Eine klassische Stätte
[67] Eine klassische Stätte. Zu der ersten Lektüre der Kinderjahre gehört bei uns in Deutschland außer unseren herrlichen Volksmärchen auch die rührende Geschichte der frommen Dulderin Genoveva, und wer sie nicht aus Büchern kennt, der hat sie sicherlich auf der Bühne eines Marionettentheaters an sich vorüberziehen sehen. So bekannt und volksthümlich nun auch die Geschichte ist, so wenig wird des Ortes gedacht, wo sich das Familiendrama abspielte; gewöhnlich verlegt man die Sage nach Frankreich in eine Gegend der Normandie, während der Schauplatz derselben doch ein Stück gute deutsche Erde ist.
An dem düsteren Laacher See in der Eifel liegt nach Mayen hin der stattliche Hochsimmer, ein 1823 Fuß hoher Berg, welcher vor Zeiten, wie alle seine Genossen in diesem Gebirge, ein Vulkan war. Hier stand die Burg des Pfalzgrafen Siegfried, des Gemahls der schönen Genoveva, welche der schändliche Schloßvogt Golo, als sein Herr nach langer Abwesenheit wieder in seine Feste zurückkehrte, in unwürdigster Weise verleumdete. Der empörte Pfalzgraf ließ sein unschuldiges Weib einkerkern und später mit ihrem Kinde in die Wildniß hinausstoßen, wo sich eine Hirschkuh zu ihnen gesellte und mit ihrer Milch das fast schon verschmachtete Knäblein ernährte. Als sich nach langen Jahren Siegfried einst auf der Jagd befand, verfolgte er diese Hirschkuh, welche er bereits verwundet hatte, bis zu der Höhle, wo sie bei Genoveva, der diese Höhle zum Aufenthalt diente, Schutz suchte und fand. Das unerwartete Wiedersehen stimmte den Pfalzgrafen zur Milde: er hörte seine Gemahlin ruhig an und das ganze Lügengewebe des Schloßvogts kam an den Tag. Die Gattin Siegfried’s kam wieder zu Ehren; Golo aber empfing seine gerechte Strafe.
[68] Unweit von Obermendig, wo die Landschaft ihren düsteren Charakter abgelegt hat und ein freundliches, anmuthiges Gesicht zeigt, liegt ein einsames Kirchlein, das den Namen „Frauenkirche“ führt. Hier befindet sich die Grabstätte der heiligen Genoveva und hinter dem Altare dieses kleinen Gotteshauses soll der Sage nach die Höhle gewesen sein, in welcher einst die Verstoßene gehaust hatte. Von der Burg Siegfried’s auf dem Hochsimmer ist freilich nichts mehr zu sehen; die Hauptperson der Sage aber gehört zu den rührendsten und poetischsten Gestalten unserer vaterländischen Sagendichtung, die selbst einen Ludwig Tieck und Fr. Hebbel zu dramatischer Bearbeitung zu begeistern vermochte.