Eine kleine Republik in der Ostsee

Textdaten
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Autor: Friedrich Pilzer
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Titel: Eine kleine Republik in der Ostsee
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41–42, S. 649–651, 663–665
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[649]
Eine kleine Republik in der Ostsee.
Reiseskizze von Friedrich Pilzer.

Vorstehende Überschrift wird selbst den in der Geographie bewanderten Leser in Erstaunen setzen. Trotzdem hat es mit ihr seine Richtigkeit. Fünfzehn Meilen nordwestlich von Riga, ziemlich in der Mitte des weiten Beckens des Rigaischen Meerbusens liegt, von den blauen Wogen umspült, eine kleine Insel, so klein und so umgeben von gefährlichen Untiefen, daß von jeher alle Seefahrer es vorgezogen haben, daselbst keinen Besuch abzustatten, es sei denn, daß es der höchst unfreiwillige einer Strandung gewesen wäre. Es ist dieses die kaum eine halbe Quadratmeile große Insel Runoe. Wenn Runoe auch zu dem Ländergebiete Seiner Majestät des Kaisers aller Reußen gehört und seine Bewohner auch als russische Unterthanen steuer- und militärpflichtig sind, so bestehen sämmtliche gouvernementalen Beziehungen zwischen ihnen und der russischen Regierung doch fast einzig und allein darin, daß sie alljährlich einmal der nächsten ihnen vorgesetzten Kronbehörde zu Arensburg auf der Insel Oesel eine gewisse Steuer und eine bestimmte Summe an Stelle eines Rekruten schicken. In allen übrigen gouvernementalen und socialen Angelegenheiten sind sie ganz und gar sich und ihren alten republikanischen Einrichtungen und Gesetzen überlassen. Die selbst für Seeleute so schwierige Zugänglichkeit der Insel macht es der Regierung und ihren Organen wünschenswerth, mit dem überaus charakteristischen und bei allen tüchtigen Eigenschaften bis zur Halsstarrigkeit selbstständigen Völkchen so wenig als möglich zu thun zu haben. Unter den so verschiedenartigen Ostsee-Nationalitäten besitzen die Runoer ohne Zweifel die auffallendsten Eigenthümlichkeiten. Sie würden einem Culturhistoriker prächtigen Stoff liefern.

Da es auch hier, in Riga, nur wenige Seeleute giebt, welche eine Fahrt nach Runoe unternehmen, so begrüßte ich den Entschluß eines hiesigen Capitäns, eine solche zu arrangiren, auf das Freudigste. Seiner erprobten Erfahrung in den Launen und Wandelbarkeiten der Ostsee durfte man sich sorglos anvertrauen. An einem herrlichen Sonntag Morgens trat das Dampfboot „Fellin“ mit circa hundert Passagieren von Riga aus seine kleine Expedition nach der Insel Runoe an und erreichte sie nach kurzer und ruhiger Fahrt. Um sicher und bequem vor Anker gehen zu können, mußte das Schiff des bedenklichen Fahrwassers wegen fast um die ganze Insel herumfahren und konnte sich derselben auch dann nicht mehr als auf etwa einviertelstündige Entfernung nähern, welche Strecke wir auf Böten zurücklegen mußten. Einige von unserem Schiffe abgefeuerte Kanonenschüsse gaben den Runoern die erste Nachricht von dem ihnen zugedachten Besuche.

Als unser Schiff vor Anker ging, war es am Ufer leer und still. Der dichte dunkle Wald, der sich hinter den flachen sandigen Dünen circa vierhundert Schritte weit vom Ufer erhebt, ließ in der Windstille seine hohen Wipfel starr und schweigsam emporragen. Die ganze Insel schien einsam und verlassen. Doch etwa eine halbe Stunde nach dem ersten Kanonenschuß zeigten sich am Saume des Waldes hohe prächtige Männergestalten, deren Zahl fort und fort zunahm. Bald gesellten sich zu ihnen auch Frauen und Kinder. Alsdann sahen wir, wie sich von den Andern ungefähr zwölf Männer trennten, welche, indem sie ziemlich lebhaft gesticulirten, etwas zu berathen schienen und darauf eilig im Dickicht des Waldes verschwanden. Wir waren auf ihre Absichten in der That neugierig geworden. Einer aus unserer Gesellschaft meinte scherzend: „Sie werden wohl ihre Flinten holen.“ Doch sie hatten bei Weitem friedlichere Absichten; denn man sah sie alsbald mit Böten um einen Vorsprung der Insel herum- und auf unser Schiff zukommen, um bei dem Uebersetzen behülflich zu sein.

Während dies geschah, schritten die Männer, welche am Waldessaum geblieben waren, mit ihren Knaben zum Ufer herab; die Frauen und Mädchen blieben oben. Der Eindruck, den Gestalten, Haltung und Gang der Männer und Knaben schon jetzt auf uns machten, war, da wir eben nur eine von aller Civilisation und günstigen Cultureinwirkung abgeschlossene dürftige Fischerinsel vor uns zu haben glaubten, ein recht romantischer. Da war nichts von dumpfer Blödigkeit oder gedrücktem Leben zu bemerken. Die einfache, aber kleidsame Tracht – breitkrämpiger Filzhut, gestreifte oder einfach graue Jacke, helle weite Beinkleider, die um die Hüften fest anschließen und bis zum Knie reichen, und dann Gamaschen mit Pasteln (ein Schuhwerk, das eine Zusammensetzung von Strumpf und Sandale ist) oder gar keine weitere Bekleidung des Unterbeines – bildete zu der männlichen Haltung und dem fast stolzen Gange einen interessanten Contrast, und eigenthümlich hübsch nahm es sich dabei aus, daß diese bewußtvolle freimännliche Haltung sich bis hinab zu den kleinen Knaben wiederholte, die, mit ihren tiefblauen blitzenden Augen dem Landen der fremden Gäste zuschauend, in der ungezwungenen Festigkeit ihrer Stellung, die Arme über die Brust gekreuzt, dem Maler Stoff zu den liebenswürdigsten Studien geliefert haben würden.

Das Landen sämmtlicher Besucher inclusive der von uns mitgebrachten vierzig Mann Militärmusik war erfolgt, und nun gingen wir zum Waldessaum hinan, um der daselbst harrenden weiblichen Bevölkerung der Insel unsere pflichtgemäße Aufwartung zu machen. Wir wurden von derselben freundlich empfangen. Keine Einzige zeigte Verlegenheit oder gar Aengstlichkeit, im Gegentheil waren sie alle von einer gewissen bescheidenen Zuthunlichkeit, die einen recht angenehmen Eindruck machte. Sie sind mit wenigen Ausnahmen nicht eben schön, wenigstens werden ihre Gesichter durch die gesteiften hohen, bis tief in die Stirn hineingehenden Mützen sehr entstellt; aber sie haben, wie auch die Männer, alle schöne, gesund strahlende, lebhafte Augen, sind zum Theil schlank und groß, alle aber gut gewachsen und, ebenfalls wie die Männer, von gewandter Tournüre, was sich besonders später beim Tanz in überraschender Weise zeigte. Sie scheinen viel auf Putz zu geben, denn ihr Sonntagsstaat strahlte von bunten Tüchern, Spangen, Ketten etc. Einige trugen dreierlei verschiedene Perlenschnüre, von Bernstein, von blauen Perlen und von Wachsperlen. Ihre Zutraulichkeit stieg, als einige Herren Ketten und sonstige Schmucksachen unter ihnen vertheilten und die Kinder mit Spielsachen beschenkten. Es wurde Alles mit bescheidenem Dank, ohne daß die Frauen sich herzugedrängt, noch ohne daß sie sich irgend genirt hätten, angenommen. Bei Allem hatte ihr Benehmen etwas ungezwungen Sicheres.

Als alle Fahrgäste beisammen waren, setzte sich der lange Zug der Einwohner und Fremden unter den schmetternden Klängen der Militärmusik in Bewegung, um zum Dorfe zu gelangen, das drei Werst von unserm Landungsplatze entfernt lag. Die Runoer machten feiertäglich vergnügte Gesichter, die alten Fichten aber schüttelten verwundert ihre Häupter ob des unerhörten Ereignisses. [650] Sie hatten, so alt sie waren, außer den Dorfgeigern, keine Musik gehört und seit fünfzehn Jahren, wo die Insel zuletzt von einer kleinen Expedition besucht wurde, keinen modern gekleideten Menschen in ihrem Schatten gesehen. –

Da uns bis zur Rückfahrt nach Riga nur der kurze Aufenthalt von wenigen Stunden auf der Insel vergönnt war, ein Zeitraum, der kaum hinreicht, nur die oberflächlichste Neugier nach den eigenthümlichen Menschen und Verhältnissen zu befriedigen, so hatte ich vorher, um wenigstens einigermaßen orientirt anzukommen, eine Schilderung der Insel von J. G. Kohl in seinem bekannten Buche über „die deutsch-russischen Ostseeprovinzen oder Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland“ gelesen, merkte aber sehr bald, daß diese Lectüre nichts als eine verlorene Mühe war. Herr Kohl, das „correspondirende Mitglied der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst“, erzählt z. B., daß Runoe holzarm sei, sehr wenig größere Bäume und nur niedriges Gebüsch und deshalb lauter steinerne Häuser besitze. Unser Weg in das Innere der Insel, der durch einen dichten, oft recht dunkeln Wald hoher kräftiger Fichten führte, und der Anblick des Dorfes, das ohne Ausnahme hölzerne Hänser hat, bestätigte mein erwachtes Mißtrauen gegen das „correspondirende Mitglied“, dessen Mittheilungen ich vollends ad acta legen mich bewogen fühlen mußte, als ich durch die Runoer erfuhr, daß seine Angabe von tausend Einwohnern der Insel sich in Wirklichkeit auf eine Gesammtzahl von circa vierhundert reducirt. Da Kohl sich so unzuverlässig erwies, so mußte ich mich, so gut es ging, durch Ausfragung der Bewohner mit später vorzunehmender Vervollständigung durch zuverlässigere Werke zu belehren suchen. Die Verständigung mit den Runoern ging ziemlich glatt von Statten, da sie, wenn auch das Schwedische ihre eigentliche Muttersprache ist, doch fast Alle, wenigstens die Männer, zufolge ihres Verkehres mit Riga und den diesseitigen Ostseeküstenbewohnern, eine Art Plattdeutsch sprechen.

Dennoch hatte das Examen, das ich in dieser Weise, um keine Zeit zu verlieren, schon auf dem Wege zum Dorfe mit den Insulanern vornehmen mußte, seine Schwierigkeiten. Das Benehmen der in freudigem Stolze über die Ehre eines so zahlreichen fremden Besuches einherschreitenden Bauern, ihre strahlenden Gesichter bei den für die Meisten von ihnen so fremdartigen und berauschenden Klängen der weithin schallenden Musik, die Wonne, mit der die Mädchen unsere Nachricht empfingen, daß diese schöne Musik auch später zum Tanze aufspielen werde – das Alles hatte für uns Besucher etwas so Anziehendes, daß es meinerseits mit den trockenen Fragen ebensowenig recht vorwärts wollte, als die durch die Ueberraschung etwas zerstreuten Runoer, die höchst verzeihlicherweise mehr auf die Musik als auf meine lästigen Fragen hörten, besondere Lust zum Antworten verspürten.

Ich glaube, wenn Heinrich Heine diese Fahrt mitgemacht hätte, so würde er mit malitiöser Entrüstung uns in die Ohren geflüstert haben: „Aber meine Herren, sehen Sie denn nicht die emporragende männliche Haltung, den majestätischen Gang, die tiefklaren Blicke und stolz zuckenden Lippen der Männer von Runoe? Machen dieselben nicht den unabweisbaren Eindruck, als stammten sie sammt und sonders von einem uralten nordischen Fürstengeschlecht ab, das sich, vielleicht weil ihm die übrige Welt zu schlecht war, vor Jahrhunderten auf dieses entlegene Eiland in stolzer Selbstgenügsamkeit zurückgezogen hat? Und Sie, meine Herren, lassen von diesen Männern Ihre Plaids und Paletots und große Körbe mit Wein und Bier, ja sogar, ich wage es kaum auszusprechen, ganze ,Paudelchen’ mit Butterbroden tragen?“ Glücklicherweise war „der ungezogene Liebling der Grazien“ nicht unter uns, um zu seinen Nordsee-Phantasieen eine Fortsetzung in Form von Ostseebildern zur Welt zu bringen. Ich suchte den romantischen Blüthenstaub von mir abzuschütteln, indem ich erst den hochgewachsenen jungen Menschen, der, neben mir herschreitend, meinen Paletot trug, scharf von der Seite ansah und dabei zur Beruhigung meines Gewissens doch einiges Unfürstliche an ihm wahrnahm, und mich dann zu einem bejahrten Runoer wandte, von dem ich ein Eingehen auf meine Fragen erwartete.

Ich hatte mich in ihm nicht getäuscht. An seinen Antworten merkte ich, was ich bei anderen Runoern später bestätigt fand, daß dieses Inselvölkchen mit wahrhaft imponirendem Stolze von seiner durchaus selbstständigen und freien Regierungs- und Verwaltungsweise spricht. In ihrem seemännisch-deutschen Jargon sagen sie Alle mit stolzem Selbstbewußtsein, welches wohl viel zu ihrer männlichen Haltung beiträgt: „Wir selbst wählen unsere neun Männer, die über Recht und Unrecht entscheiden. Wenn wir unsere jährlichen Steuern nach Arensburg gebracht haben, darf Niemand außer unseren neun Männern auf Runoe etwas anordnen; denn ,wir haben unsere geschriebenen Frühüten’!“

Ich fragte, ob sie diese geschriebenen Freiheiten immer gehabt hätten?

„Ja, immer, wir hatten sogar vor vielen hundert Jahren noch viel mehr geschriebene Frühüten, aber da war slechter König Earolus von Sweden, der uns große Frühüten fortgenommen hat.“

Näheres über diesen König Carolus und die geschriebenen Freiheiten, die er genommen, konnte ich nicht von ihnen erfahren.

Die mündliche Ueberlieferung des positiv Geschichtlichen ist bei den Runoern mit der Tradition der Sage in so naiver anachronistischer Weise vermischt, wie es bei einem naturwüchsig intelligenten, aber culturarmen Volke nur der Fall sein kann. Später fand ich über diesen grausamen König Carolus, der an dem schrecklichen Freiheitenraub unschuldig wie ein Kind zu sein scheint, trotz des Dunkels, welches über der Geschichte von Runoe schwebt, einigen Aufschluß; in Ekman’s „Beskrifning om Runoe“ lesen wir: „Carl der Zwölfte (von Schweden) fuhr 1700, als er von Domesnees nach Pernau sich übersetzen ließ, an Runoe vorbei, wo damals, wenigstens seit 1689, ein schwedischer Commandeur nebst einem Lieutenant, Namens Andreas Lindenberg, und einem Commando Soldaten stand, das aber 1708 von den Russen, die mit einem Kriegsfahrzeuge landeten, überfallen und größtentheils niedergemacht wurde; 1713 leisteten die Runoer den Huldigungseid, und seitdem war Runoe in politischer und kirchlicher Hinsicht immer von Oesel abhängig.“

Was für geschriebene Rechte König Carolus ihnen genommen, wußte mir kein Runoer zu sagen. Mein Runoe’scher Geschichts-Docent, der bejahrte Einwohner nämlich, steifte sich blos darauf, daß es „sehr viele gesriebene Frühüten“ waren. „Aber,“ fragte ich ihn, „habt Ihr denn mit Eueren jetzigen Freiheiten noch nicht genug? So viel Freiheit und Selbstständigkeit, wie Ihr, besitzt ja kein Volk.“

Im Widerspruch zu dem Stolz und Selbstbewußtsein, womit der Alte vorhin von den Runoe’schen Freiheiten gesprochen, schien er über meine letzten Worte sehr erstaunt.

„Was, Ihr habt nicht so viele Freiheiten, als wir?“

„Nein,“ sagte ich, „nicht die Hälfte.“

„Dürft Ihr denn nicht thun, was Ihr wollt?“

Ich mußte natürlich „nein“ antworten, denn gegenseitige Wahrheit war selbstverständliches Uebereinkommen. Jetzt aber übernahm der greise Insulaner das Examiniren, indem er mich fragte: „Was dürft Ihr denn zum Beispiel nicht thun?“

Durch diese Frage gerieth ich in eine gelinde Verlegenheit, denn wer die Wahl hat, hat die Qual. Endlich – es war just das Erste, was mir einfiel – sagte ich ihm: „Nun, wir dürfen zum Beispiel nicht Alles schreiben, was wir wollen.“ Dem Bauer schienen meine Worte etwas zu doctrinär zu sein, er hatte sie nicht recht gefaßt. Ich suchte mich deshalb folgendermaßen populär auszudrücken: „Gesetzt, Euer Cantor (sie nennen ihn ,Vorsinger’) schreibt eine Schrift, die das ganze Dorf lesen und wissen soll, und die er deshalb an die Kirchenthür oder an diesen Wegweiser anheftet. Bei uns,“ fuhr ich fort, „würde in solchem Falle ein Beamter erst die Schrift lesen und dann, was ihm nicht gefiele, ausstreichen.“ Der Bauer wollte mir anfangs nicht glauben, er meinte, ich treibe Scherz mit ihm, und erst meinen wiederholten Betheuerungen gelang es, ihn von der Wahrheit meiner Mittheilung zu überzeugen. Er sah mich wie mitleidig herablassend an, so daß ich über seine Mienen, die jetzt das drolligste Gemisch von Stolz und Treuherzigkeit zeigten, beinahe hell aufgelacht hätte. „Was würdet Ihr thun,“ fragte ich ihn, „wenn von der Insel Oesel vom Arensburger Ordnungsgericht jetzt ein Beamter käme und Euch eine solche vom Cantor geschriebene Schrift zur Hälfte ausstriche?“

„Er thut es nicht.“

„Wenn er es aber doch thut?“

„Er derp nicht.“

„Wenn er aber als Beamter das Recht zu haben glaubt und es trotzdem thut?“

„So ’was ist noch nicht vorgekommen, aber ich glaube, wenn er es thut, dann kommen unsere neun Männer zusammen und [651] dann binden wir ihn in ein Boot und bringen ihn an einen anderen Strand, denn er hat in unsere Rechte gegriffen.“

Als wir in die Nähe des Dorfes kamen, bot sich unseren Blicken ein überaus anmuthiges Bild. Die Männer und Kinder, welche daselbst zurückgeblieben und bereits von der Ankunft des fremden Besuches durch einen schnellfüßigen Knaben unterrichtet worden waren, standen zu beiden Seiten des Weges in größeren und kleineren Gruppen auf den Hügeln, welche den Vorder- und Mittelgrund zu der im Prospect befindlichen Anhöhe bildeten, und aus der letzteren hielt die kleine hölzerne Dorfkirche, umschattet von einer gewaltigen Eiche und riesigen Tannen, ihr schiefes Thürmchen so naiv, so still und so erquickend friedlich wie zur Begrüßung der Fremden empor. Zwar schimmerte sie nicht, wie Conradin Kreutzer’s Capelle, „so hell und so rein“ – denn die scharfe Seeluft bräunt nicht nur die Wangen der Menschen – aber auch sie lud zum Beten ein; denn ihre kleine gastliche Pforte war es, durch die jetzt eine Menschenmenge einströmte, so groß wie das stille Kirchlein wohl nie in seinen vier Wänden gesehen.

Wir hatten schon vorher von den Runoern, die alle der lutherischen Confession angehören, erfahren, daß sie bereits seit zwei Jahren ohne Pastor oder sonstigen Seelsorger seien. Nach ihren eigenen Erzählungen und nach vorhandenen literarischen Mittheilungen scheinen sie von jeher oft mit ihren Pastoren, die immer Schweden waren, Streitigkeiten gehabt zu haben. Schweden gelten den Runoern, obwohl das Schwedische ihre Muttersprache ist, ebenso gut als Fremde wie Deutsche oder Russen, und es scheint, als wenn ihr stark ausgeprägter Insular-Egoismus, der selten intimere Beziehungen zu einem Fremden und nie eine völlige Aufnahme eines solchen in den großen Familienverband der Einwohnerschaft zuläßt, stärker selbst als ihre unverkennbare Frömmigkeit ist. Nach der trockenen, aller Pietät baren Art, wie sie über ihren letzten Pastor sprachen, scheinen sie den Geistlichen als nichts mehr denn einen fremden angestellten Dolmetscher der Sprache Gottes und als geschäftlichen Dirigenten der kirchlichen Angelegenheiten zu betrachten und ihr eigenes religiöses Gefühl von der pflichtgemäßen Thätigkeit des Geistlichen, des „fremden Mannes“, vollständig zu trennen. Ob diese kühle indifferente Haltung einzig und allein durch ihren Insular-Egoismus oder auch durch unrichtiges eigenmächtiges oder gar amtswidriges Benehmen früherer Pastoren entstanden ist, dürfte sich schwer feststellen lassen, obwohl letztere Vermuthung durch die Mittheilungen der Runoer und durch vorhandene Notizen auch einige Wahrscheinlichkeit erhält.

Von ihrem Verhalten gegen ihre Pastoren wird folgender gewiß ebenso charakteristische als komische Zug erzählt. Eine Anzahl höherer Officiere machte von Riga aus eine Lustfahrt nach Runoe. Da die Runoer Frauen, wahrscheinlich in Folge früherer nicht eben angenehmer Erfahrungen, eine traditionelle Scheu vor militärischen Uniformen hegen, so bekamen die auf der Insel zufolge mitgebrachter Speisen und Getränke guter Dinge gewordenen Krieger zu ihrem Leidwesen nur lauter Runoer masculini zu sehen, während das Eiland an Mitgliedern des zarten Geschlechtes völlig ausgestorben schien. Auf die Frage der Officiere, ob denn keine jungen Frauen und Töchter vorhanden seien, in deren Gesellschaft man ein lustiges Stündchen verbringen könne, antworteten die Runoer, daß so Etwas bei ihnen nicht Sitte, daß aber der Herr Pastor ein Fremder sei und deshalb wohl seiner Frau und Tochter die Erlaubniß zu dem Vergnügen gewähren würde.

Der Gottesdienst wird jetzt, und zwar so lange bis man ihnen, wie sie erwarten, in Arensburg einen neuen schwedischen Pastor besorgt, von dem Cantor („Vorsinger“) geleitet, der nichts als ein einfacher Runoer Bauer ist, der nur ein wenig besser lesen und schreiben kann, als die Anderen. [663] Die Mitglieder der in unserer Gesellschaft befindlichen „Rigaer Liedertafel“ hatten den Runoer Cantor gefragt, ob es erlaubt sei, daß sie in der Kirche durch vierstimmigen Männergesang eine Art Gottesdienst verrichteten. Der Cantor meinte, die Runoer hätten zwar soeben ihren Sonntag-Nachmittags-Gottesdienst gehalten, und das Singen sei sonst nur seine, des Cantors Sache, aber die Herren aus Riga würden gewiß schöner und auch recht feierlich zu singen verstehen, so möchten sie nur die Gemeinde durch ihren Gesang erbauen. Alsbald schallte die hölzerne Wölbung des kleinen von Menschen überfüllten Gotteshauses von Kreuzer’s unsterblichem „Das ist der Tag des Herrn“ wieder, dem noch eine zweite seriöse Composition folgte. Die Gesichter der Runoer Männer und Frauen leuchteten in Andachtswonne. Besonders fiel mir die mächtige Gestalt eines Jünglings auf, dessen jugendlich strotzende Kraft nur gebändigt erschien von dem mystischen Dämmer eines halbwachen religiösen Empfindens. Diese rauhen Hände, die gewohnt sind, mitten in den Eisbergen des winterlichen Meeres mitleidlos die tödtliche Harpune auf die Seehunde zu schleudern oder das ebenso verderbliche Feuerrohr gegen diese Opfer fest und sicher zu führen, waren jetzt andächtig gefaltet, und das in Sturm und Gefahren gebräunte kühne Antlitz, zu dessen beiden Seiten das dunkelblonde Haupthaar aus einem natürlichen Scheitel dicht und glatt herabfiel, hatte in diesem Augenblick den milden frommen Ausdruck eines Kindes. Nachdem der Gesang vorüber war, wurden dem Cantor sechsundzwanzig Rubel übergeben, – das Ergebniß einer Collecte, welche während der Fahrt in unserer Gesellschaft für die Kirche veranstaltet worden war. Der Cantor erzählte, daß die letzte vor fünfzehn Jahren zum Besuch auf der Insel gewesene Gesellschaft ebenfalls der Kirche ein Geldgeschenk gemacht habe. Als der improvisirte Gottesdienst beendigt war, wurde die Menge von dem hellen Geläute der kleinen Kirchenglocke hinausbegleitet.

Da ein Pastor, von dessen Mittheilungen ich mir so manchen Aufschluß über Geschichte und Eigenthümlichkeiten des Runoer Völkchens versprochen, nicht vorhanden, die Pastoratswohnung kurz vor Entlassung des letzten Geistlichen abgebrannt war, und der Cantor mir erklärte, keinerlei Chronik zu besitzen, so blieb ich noch einige Augenblicke in der Kirche, in der Hoffnung, daß vielleicht die stummen, ärmlichen Reliquien und Zierrathe derselben mir einige interessante Mittheilungen machen würden. Ganz hatte ich mich nicht geirrt, obwohl meine Ausbeute gering war. Ich sah daselbst nämlich vor der verhältnißmäßig großen Altarnische das lebensgroße, zwar von der Zeit ziemlich mitgenommene, aber, wie mir schien, von gediegener Künstlerhand gemalte Bild eines Ritters in anscheinend fürstlicher Tracht, welche auffallenderweise, wenn der Mantel und die Schmucksachen hinweggedacht werden, beinahe die jetzige Tracht der Runoer Männer darstellt. Auf meine Fragen erwiderten mir die Einwohner, es sei Herzog Wilhelm von Kurland, der gegen das Volk von Runoe sehr gut gewesen sei. Was sie in sich widersprechenden Versionen weiter von ihm erzählten, war sagenhafte Tradition.

[664] Ich mußte mich mit dieser dürftigen historischen Wahrnehmung begnügen, zumal mir die schließliche Unfruchtbarkeit meines Suchens, als ich aus dem stillen Kirchlein heraustrat, recht drastisch durch den vom Dorfe her lustig erschallenden Walzer, den unsere Musik jetzt spielte, vor die Seele gezaubert wurde. Auf dem sanft emporsteigenden Rücken einer von Fichten, Ellern und Birken angenehm beschatteten Anhöhe bis zum Fuße derselben hatte sich eine große Anzahl der Besucher in den verschiedensten Gruppen gelagert. Gegenüber befanden sich, von kleinen mit Obstbäumen etc. versehenen Gärten unterbrochen, die ersten Häuser des hier beginnenden Dorfes, vor denen die spielenden Musiker aufgestellt waren, und dazwischen hatten Einwohner und Fremde einen Kreis gebildet, in welchem junge Kaufleute, Literaten, Beamte etc. mit den Runoerinnen nach dem Tacte eines fröhlichen Walzers herumtanzten. Die Paare flogen sicher, und auffallenderweise auf dem schlecht parquettirten holperigen Wiesenboden so rhythmisch gewandt, daß ich meinen Augen kaum trauen mochte. Da war von den ergötzlichen Miseren, die sich so oft bei der ungleichen Zusammensetzung der Paare aus städtischen und ländlichen Tänzern ereignen, nichts zu finden. Die Runoerinnen bewegten sich trotz der schwerfällig aussehenden „Pasteln“, womit ihre Füße bekleidet waren, so leicht und bewahrten selbst in dem rapiden Tempo eines ausgelassen stürmischen Galopps eine so gefällige ungezwungene Haltung, wie ich es bei hiesigen lettischen oder russischen Bäuerinnen niemals gefunden habe; und diese Runoerinnen hatten doch sammt und sonders bis dahin nur nach der höchst mittelmäßigen Musik ihrer Väter und Brüder, die zugleich die Functionen der Dorfgeiger ausüben, getanzt. Es liegt viel Naturgabe in diesem eigenthümlichen Völkchen. Ich sollte hiervon und von ihrer Intelligenz noch Ueberraschenderes erfahren, als ich einige ihrer Wohnungen und Werkstätten besuchte.

Nachdem sich mein Erstaunen über die auf einer nordischen Insel gewiß auffallende Fertigkeit und Leidenschaft ihres Tanzes einigermaßen besänftigt, erwachte in mir das Verlangen, nun auch die Wohnungen dieser eigenthümlichen Menschen kennen zu lernen. In Gesellschaft eines Reisegefährten und eines alten Runoers begab ich mich in’s Dorf, in der selbstverständlichen Ueberzeugung, im Innern der Häuser, den hohen Gestalten der Bewohner entsprechend, wenn auch keine mächtigen Hallen, so doch wenigstens hohe geräumige Gemächer zu finden. Ich hatte mich aber sehr getäuscht, denn ich fand nichts als dunkele niedrige Zimmer, die zwar geräumig waren, dafür aber auch mehreren Familien zugleich zur Wohnung dienen. Es giebt in Runoe Stuben, in denen Nachts fünfzehn Personen zu gleicher Zeit schlafen, das Elternpaar und verheirathete Söhne nebst ihren Frauen und jüngeren Geschwistern. Daß es eine Welt giebt, in der hieran sittlicher Anstoß genommen werden würde, scheint ihnen völlig unbekannt zu sein; eine junge Frau mit ihrer jüngeren unverheiratheten Schwester, welche wir in einer von vier Familien bewohnten Stube trafen, gaben uns über diese Einrichtungen in der unbefangensten harmlosesten Weise die ausführlichsten Berichte.

Es ist deshalb kein Wunder, daß wir nach allen Eindrücken, welche die Bewohner auf uns gemacht, von der unangetasteten Reinheit ihrer Sitten die beste Meinung empfangen mußten. Die Kunst des Verstellens und Komödiespielens gegen Fremde scheinen die Frauenzimmer wenigstens nicht zu verstehen, und auch bei den Männern kann dieselbe Angesichts ihrer rauhen und kühnen Arbeit psychologisch gewiß nur in sehr geringem Grade vorausgesetzt werden. Diplomatie ist ja fast nur eine Errungenschaft der Civilisation. Der Manneskraft und Kühnheit pflegt die Verstellung gewöhnlich recht sauer zu werden. Die Männer mögen schlau und geldgierig sein, wie man ihnen nachsagt. Man darf dann aber auch nicht vergessen, welch’ einen Werth das Geld für sie hat. Es ist ja das Einzige, wodurch sie auch im Verkehr mit der Welt die Freiheit und Selbstständigkeit zu wahren vermögen, die sie von Jugend an auf ihrem Eiland gewohnt sind. Ich glaube nicht ganz fehlzugehen, wenn ich die Untugenden, die man ihnen nachsagt, sofern sie dieselben wirklich besitzen, auf ihren Insular-Egoismus zurückführe, der, so natürlich und unausbleiblich er bei ihnen erscheint, allerdings viel Herbes, sogar bis zur Inhumanität Gehendes im Gefolge haben kann. Ich erinnere an die im zweiten Abschnitt meines Berichtes mitgetheilten Worte des Bauern: „Dann binden wir ihn in ein Boot und fahren ihn an einen anderen Strand.“ Dieses ist überhaupt das letzte Auskunftsmittel, welches sie bei Vergehen anwenden, die so arg sind, daß sie in ihrem auf mündlicher Ueberlieferung beruhenden, wahrscheinlich ziemlich primitiven und harmlosen Strafcodex gar keinen Paragraphen dafür haben. Unverbesserliche oder reuelose Unsittlichkeit, Faulheit oder Feigheit bei der schweren gefahrvollen Arbeit des Seehundfanges bestrafen sie, wenn nichts mehr helfen will, durch Aussetzung des Betreffenden an einen fremden Strand. Fremd nennen sie jedes nicht Runoe’sche Meeresufer.

Während der Regierungszeit des Czaaren Nicolaus ist es vorgekommen, daß sie einen ihrer Landsleute wegen irgend eines Verbrechens, das hier vielleicht mit einigen Monaten Zuchthaus, möglicherweise auch gar nicht bestraft worden wäre, auf diese Weise nach Riga brachten. Sie waren, wie gewöhnlich in jedem Sommer, in ihren kleinen Böten mit Seehundsfellen, Thran, Fischen etc. angekommen, hatten ihre Verkäufe und Einkäufe besorgt, und waren wieder fortgefahren. Da fiel es auf, daß sich Einer von ihnen noch immer auf der großen Dünabrücke herumtrieb und sich aus Hunger schließlich auf’s Stehlen legte. Es stellte sich heraus, daß er ein Deportirter war. Die Behörde ließ ihn sofort durch ein Lootsenboot wieder seiner Heimath zuführen und den Runoern sagen, daß sie ihre Verbrecher gefälligst bei sich behalten möchten, da Riga deren selbst schon genug zu beherbergen habe. Es dauerte nicht lange, so trieb sich der Runoer Delinquent wieder auf der Rigaer Dünabrücke umher. Abermaliger Rücktransport durch die diesseitige Behörde. Was thaten jetzt die Häupter des Runoe’schen Volkes? Sie machten sich in ihren kleinen Böten auf nach Petersburg und beschwerten sich beim Kaiser über das Benehmen des Rigaer Civil-Gouverneurs, der ihren Verbrecher immer und immer wieder zurückschicke.

„Was kommt Euch in den Sinn?“ erwiderte der Kaiser; „wie würde es Euch gefallen, wenn man plötzlich die livländischen Verbrecher nach Runoe bringen würde? Man bringt überall seine Verbrecher bei sich unter.“

„In unserem Lande nicht, Herr Kaiser,“ erwiderte der Runoer Sprecher, „in unserem Lande ist es Gesetz, daß die Verbrecher an einen anderen Strand gebracht werden, und wir kommen, Dich, Herr Kaiser, zu bitten, daß Du diesem Gouverneur in Riga verbietest, unsere Gesetze zu ändern.“

„Das ist allerdings etwas Anderes,“ erwiderte der strenge Herr Kaiser Nicolaus, dem die Runoer Burschen ein unsägliches Vergnügen bereiteten, „wenn das in Eurem Lande Gesetz ist, dann muß der Gouverneur in Riga gehorchen.“

Und so geschah es; Riga mußte den verbrecherischen Insulaner aufnehmen, der später ein sehr tüchtiger Matrose geworden sein soll.

So halten die Runoer alle Länder, nur nicht ihre Insel, für den Aufenthalt von Verbrechern geeignet, eine Anschauung, die gewiß das wunderbarste Gemisch von Egoismus, Naivetät und Dünkel repräsentirt. Jedoch kommen, wie gesagt, Fälle, in denen die Runoer zum Deportiren in civilisirte Länder greifen, höchst selten vor, weil die Veranlassungen dazu bei ihnen immer etwas Unerhörtes sind. Der Letzte, dem eine derartige Ehre zu Theil wurde, war, wie sie erzählen, ihr letzter Pastor. Trotzdem sie ihn nämlich wiederholt aufgefordert hatten, da er ihnen nicht mehr gefiele, einen neuen Seelsorger aus Schweden zu verschreiben und dann zu gehen, hatte er doch keines von beidem gethan, und deshalb wurde er in ein Boot gesetzt und nach Arensburg gebracht, in Folge dessen sie noch heute ohne Pastor sind.

Bezüglich ihrer Sittengesetze haben sie mir unter Anderem Folgendes mitgetheilt: Wenn ein Bursche und ein Mädchen sich in Liebe vergehen, so müssen sie sich heirathen, dürfen nicht in der Kirche, sondern nur auf der Straße vor derselben getraut werden, und der junge Ehemann muß dann schließlich noch fünf Rubel Strafe in die Kirchencasse bezahlen. Damit ist aber die Sache vollständig abgethan und das Paar ist gleich angesehen mit allen übrigen Eheleuten. Auf meine Frage, ob denn in den zwei Jahren, die sie ohne Pastor seien, sich gar keine Heirathslustigen gefunden und was diese armen Leute anfingen, wurde mir geantwortet: „Wenn der neue Pastor kommt, werden sie Alle auf der Straße getraut.“

„Und die fünf Rubel?“

„Müssen sie Alle bezahlen.“

Doch zurück in die Wohnungen. Unser alter Begleiter führte uns auch in seine eigene Behausung und Werkstätte, wo wir zu [665] unserem Erstaunen sahen, wie viel Intelligenz und Fleiß dieses Völkchen besitzt. Sie verfertigen ihre Jagdflinten, ihre undurchdringlichen hohen Wasserstiefeln von Seehundsleder, ihre Kleider etc. selbst. Sie sind ferner Zimmerleute, Tischler, Bäcker, Weber, Klempner, Schmiede etc., also auch, was die Handwerke betrifft, unabhängige, ganz selbstständige Leute. Aber sie wissen dies auch und scheinen es gern auszusprechen. In unserem alten treuherzigen Führer entdeckte ich sogar einen Renommisten, wie man ihn ausgebackener nicht in der civilisirtesten Stadt findet. „Von wem,“ fragte ich ihn, „haben Sie aber alle diese Fähigkeiten gelernt?“

„Von Gott,“ antwortete er mit mehr Selbstbewußtsein, als mir Angesichts der Bescheidenheit, welche im Uebrigen die Einwohner zeigten, nothwendig erschien. Schließlich nahm er eine feierliche, vielverheißende Miene an, die mich höchst erwartungsvoll stimmte, und sagte nicht ohne Pathos: „I kann ook sriewen“ (ich kann auch schreiben).

Eine Eigenthümlichkeit, die unsern Respect vor dem alten Tausendkünstler noch erhöhte, war das häufige Begleiten seiner Antworten mit recht treffend angewandten Citaten aus der Bibel. Wir hatten es mit einem Gelehrten der Insel zu thun, und er wußte, daß er uns durch eine solche Summe von Fähigkeiten imponiren würde. Von ihm, der früher selbst lange Jahre Lehrer und Cantor gewesen war, erfuhren wir auch, daß der Cantor die Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet, daß aber die wirkliche Erwerbung dieser Kenntnisse für den einzelnen Runoer Sprößling nicht obligatorisch sei. Er meinte, nicht jeder Mensch habe Kopf und Lust, sich „gedruckte oder geschriebene Kenntnisse“ zu erwerben, aber arbeiten könne ein Jeder. Was zum Seehundsfang oder zur Arbeit auf der Insel gehöre, lerne jeder Runoer, und wenn der Knabe sechszehn Jahre alt sei, dann treffe er mit der Flinte auf ziemlich weite Entfernung einen Gegenstand, der wie ein Kopeken groß sei, und das sei dann der Beweis, daß er mit zur Seehundsjagd fahren könne. Die Erziehung und auch einen Theil des Unterrichts leiten die Mütter. Bei unserm Wege durch’s Dorf sahen wir in der Ferne Kornfelder. Der Alte sagte, daß auch Kartoffeln und Rüben auf der Insel gut gedeihen. Ihre Viehzucht beschränkt sich auf Kühe, Schweine, Gänse und Hühner. Bei Besichtigung der verschiedenen Häuser, welche ich auf dem Gange durch’s Dorf zu sehen bekam, bemerkte ich, daß sie alle ziemlich egal gebaut und eingerichtet sind. Jede Wohnung besteht aus einem großen rußig schwarzen Vorraum, der zum Räuchern der Fische bestimmt ist und dem jungen Volke bei schlechter Witterung und im Winter zum Tanzen dient, dann der großen Wohnstube, deren Wände mit Betten besetzt sind, und einem Nebenzimmer, welches als Werkstätte und Ablegekammer benutzt wird. Ihre Betten sehen sauber aus und stechen vortheilhaft gegen das Düster der niedrigen Stuben ab, welche, weil die Häuser durchgängig ohne Schornstein gebaut sind, oft durch ihre kleinen Fenster einen großen Theil des Rauches hinauslassen müssen, der seinen Weg in’s Freie eigentlich durch die Hausthür nehmen sollte.

In diesen unwohnlichen niedrigen und düstern Räumen sitzen die Frauen während der einsamen Wintertage am Spinnrocken und am Webestuhl, während die Männer, ganze Tagereisen weit von ihnen entfernt, der schrecklichsten Gefahr des oft so tückischen winterlichen Meeres preisgegeben sind. Bei dem matt und unheimlich roth flackernden Schein einer Lampe, wie sie das erste Menschenpaar nicht primitiver und unvollkommener haben konnte, nämlich eines dünnen Kienholzspahnes, nähen die schlanken Mädchen Kleider für ihre Väter und Brüder oder arbeiten, ohne noch zu wissen, wer ihr künftiger Ehegenosse sein wird, an ihrer Aussteuer, mit deren Anfertigung die Runoerinnen schon im frühesten Kindesalter beginnen. Dann kommt der Tag, an welchem sie die Männer von ihrer Fahrt zurückerwarten. Klopfenden Herzens eilen die Frauen, Jungfrauen und Knaben mit geladenen Flinten an’s Ufer, um mit spähenden Augen einer Wiederkehr entgegenzuharren, die oft noch fraglicher ist, als die aus einem Kriege. Doch plötzlich tauchen am Horizont Punkte auf, die, näher und näher kommend, sich zu einer Flottille von kleinen Böten vergrößern. Sehnsucht führt die Steuer und Sehnsucht schlägt die Ruder. Darum kommen sie auch so rasch der einsamen Insel näher, und jetzt erdröhnen am Ufer aus der Menge Flinten unzählige Freudenschüsse; doch die Herzen der Runoerinnen beruhigen sich erst, wenn sie sehen, daß die Männer und Jünglinge, die zur Seehundsjagd auszogen, auch allesammt zurückkehren und gute Beute mitgebracht haben; denn oft fehlt dieser Jüngling oder jener Mann, der den Gefahren des Unternehmens zum Opfer gefallen ist. Ja, der alte Runoer, der mir dieses mittheilte, erzählte, daß vor vielen, vielen Jahren einmal eine ganze solche Jagdexpedition ausgeblieben und die Bewohnerzahl der Insel dadurch sehr bedeutend decimirt worden sei.

Jedenfalls haben die Runoer durch die Gefahr ihrer Arbeit ein weit größeres Wohlgefühl des Lebens und genießen ihre Existenz viel mehr, als den meisten Bauern des Festlandes möglich ist. Ein Dutzend Mal jährlich seine Existenz dem gähnenden Todesschlunde des mit Eisbergen bedeckten Meeres abzuringen, und dann eben so oft mit schwerer Beute in den holden Frieden der Heimath und in das milde Antlitz der Treue und Liebe hineinzuschauen – das ist ohne Frage Glück, um so größeres Glück, als es sich so oft erneuert und die Menschen so frisch, so klar, so kräftig erhält.

Als wir von unserer Wanderung durch’s Dorf nach dem improvisirten Tanzplatz zurückkehrten, drehten sich die Paare noch immer in der Runde. Doch der Capitain mahnte zur Heimkehr. Wir waren vier Stunden auf der Insel gewesen und zogen jetzt, von den Bewohnern begleitet, zurück zum Ufer. Eine Menge junger Runoerinnen hatten auf diesem Wege ihren städtischen Tänzern den Arm gereicht, um so jene so plötzlich erfolgte trauliche Verbindung verschiedener Culturepochen bis zum letzten Augenblicke festzuhalten. Nachdem eine große Anzahl runoe’scher Frauen und Mädchen unser Schiff neugierig besichtigt, trat dasselbe die Rückfahrt nach Riga an, wo wir Abends elf ein halb Uhr anlangten. Die fast spiegelglatte See, der klare Himmel und eine durch die mehr als befriedigten Reiseerwartungen erzeugte überaus gemüthvolle Stimmung unter den Fahrgästen waren die prächtigen Requisiten zu einem freundlichen Abschlusse der kleinen so interessanten Seereise.