnen und, Gott sei es gedankt, auch nur in seltenen Fällen zu. [98] In der Brust der weit überwiegenden Mehrzahl der Gefängnißbeamten wird es bei solchen tieftraurigen Scenen immer und immer wieder lebendig. Wenn auch bei den unzähligen Thränen, die er weinen sieht, das Auge trocken bleibt, wenn auch auf alle Klagen, die er ausstoßen hört, kein Wort des Trostes gesprochen wird, wenn kein Naß das Auge trübt, kein Laut dem Munde entschlüpft, keine Muskel das Erregtsein verräth: in der Tiefe der Brust ist es darum doch keineswegs kalt, da arbeitet es unaufhörlich mit gewaltiger, mit unwiderstehlicher Macht zum Mitgefühl und zur Theilnahme an fremdem Leide.

Vielleicht liegt dies darin, daß die Gestalten und die Kundgebungen bei jeder Wiederkehr wechseln, daß sie durch die Individualität und den Charakter des armen Elenden bestimmt werden, und daß, da Beides nur in den seltensten Fällen übereinstimmt, die Bilder immer neu erscheinen müssen. Bei mir ist es wenigstens so gewesen. Und deshalb konnte ich auch bei dem Lesen jener Stelle ein Ergriffensein nicht unterdrücken, weil ich zugleich an den Schmerz denken mußte, welcher der Briefschreiberin durch die Verhaftung des geliebten Mannes bereitet wurde.

Das Lachen des Gefangenen war kein gesuchtes, kein erkünsteltes, es war ungezwungen, natürlich und sogar ansteckend, denn ich konnte bei der ausgelassenen Lustigkeit des Gefangenen und bei den urkomischen Bewegungen, welche das Lachen begleiteten, kaum ernst bleiben.

„Thun Sie sich keinen Zwang an, mein Herr,“ rief der Mann lachend, „nehmen Sie Theil an meiner Freude, es ist ja ein Capital-Spaß, der viel zu reden geben wird. Diese, wie soll ich sagen? scharfsichtigen Wächter der Sittenpolizei sehen in meiner geringen Person einen Vagabunden –“

„Sie irren,“ warf ich hier ernst ein.

„Was, keinen Vagabunden? Nun, dann wohl gar einen Dieb?“

„Auch darin irren Sie,“ versetzte ich noch viel ernster.

„Aber was denn sonst? Giebt es denn noch Schlimmeres?“

„Gewiß, es giebt noch weit Schlimmeres.“

„Aber was denn? Sprechen Sie doch!“

„Sie sollen einen Mord verübt haben.“

Ich sagte das langsam, laut, jedes Wort stark betonend. Der Gefangene schien erschreckt zu sein, er lachte nicht mehr, er war ernst geworden. Diese Aenderung war auffallend, weil sie so urplötzlich eintrat. Was mochte sie bewirkt haben? War es die Schwere der Beschuldigung, oder wohl gar das Bewußtsein der Schuld? Ich konnte die Ursache nicht ergründen, mir war nur so viel klar, daß der Gefangene in seiner Verhaftung nicht mehr einen „Capital– Spaß“ sah.

„Habe ich denn das Aussehen eines – Verbrechers? –“ stammelte er nach einiger Zeit, ohne mich anzusehen.

Er sagte „Verbrecher“, nicht „Mörder“. Fürchtete er sich, dies Wort auszusprechen? Ich gab keine Antwort, ich konnte keine geben.

„Mein Herr,“ sagte er hierauf mit etwas mehr Festigkeit, „Sie haben meine Papiere durchgesehen, meine Papiere, die mich in jeder Beziehung als unverdächtig legitimiren müssen. Ich habe in dem Glauben gestanden, daß es nicht anders sein könne und nicht anders sein dürfe. Ich bin Kaufmann, ich besitze ein umfangreiches Geschäft. Das Verlangen, mit mehreren meiner Geschäftsfreunde persönlich bekannt zu werden, trieb mich von Hause fort. Ich habe den südlichen Theil von Frankreich und fast ganz Deutschland bereist, und war im Begriff, nach Hause zurückzukehren, als mir in Magdeburg eine Mittheilung gemacht wurde, die mich bestimmte, hierher zu kommen, um hier ein für mich nicht unwichtiges Geschäft zu ordnen.“

„Waren Sie schon früher in hiesiger Gegend?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.

„In hiesiger Gegend?“ wiederholte er fragend, dann fügte er rasch hinzu: „ja, ja, aber nicht hier in diesem Orte.“

„Wollen Sie mir sagen, wann das war?“

„Warten Sie, mein Herr,“ sagte er nachdenkend, „es mögen nahezu acht Wochen sein.“

Die Zeit traf so ungefähr mit der zusammen, in welcher der Mord verübt worden war. Mir genügte das, auf den Tag kam es mir gar nicht an, ich hatte auch kein Recht, nach dieser Richtung hin weitere Fragen zu stellen, nur über die Familien-Angelegenheiten des Gefangenen wollte ich noch Näheres erfahren, und dann wollte ich denselben auch vorbereiten auf die Leiden einer vielleicht sehr langen Haft.

„Sie sind verheirathet?“ fragte ich freundlicher als bisher.

„Ja, seit vier Jahren.“

„Und haben Kinder?“

„Einen Sohn, einen bildhübschen und klugen Jungen von drei Jahren, und Aussicht in der Kürze meine Familie um ein Glied vermehrt zu sehen.“

In diesem Augenblicke war mein Gefangener freudig bewegt, sein liebes Kind mußte ihm vor Augen stehen, die Erinnerung mußte ihm alle Freuden vergegenwärtigen, welche ihm aus dessen Besitze entsproßt waren. Ich durfte ihn in dieser Stimmung nicht lassen.

„Wollen Sie mir Auftrag geben,“ sagte ich nach kurzem Bedenken, „Ihre Familie von dem, was Ihnen hier begegnet ist, in Kenntniß zu setzen?“

„Wie meinen Sie? –“

„Ich fragte, ob Sie mir überlassen wollen, an Ihre Frau zu schreiben; ich würde das ausnahmsweise gern thun.“

„Sie wollen mich hier doch nicht zurückhalten?“

„Ich muß das thun!“

„Wie? Sie wollten mich –“

„Einschließen in das Gefängniß wie jeden anderen Gefangenen; ich muß meine Pflicht erfüllen.“

„Aber, mein Herr, ich habe in meinem ganzen Leben nichts gethan, was Sie dazu berechtigen könnte; man kann mir keine strafbare Handlung nachweisen; meine Papiere sind in vollständiger Ordnung, sie legitimiren mich; ich kann und muß verlangen, daß dieselben anerkannt werden und daß man mich ungehindert gehen läßt.“

„Mir steht hierüber eine Entscheidung nicht zu, sagen Sie dies Alles dem Untersuchungsrichter, dem Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden werden vorgeführt werden. Bemerken will ich nur, daß der Besitz der Papiere keineswegs die Möglichkeit einer vertretbaren Schuld ausschließt.“

„Mein Gott! mein Gott! was soll ich thun?“

„Sich in Geduld fügen und ruhig überlegen, was Sie zur Rechtfertigung beschaffen wollen und können.“

„Mein gutes Weib, mein liebes Kind!“

Das waren die letzten Worte, die ich in meinem Zimmer von ihm hörte. Er sagte sie mit allen Zeichen des tiefsten Schmerzes, und verfiel darauf in dumpfes Hinstarren, das ich durch kein Zureden beseitigen konnte.

Die Vorbereitungen zur Einschließung sind für jeden Gefangenen peinlich, sie sind eigentlich weit fühlbarer als das Einschließen selbst, und deshalb stoßen sie nicht selten auf Widerstand, ich möchte sagen willenlos. Sein Muth schien gebrochen, sein Geist erstarrt. Die Erinnerung an Weib und Kind mußte dies bewirkt haben. Ich fragte nicht darnach, ob er schuldig oder unschuldig sei, ich sah in ihm einen Unglücklichen, wie ich deren so viele zu beherbergen hatte, und nahm mir vor, gegen ihn, so weit dies irgend geschehen durfte, die Härte der Haft zu mildern. Er gab mir auch keine Veranlassung, die mich hätte bestimmen können, diesem Vorsatze untreu zu werden; er war still und fügsam und erfüllte alle Anforderungen, welche die Hausordnung an ihn stellte, tadellos. Bei dem Aufsuchen des Materials zur Ueberführung des vermeintlichen Verbrechers waren vielseitige und ungewöhnliche Kräfte in Bewegung gesetzt. Die Thätigkeit dieser verschiedenen Kräfte wurde noch durch pecuniäres Interesse gesteigert, da die Entdeckung des Verbrechers mit einer nicht unansehnlichen Summe Geldes gelohnt werden sollte.

Mein Gefangener war der Criminal-Justiz ein Object von unschätzbarem Werthe geworden, er mußte mit größter Sorgfalt verwahrt und behütet werden, und deshalb war es auch mir zur besondern Pflicht gemacht, persönlich ihn dem Untersuchungsrichter zu den Verhören vorzuführen, ihn überhaupt so viel als nur irgend möglich im Auge zu behalten. Ich erhielt dadurch Kenntniß von allen in der Voruntersuchung ermittelten Thatsachen und konnte mir somit durch eigene Wahrnehmungen ein Urtheil über die Schuldfrage bilden. Ein directer Beweis für die Schuld meines Gefangenen konnte nicht geführt werden, keines Menschen Auge oder Ohr war Zeuge der entsetzlichen That gewesen. Dennoch waren in nicht sehr langer Zeit eine Menge sogenannter Belastungs-Momente zusammengetragen, welche die Unschuld des Gefangenen immer zweifelhafter [99] erscheinen ließen. Das Verbrechen war, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt, auf offener Landstraße verübt. Der Beschädigte war ein reicher Viehhändler und außerdem ein Mann, der ungewöhnlich groß und stark gewesen sein sollte. Es waren dies Eigenschaften, welche zu der Annahme führten, daß der Mann seinem Angreifer Widerstand entgegengesetzt habe und nur erst nach hartem Kampfe erlegen sei. Dafür sprachen auch die große Zahl und die Beschaffenheit der Verletzungen. Die Gerichtsärzte hatten eine Schuß- und elf Stichwunden constatirt. Der Schuß war nach dem Kopfe abgefeuert worden. Die kleine Kugel, welche ungefähr den Umfang eines sogenannten Rehpostens gehabt haben sollte, hatte die Weichtheile der linken Wange in etwas schräger Richtung von unten nach oben zerrissen, während die verschiedenartig tiefen Stichwunden sich über die ganze Fläche des oberen Theiles der Brust verbreiteten. Aus diesem Befunde entnahm man Belastungs-Momente für meinen Gefangenen. Man sagte, er sei mindestens eben so groß als der Beschädigte und jedenfalls eben so stark als dieser gewesen; er habe daher den Angriff unternehmen und siegreich bestehen können.

In dem Besitze des Gefangenen waren ein kleines Terzerol und ein dolchartiges Messer gefunden worden. Beide Waffen sollten nach dem übereinstimmenden Gutachten der Gerichtsärzte zu den an der Leiche vorgefundenen Verletzungen passen, namentlich das Messer genau in die Stichwunden. Bis zu dem Orte der That hatten zwei, von demselben fort nur eine Fußspur geführt. Es war unzweifelhaft, daß die letztere von dem Thäter zurückgelassen sein mußte. Dieselbe war daher auch mit großer Sorgfalt beobachtet, ausgemessen und nachgezeichnet worden. Die durch Sachverständige ausgeführte Vergleichung dieser Zeichnung mit dem Schuhwerke meines Gefangenen führte zu dem Ausspruche, daß Beides, Schuhwerk und Zeichnung, in der genauesten Uebereinstimmung sich befände.

Mein Gefangener und der ermordete Viehhändler hatten am Tage vor dem Auffinden der Leiche in demselben Gasthofe verkehrt und waren am Abend fast zu gleicher Zeit, der Viehhändler kaum eine Viertelstunde früher, von dort abgereist, und zwar Beide zu Fuß, weil ein Wagen nicht hatte beschafft werden können. Der Gefangene wurde von mehr als zehn Zeugen mit der größten Bestimmtheit wiedererkannt. Es wurde aber auch von einigen Zeugen noch bemerkt, daß derselbe anfangs in dem Gasthofe habe übernachten wollen, daß er nach der Abreise des Viehhändlers unruhig geworden sei und dann plötzlich erklärt habe, daß er nicht bleiben könne, daß er fortmüsse. Seine Abreise habe dann „Hals über Kopf“, wie sich die Zeugen ausdrückten, stattgefunden.

Ich habe bereits erwähnt, daß mein Gefangener oberhalb des linken Auges eine Narbe hatte. Aehnliche, aber weniger tiefe Narben waren auf der Oberfläche der linken Hand vorgefunden. Nach dem Ausspruche der Sachverständigen traf das Alter dieser Narben mit der Zeit der Verübung des Mordes zusammen. Die Entstehung blieb unaufgeklärt. Der Gefangene wollte die Verletzungen bei Gelegenheit eines unglücklichen Falles, also zufällig erhalten haben, vermochte aber für seine Behauptung Beweis nicht beizubringen. Ebensowenig war er im Stande nachzuweisen, wo er sich zur Zeit der Verübung des Mordes befunden hatte. Auch über das Motiv der That schien kein Zweifel zu bestehen. Der Viehhändler hatte in dem Gasthofe eine große Summe Geld gehabt, und diese auch mit fortgenommen. Bei seiner Leiche war davon nichts vorgefunden, der Thäter mußte daher das Geld sich angeeignet, ihm konnte der Mord nur als Mittel zur Erlangung des Geldes gedient haben.

Bemerkenswerth ist hierbei noch der Umstand, daß nur allein das Geld vermißt wurde, daß alle übrigen Werthsachen, namentlich eine alte, aber kostbare Uhr, noch bei der Leiche vorgefunden worden waren. Es sollte hieraus hervorgehen, daß der Thäter mit kluger Berechnung verfahren und vorsichtig Alles, was die Entdeckung zu erleichtern geeignet sein mußte, zu beseitigen bestrebt gewesen war. Von einem gewöhnlichen Verbrecher sollte ein solches umsichtiges Handeln nicht anzunehmen sein.

Endlich muß ich noch eine Auskunft erwähnen, welche die Ortsbehörde des Gefangenen dem Untersuchungsrichter gegeben hatte. Es war darin gesagt, daß dem Gefangenen nichts Nachtheiliges nachgesagt werden könne, daß derselbe aber in der letzteren Zeit mehrfache nicht unerhebliche Verluste erlitten haben solle. Man wird zugeben müssen, daß jedes einzelne Moment völlig werthlos war, oder doch nur eine geringe Bedeutung hatte, daß dieselben aber zusammengerechnet ein Gewicht erlangen konnten, unter dessen Druck der Gefangene erliegen mußte.

Der Untersuchungsrichter arbeitete fast Tag und Nacht. Die Verhöre wurden häufig abgebrochen, und nach Verlauf von einer halben, höchstens einer vollen Stunde wieder aufgenommen und dann nicht selten bis spät Abends fortgesetzt. Er ließ wenigstens in den ersten Tagen der Haft meinen Gefangenen gar nicht zur Ruhe kommen. Die dadurch herbeigeführte fortdauernde Aufregung und der Mangel jedes Ruhepunktes hatten für denselben die bedauerlichsten Folgen. Sein Geist erlahmte, er hielt den Schlägen nicht mehr Stand.

„Was nützt es denn auch,“ sagte er eines Tages, „daß ich wiederholt versichere, unschuldig zu sein? Man glaubt mir ja nicht, weil ich schuldig sein soll, oder schuldig sein muß. Mein Streiten hilft zu nichts, es ist nutzlos.“

Das wurde bei ihm zur fixen Idee. Alle Vorstellungen waren vergeblich, jeder Zuspruch erwies sich wirkungslos, er verharrte in dem Wahne, daß er unter allen Umständen der Schuldige sein solle. Wenn ich ihn in seine Zelle zurückbrachte, so warf er sich regelmäßig auf die Bank, stützte den Kopf auf beide Hände und starrte schweigend vor sich hin. Und wenn ich dann Fragen an ihn richtete oder ihn zu trösten versuchte, so schreckte er zusammen, er blieb aber in seiner Stellung und verharrte in seinem Schweigen. Dieser Zustand übertrug sich auch auf sein Verhalten vor dem Untersuchungsrichter. Er sprach entweder gar nicht oder gab, wenn er dazu gedrängt wurde, kurze, einsilbige Antworten. Einige Tage später schien es mir sogar, als ob er die an ihn gerichteten Fragen gar nicht verstehe, die Worte einzeln sich erst klar machen, die Bedeutung derselben erst aus weiter Ferne herbeiholen müsse. Der Zustand, in welchen der Gefangene lediglich durch die Haft und durch die Untersuchung versetzt war, verstärkte meine Theilnahme. Ich glaubte darin eine Geistesstörung finden zu müssen und fürchtete, daß diese immer tiefere Wurzeln schlagen und zuletzt unheilbar werden möchte. Der Gefängnißarzt bestärkte mich in dieser Annahme. Derselbe verordnete zwar auch verschiedene Heilmittel, erklärte aber gleichzeitig, daß er sich nur dann Erfolg verspreche, wenn der Gefangene durch irgend ein ungewöhnliches Ereigniß aus seinem lethargischen Zustande aufgerüttelt werde.

Dies Ereigniß wollte ich herbeiführen. Ich schrieb an die Frau des Gefangenen. Ich schilderte ihr den Zustand ihres Mannes wahr und treu, und forderte sie auf, entweder selbst zu kommen, oder, wenn sie dazu nicht im Stande sein sollte, von dort aus Schritte zu thun, welche eine Aenderung zu erwirken geeignet sein möchten.

Ich habe später unzählige Male gewünscht, diesen Brief nicht geschrieben zu haben; er hat entsetzliches Unheil angestiftet. Der Frau war bis zu dessen Empfange das Schicksal ihres Mannes unbekannt gewesen, da das Verbrechen weit ab von dem Wohnorte des Gefangenen verübt war und die hier veranlaßten behördlichen Nachforschungen, wie dies in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, geheim gehalten worden waren. Der Schreck, die Furcht und die Angst in Verbindung mit ihrem ohnedies schon reizbaren Zustande hatten sie niedergeworfen und, nachdem sie eine unzeitige Entbindung überstanden, dem Tode in die Arme geführt. Mein Gefangener war Wittwer, er hatte nur noch für einen Sohn zu sorgen. Die Nachricht von dem Tode seiner Frau war aber das Ereigniß, welches den Gefangenen mit einem Male der Theilnahmlosigkeit entriß. Die Aeußerungen seines Schmerzes waren gewaltig und langdauernd, ein rührendes Zeugniß für die Liebe zu der Verstorbenen, allein sie machten ihm in demselben Verhältnisse, in welchem sie schwächer wurden, den Kopf und die Brust frei und bewirkten, daß er wieder denken lernte, daß er seine Lage übersehen und sich auf den Kampf für seine Unschuld vorbereiten konnte.

Nach etwas länger als acht Monaten war endlich die Untersuchung geschlossen, die Anklage erhoben und die Versetzung in Anklagestand wegen Raubes und Mordes beschlossen. Das nächste Schwurgericht sollte in der Sache entscheiden. Im Allgemeinen zweifelte man nicht an der Verurtheilung, nur einzelne Stimmen wollten die erbrachten Beweise nicht für zureichend erachten, sie meinten, daß bestimmtere Anzeichen dazu gehörten, um ein Todesurtheil fällen zu können und daß deshalb eine Anklage gar nicht hätte erhoben werden sollen.

Bevor das Schwurgericht zusammentrat, bevor also eine [100] Entscheidung gefällt werden konnte, kam die Untersuchung ganz unerwartet in eine andere Lage. Bei der Nachsuchung nach gestohlenem Gute wurde in dem Hause eines wegen Diebstahls schon mehrfach bestraften Menschen eine nicht unerhebliche Summe Geld gefunden, und zwar in einem Verstecke, das äußerst sorgfältig ausgewählt und nur durch Zufall entdeckt war. Der ehrliche Erwerb des Geldes konnte nicht nachgewiesen werden, die in dieser Beziehung gemachten Angaben stellten sich sofort als Lügen dar. Es war daher mit Sicherheit anzunehmen, daß das Geld durch unredliche Handlungen in den Besitz des Mannes gekommen war. Dasselbe wurde mit Beschlag belegt, in Verwahrung genommen, der Fund öffentlich bekannt gemacht und gleichzeitig an die unbekannten Eigenthümer die Aufforderung gerichtet, ihre Ansprüche darauf geltend zu machen und zu diesem Zwecke das Geld in Augenschein zu nehmen.

Unter den Personen, welche sich in Folge dieser Aufforderung bei der betreffenden Behörde meldeten, hatte sich auch die Wittwe des ermordeten Viehhändlers befunden. Die Angaben derselben bezüglich der Summe und der verschiedenen Sorten hatten ziemlich genau mit dem Bestande gestimmt, eine Differenz von wenigen Thalern hatte sich nur bei dem Silbergelde herausgestellt. Die Frau hatte aber auch erklärt, daß, wenn das Geld von ihrem Manne herrühre, sie davon zwei Stücke, einen Papierthaler und einen Ducaten, mit voller Bestimmtheit wieder erkennen werde.

Das Geld war ihr sodann sortenweise vorgelegt worden, erst das Silber- und dann das Papiergeld. Das erstere hatte sie gar nicht berührt, von dem letzteren aber jedes einzelne Stück mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Kein Wort war dabei gesprochen worden, die Anwesenden hatten mit der größten Spannung der Entwickelung entgegengesehen. Bereits waren einige siebenzig Stück betrachtet und wortlos bei Seite gelegt, da hatte die Frau mit einem Male einen Schrei ausgestoßen, einen Schrei, der Ueberraschung und Schreck zugleich ausdrückte; die Hände ließen einen eben erst erfaßten Papierthaler wieder auf den Tisch fallen, die Frau konnte sich nicht aufrecht halten und war auf den ihr untergeschobenen Stuhl niedergesunken. Später hatte dieselbe nicht allein den Papierthaler, sondern auch den gleichfalls noch vorhandenen Ducaten unter Angabe der zuverlässigsten Erkennungszeichen recognoscirt. Man konnte daher kaum noch bezweifeln, daß man das Geld vor sich habe, welches dem Viehhändler jedenfalls erst nach seinem Tode abgenommen worden war. –

Das war das Ereigniß, welches die Untersuchung gegen meinen Gefangenen in ihrem regelmäßigen Verlaufe aufhielt und in eine andere Lage zu bringen schien.

Der Untersuchungsrichter beschäftigte sich von diesem Zeitpunkte an mit zwei Schuldigen. Die Thätigkeit des Einen sollte mit der Tödtung des Viehhändlers abschließen, die Thätigkeit des Andern erst nach diesem Zeitpunkte beginnen, der Eine sollte also Mörder, der Zweite Dieb sein. Ein gemeinschaftliches Handeln Beider wurde nicht angenommen, weil für ein solches alle Anzeichen fehlten.

Die Einzelnheiten der zweiten Untersuchung gehören nicht hierher.

Nach weiteren vier Monaten endlich standen beide Beschuldigte vor den Geschwornen. Beide hatten bis dahin ihre Schuld in Abrede gestellt; gegen Beide konnte der Beweis für die Thäterschaft der ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht direct geführt werden, gegen Beide waren aber eine Anzahl Verdachts-Momente festgestellt, deren Erheblichkeit nicht nach gesetzlichen Bestimmungen abgewogen werden konnte, deren Gewicht vielmehr der freien, durch nichts eingeschränkten Entschließung der Geschworenen anheimgegeben war. Es konnte deshalb auch von dem geschicktesten Rechtsverständigen nicht vorher gesagt werden, wie die Entscheidung ausfallen werde. Die Ungewißheit machte die Zeit bis zum Bekanntwerden des Wahrspruchs für die Beschuldigten peinlich, sie erhielt aber gleichzeitig das Interesse für die Sache in einem weiten Kreise lebhaft.

Mein Gefangener war dabei wohl am wenigsten beunruhigt. Er zeigte sich auf der „schwarzen Bank“ völlig unbefangen; seine Haltung war ungebeugt, sogar straff, seine Sprache fest, sein Blick frei und klar, nichts verrieth Unsicherheit oder Furcht. Als er von dem Präsidenten gefragt wurde: „Bekennen Sie sich schuldig?“ da sagte er:

„Nein, ich bin nicht schuldig. Mir ist himmelschreiendes Unrecht geschehen. Ich sitze länger als Jahresfrist in Haft. Mein Name ist gebrandmarkt, mein Geschäft ruinirt, ja vernichtet, und noch mehr, – noch mehr: der Gram hat zwei Menschenherzen, die jetzt noch in Lust und Liebe mir zur Seite leben würden, gebrochen, gebrochen vielleicht in dem Wahne, daß ich schuldig sei!“

Diese Worte enthielten eine Anklage von unendlicher Schwere. War mein Gefangener unschuldig, wie er zu sein behauptete, wem mußte all’ das Unglück beigemessen werden, das aus seiner Haft hervorgegangen war, und das er mit lauter Stimme in die Oeffentlichkeit hineingerufen hatte? –

Der zweite Angeklagte machte einen widerlichen Eindruck. Aus seinem Gesicht sprachen finsterer Trotz, Furcht und Scheu. Der stiere Blick war stets nach unten gerichtet, und wenn er sich ja von da losriß, so geschah dies nur in Folge einer besonderen Veranlassung und in auffallender Hast. Es kam mir sogar vor, als erwarte der Mensch in jedem Augenblicke einen Schlag und als wisse er nur nicht, von welcher Seite und von welcher Hand er kommen werde.

Dieser Schlag traf ihn, er kam von einer Seite, von der er ihn wohl kaum erwartet hatte.

Die Verhandlung ging dem Ende entgegen. Die Angeklagten waren verhört, die Zeugen und Sachverständigen vernommen; der Staatsanwalt hatte die Anklage aufrecht erhalten und gegen beide Angeklagte das „schuldig“ beantragt; der Vertheidiger meines Gefangenen hatte die Schutzrede gehalten und ein „Nichtschuldig“ gefordert; da wurde der Letztere gefragt: ob er selbst zur Vertheidigung noch etwas zu sagen habe?

Mein Gefangener erhob sich langsam von der Anklagebank, er schien mit einem Entschlusse zu kämpfen und nicht in’s Reine kommen zu können. Als er hoch aufgerichtet dastand, die Arme leicht auf die Lehne der Bank gestützt, ließ er den Blick langsam im Saale umherschweifen und zuletzt mit einem ganz eigenthümlichen Ausdrucke auf dem ihm zur Seite sitzenden Verbrecher ruhn. Aller Augen waren auf den Gefangenen gerichtet, Jeder schien zu erwarten, daß er sprechen werde. Aber er schwieg. Da plötzlich belebten sich seine Augen, seine Hände rissen sich von der Banklehne los, und indem er die eine blitzschnell, aber leicht auf den Kopf des Verbrechers legte, schrie er mit einer Löwenstimme:

„Hier, hier sitzt der Mörder! Sage ‚nein‘, wenn Du es nicht bist!“

Der Mörder – er war es wirklich – zuckte wie vom Schlage gerührt zusammen und – schwieg. Dies Schweigen sagte mehr, als Worte es hätten thun können.

Mein Gefangener blieb stehen und ließ seine Hand auf dem Kopfe des Verbrechers liegen. Er wendete sich zu den Geschworenen.

„Ich glaube in Ihrer Seele zu lesen,“ sagte er, „daß Sie das Schweigen dieses Mannes verstehen; es muß auch den leisesten Zweifel an meiner Unschuld fortnehmen.“

Der Wahrspruch der Geschworenen lautete: nicht schuldig, und das Urtheil des Gerichtshofs: Freisprechung von Strafe und Kosten und sofortige Entlassung aus der Haft.

Als das Letztere verkündet war, stand mein Gefangener auf:

„Herr Präsident,“ sagte er, „erlauben Sie mir nur noch einige Worte. Wie ich jetzt vor Ihnen stehe, bin ich – nicht durch meine Schuld – ein ruinirter elender Mann! Wer entschädigt mich nun – nicht wegen der Leiden, die ich im Gefängnisse ertragen habe, nicht wegen des Verlustes eines geliebten Weibes, denn das läßt sich mit Geld nicht aufwiegen, aber wer giebt mir Ersatz für die pecuniären Nachtheile, die mir durch die Haft zugefügt ist, wer die Mittel, um mir auch die bescheidenste Existenz aus den Trümmern der frühern wieder aufzubauen?“

Der Präsident zuckte mit der Schulter und – schwieg. Die Frage ist noch nicht beantwortet, sie ist augenblicklich noch immer offen. Mein Gefangener hat alle Instanzen durchlaufen, aber bis heute erfolglos. Die Antwort kann ihm nicht gegeben werden, weil es an einer gesetzlichen Bestimmung fehlt.

Darf eine solche Grausamkeit, wie sie nicht vereinzelt dasteht, im neunzehnten Jahrhundert noch ferner fortdauern? Und sollte der nächste zusammentretende Reichstag für diese Frage nicht endlich Abhülfe suchen und schaffen können?