Eine Zillerthaler Sängerfamilie

Textdaten
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Autor: Ludwig Steub
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Titel: Eine Zillerthaler Sängerfamilie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48-50, S. 798–801, 821–824, 839-841
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[798]
Eine Zillerthaler Sängerfamilie.
Von Ludwig Steub.
1.

Als ich im jüngsten Herbste wieder einmal das Unterinnthal durchzog, kam ich eines Nachmittags auch in den schönen Flecken Schwaz, zu Herrn Franz Rainer, dem Postmeister. Ueber seinen Trinkgemächern lag um diese Zeit eine tiefe Stille – nur an einem Tische des Herrenstübels saßen in leisem Gespräch bei seiner Schwester zwei schwarzgekleidete Gestalten. Die eine war blond, die andre dunkelhaarig – wohlgestaltet waren sie beide –, welche [799] mehr, welche weniger, wäre schwer zu entscheiden und gefährlich zu sagen.

Ich setzte mich auch zu der kleinen Gesellschaft und wurde freundlich aufgenommen. Aus dem Gespräch ergab sich bald, daß die beiden Damen – Frauen, Fräulein, Mädchen, noch wußte ich nicht, wie sie eigentlich zu nennen wären – von einem nahen Dorfe hereingekommen und Abends wieder dahin zurückfahren würden. Das Dorf aber heiße Margreten.

„Margreten!“ wiederholte ich, „da waren einmal vor fünfundzwanzig Jahren zwei schöne Wirthstöchter, von denen damals viel gesprochen wurde.“

„Ja, ja,“ sagte die dunkelhaarige Gestalt, „sie waren sehr hübsch; auch Doctor Steub hat ihre Schönheit rühmend erwähnt.“

„Was mag aus ihnen geworden sein?“ fragte ich. „Wissen Sie etwas von ihnen?“

„O ja,“ antwortete die blonde Gestalt, „wir sind da sehr gut unterrichtet; es waren nämlich unsere ältesten Schwestern. Die eine lebt jetzt als Wittwe zu Trient, die andre reist als Directrice einer Tiroler Sängergesellschaft in Rußland.“

„In Rußland!“ sagte ich, „das ist weit weg!“

„Nicht so weit, als es scheint,“ entgegnete die Dunkelhaarige, „wenigstens nicht für uns. Wir waren Beide schon zehn Jahre dort.“

„Um Gotteswillen,“ sagte ich, „was hatten Sie denn da zu thun?“

„Wir haben gesungen,“ erwiderten beide Gestalten.

Jetzt war mir Manches klar. Ich ließ in meinen Forschungen eine Pause eintreten, welche die Dunkelhaarige benutzte um zu fragen:

„Aber mit wem haben wir die Ehre?“

„Sie haben mich soeben einer Erwähnung gewürdigt.“

„Ach so,“ sagte sie überrascht, „also Doctor Steub! Das wird unseren Schwager freuen; er wird gleich wieder da sein. Er kennt Sie ja auch von alten Zeiten her.“

Nun gut – soweit waren denn beide Theile entlarvt. Aus dem ferneren Gespräche aber will ich zur Ergänzung noch Folgendes nachtragen.

Die beiden Mädchen waren also jüngere Töchter aus dem Wirthshause zu Margreten, wo einst vierzehn Kinder rumorten, alle schön gestaltet und gut begabt, von denen jetzt noch ihrer sieben am Leben sind. Die dunkelhaarige Schwester nennt sich Therese, die blonde – Isabella. Die schwarzseidenen Kleider deuteten auf den Tod des Vaters, des Herrn Jacob Prantl, welcher vor wenigen Wochen in Margreten verschieden war, nachdem ihm die Mutter um drei Jahre vorausgegangen. Der Schwager aber, den sie erwähnt hatten, ist Ludwig Rainer, der mit ihrer älteren Schwester Anna vermählt ist. Alle jene, welche etwa mein Buch „Drei Sommer in Tirol“ auf ihrem Bücherrahmen haben, werden ihn Seite 543 geschildert finden (die beiden Wirthstöchter von Margreten stehen auf der vorhergehenden Seite), wie er damals vor sechsundzwanzig Jahren als schmucker Zillerthäler die Posaune blies, während die Söhne des Erzherzogs Franz Karl, darunter auch der jetzige Kaiser, zu Fügen ihren festlichen Einzug hielten.

Ludwig Rainer repräsentirt jetzt eigentlich als reisender Sänger einzig und allein die zweite Generation seiner berühmten Familie, denn Franz Rainer zum Beispiel, auf der Post zu Schwaz, auch ein Epigone, ist zwar ein guter Postmeister, reist auch mitunter, singt aber nicht. Die jüngeren Vettern zu Fügen dagegen singen zwar mitunter, reisen aber nicht. Andere Rainer, welche noch jodelnd in der Welt herumziehen, sind Pusterthaler und aus einem andern Stamm. Ludwig Rainer brachte die Liebe zum Gesang, den Unternehmungsgeist, die Thatenlust auch in die Wirthsfamilie zu Margreten und legte sich dort eine blühende Pflanzschule an, so daß er immer drei oder vier Kinder des Hauses in seinem musikalischen Gefolge mit sich führen konnte. So kamen auch Anna, Therese, Isabella und der Bruder Alois mit ihm nach Rußland, wo sie sich Jahre lang in Petersburg und Moskau aufhielten ja sogar bis Nischnei Nowgorod streiften. Das feine Leben in Rußland, die freundliche Aufnahme, die schönen Diners, den ewig knallenden Champagner daselbst, das wußten die beiden Fräulein auch nach Gebühr zu loben. Selbst der Kaiser von Rußland zeigte sich als begeisterten Liebhaber der Almenlieder; ja er sang oft selber mit und jodelte um die Wette mit den Zillerthalern.

Unter diesen Gesprächen trat endlich auch Ludwig Rainer ein, welcher von einem Besuche zurückkam. Seit jenem Tage in Fügen haben wir uns zwar nicht mehr gesehen, aber immer in Gedanken behalten, so daß wir uns damals in Schwaz mit vollem Rechte als alte Bekannte begrüßen durften. Ludwig Rainer, weltgewandt, unverzagt und schlagfertig, ist auch äußerlich ein wohlgebauter, starker Mann. Namentlich in der Tirolertracht, wenn er als Zillerthaler Schütze auftritt, stellen sich seine Formen imponirend dar. Sein Auge ist lebhaft, ebenso sein Gespräch. Sein Wesen und sein Charakter wird aus dem biographischen Denkmal hervorgehen, welches wir aus seinen eigenen Bausteinen ihm hier zu setzen gedenken.

Damals fragte ich nämlich Herrn Ludwig Rainer, ob er mir keine Materialien zur Geschichte seiner Familie mittheilen könne – es sei eine zweite Auflage der „Drei Sommer“ im Anzug und mein Wunsch wäre, die in der ersten vorkommenden dürftigen Notizen über die Rainer etwas erweitern und ergänzen zu können.

„Da kann ich Ihnen schon behülflich sein,“ entgegnete er. „Ich habe Einiges niedergeschrieben, was ich Ihnen gern zur Benutzung überlasse. Uebrigens sollten Sie jetzt mitkommen nach Margreten. Dort ist unser Familienmuseum – dort haben wir alles zusammengestellt, was wir von unseren Reisen als Erinnerungen und Andenken mitgebracht: Bilder, Photographien, Pokale, Kränze, Bänder, Fahnen und allerlei mitunter sehr werthvolle Geschenke. Das würde Sie gewiß interessiren!“

Leider war es schon Nacht geworden, und da ich am andern Morgen auswärts gegen Innsbruck zu fahren gedachte, so war Margreten, das abwärts liegt, mit meiner Richtung nicht zu vereinigen. Ich lehnte daher dankend ab und versparte mir den Besuch auf ein ander Mal, habe ihn aber bisher noch nicht ausgeführt.

Ludwig Rainer sandte mir bald darauf zwei handschriftliche Foliobände, deren einer die Geschichte seiner Jugend, der andre aber das Tagebuch enthält, welches er auf der Reise von Tirol nach Amerika in den Jahren 1839 bis 1843 geführt. In dem ersteren dieser Foliobände findet sich nun Mancherlei, was der Mittheilung nicht unwerth scheint. Ludwig Rainer’s Jugendgeschichte ist ein farbenreiches Lebensbild aus dem Almlande und wird hoffentlich alle Leser ansprechen, welche den frischen, kecken, liederlustigen, nur etwas leichtblütigen Zillerthalern freundlich zugethan sind. Sollte sich hin und wieder ein Bestandtheil zeigen, der etwas unwahrscheinlich klingt, so wollen wir die Ehre, für die Wahrheit, falls sie bestritten würde, einzutreten, gern Herrn Rainer selbst überlassen.




2.

In dem schönen Zillerthale, beginnt die Erzählung, im lieblich gelegenen Pfarrdorfe Fügen, lebte einst unter Anderen ein Metzgermeister mit Namen Joseph Rainer. Er war ein braver alter Deutscher und hauste auch mit seiner Gattin ganz glücklich, obgleich er sich, da er acht Kinder, sechs Knaben und zwei Mädchen, zu ernähren hatte, nicht ohne Mühe durch’s Leben schlug. – Vater Rainer war einer der ersten Tenoristen seiner Zeit, wußte seine weltlichen Liedlein sehr angenehm vorzutragen, hatte aber auch jährlich einen geringen Gehalt von der Pfarrkirche, weil er an Sonn- und Feiertagen auf dem Chore mitsang. Auch fünf seiner Kinder waren mit musikalischen Anlagen gut ausgestattet, den drei übrigen aber fehlte das Talent. Unter diesen letzteren war übrigens ein Mädchen, Helene mit Namen, von so großer Schönheit, daß sie in der ganzen Gegend zu Berg und Thal die schöne Lene genannt wurde. Auch ihr ältester Bruder, Johann, war ein Musterbild von einem Zillerthaler Burschen, und wenn die schöne Lene mit diesem im Feiertagsstaat durch die Straßen von Fügen ging, blieben die Leute gern stehen, um das Geschwisterpaar zu bewundern.

Nun folgt eine Episode von Marie Rainer, der schönen Lene Schwester, die minder hübsch, aber sehr gutmüthig und fleißig war und in ihren jungen Jahren eine Liebschaft mit einem andern Rainer einging, welcher eines Baders Sohn, übrigens nicht mit ihr verwandt gewesen ist, wie es denn überhaupt im Zillerthale mehrere Geschlechter giebt, die jenen Namen führen, ohne einen gemeinschaftlichen Stammvater anzuerkennen. Marie also und der Baderssohn liebten sich, aber gegen den Willen ihrer Eltern. Nichtsdestoweniger war ihre Liebe so heiß, daß Marie sich vergaß [800] und am 18. Juli 1821 eines Knäbleins genas, welches sofort auf den Namen Ludwig getauft, später aber in beiden Hemisphären als Natursänger viel genannt und berühmt wurde – derselbe Ludwig Rainer nämlich, von dem wir vorher gesprochen. Seinen Vater schickte damals der alte Cuiorg (Chirurg) zur Strafe nach Wien; doch werden wir bald wieder von ihm hören.

Nachdem hierauf etwa dreiviertel Jahr vergangen waren, begab sich ein Ereigniß, welches für die ganze Familie eine neue Aera begründete. Es kam nämlich einer der Brüder, Namens Felix, aus der Schweiz zurück, wo er sich einige Jahre in den Diensten eines Pferdehändlers aufgehalten und einiges Geld erspart hatte. Er wurde von Allen mit Freuden begrüßt. Am ersten Abend versammelte sich auch das ganze Hauswesen in der großen Stube, um der Erzählung seiner Abenteuer zu lauschen. Bei dieser Gelegenheit nun läßt ihn Ludwig Rainer folgende Ansprache halten:

„Seitdem ich Euch, meine Lieben, verlassen, habe ich meinem Herrn und Freunde in der Schweiz als ‚Kuppelknecht‘ treue Dienste geleistet. Wir kamen weit in der Welt herum und betrieben unser Geschäft mit Glanz. Wenn wir nun unterwegs waren, wurde ich auf allen Stationen ersucht zu singen, und da mir Gott eine gute Stimme verliehen, so ließ ich mich auch nie lange bitten. Ich ward also der Liebling meiner Herren und überall, wo ich hinkam, als lustiger Tiroler Sänger gesucht und geehrt. So sah ich bald ein, daß ich durch dieses Geschäft nicht nur mich allein, sondern auch meine anderen Geschwister glücklich machen und auf leichtere Art mehr verdienen könnte, denn als Kuppelknecht. Mein Herr, dem dieser Plan ganz gut gefiel, stellte sich meinem Vorhaben nicht entgegen und obwohl er mich sehr ungern entließ, so wünschte er mir dennoch alles Glück. Und so trat ich denn meine Rückreise an und bin jetzt hier, um Euch mit meinen kleinen Ersparnissen als Sänger in die weite Welt zu führen.“

Als Felix seine Ansprache geschlossen, jubelten Alle vor Freude über die neuen Aussichten, welche er ihnen eröffnet hatte. Sie waren Alle schnell überzeugt, daß ihre Zukunft und ihr Glück auf den Almenjodler gegründet werden müßte.

Sofort stellte Jener auch sein Quartett zusammen und begann die Uebungen. Marie und Franz übernahmen die oberen, Felix und Joseph die unteren Stimmen.

Die schöne Lene und Bruder Johann mußten, weil ihnen Gott keine Stimme verliehen, zu ihrem großen Verdruß zu Hause bleiben. Auch Ludwig Rainer blieb in der Heimath und wurde einer alten Färbermeisterin zu Zell in Wart und Pflege gegeben.

Als nun Alles geordnet und die vier Geschwister tüchtig „zusammengelernt“ waren, traten sie muthig ihre erste Reise an. Rührend war ihr Abschied von dem heimatlichen Fügen. Eine unzählige Menge von Freunden und Freundinnen begleitete sie bis zum Dorfe Straß, welches am Eingange des Zillerthals liegt. Von allen Fenstern und von den Feldern herein wurden ihnen Glückwünsche zugerufen. Zu Straß beim Neuwirth erwartete sie ein Abschiedsmahl. Noch einmal sangen sie dem fröhlich aufgeregten Gefolge ihre schönsten Lieder vor. Zum Schlusse erfreute die Scheidenden noch ein weithin hallendes Lebehoch und dann stiegen sie unter Thränen in den Wagen und fuhren gedankenvoll dem Flachlande zu.[1]

Und so vergingen die Tage, und Ludwig Rainer hatte gehen und reden gelernt und war ein paar Jahre alt geworden, und spielte eines Abends im neugewaschenen Wämschen und Höschen vor dem Hause seiner Pflegemutter, als ein junger Mann daherkam, der ihn fragte, wie er hieße und wer seine Mutter sei. Darauf gab er seinen Namen an und sagte, wie man ihn gelehrt hatte, seine Mutter sei eine große Frau, welche jetzt noch in der Welt draußen singen müsse, aber bald mit vielem Gelde nach Hause kommen werde. In diesen Worten erkannte der junge Mann sein Söhnlein, wollte es aufheben und küssen, allein dieses schrie so fürchterlich, daß alsbald die Pflegemutter herbeieilte, welche es begütigte und, da sie den jungen Mann erkannt hatte, freundlich fragte, ob es denn dem Vater kein Bussel geben wolle. Dadurch ermuthigt, sträubte sich das Kind nicht länger, und so wechselten denn Vater und Sohn die ersten Küsse. Die alte Frau bewirthete hierauf den jungen Mann und während er einige Erfrischungen einnahm, wurde auch das Söhnlein immer zutraulicher. Nachher begaben sie sich mit einander vor die Hausthüre, wo sich ein Graben befand, etwa klafterweit und zwei Schuh tief, in welchen der Unrath aus der Färberei hinausgeleitet wurde.

Am Rande desselben fragte der Vater scherzend den Kleinen, ob er auch springen könne. Dieser sah in der Frage eine Aufforderung, wollte die Probe sogleich ablegen, riß sich aus der Hand des Vaters los, versuchte einen Sprung über den Graben, erreichte aber das andere Ufer nicht, sondern fiel mit dem neugewaschenen Wämschen und Höschen mitten in den Unrath hinein, so daß die schwarze Jauche über seinen Kopf zusammenschlug.

„Mein Vater,“ erzahlt Ludwig Rainer, „der mich eiligst herauszog, mußte zwar über meine Figur gar herzlich lachen, war aber doch in großer Verlegenheit, weil er selbst mich zu dem Wagstück angereizt hatte. Ich sah aus, als hätte ich mich in eitlem Tintensafte gebadet. Meine Pflegemutter kam auch herbei und erhob einen schrecklichen Jammer über die verdorbene Wäsche, während ich meinen Vater stolz anblickte und ihn frug, ob ich nicht ein frischer Bua sei.“

Des anderen Tages hatte der junge Mann eine lange Unterredung mit der Pflegemutter und klagte ihr mit Thränen, daß er nicht länger bleiben dürfe, daß er auf dem Wege nach Pinzgau sei, um dort eine reiche Bauerntochter zu heirathen, welche ihm sein Vater, der alte Bader, ausgesucht. Des andern Morgens drückte er sein Söhnlein noch einmal an sein Herz, und vierzehn Tage darauf wurde er in Pinzgau mit der reichen Bauerntochter getraut.

Später zog er mit seinem Hauswesen nach Fügen, wo er unter den Fittigen des alten Cuiorgen sich als dessen Nachfolger aufthat, als solcher sehr beliebt wurde und später in guten Verhältnissen das Zeitliche segnete.

Allmählich waren drei Jahre verstrichen, seitdem die Mutter in die weite Welt gegangen war. Eines Morgens nun war Ludwig Rainer mit seiner Pflegerin eben auf dem Wege nach der Kirche, als ein schöner zweispänniger Wagen über die Brücke bei Zell hereinwollte. Darin saß in städtischer Kleidung eine Frau mit drei wohlgestalteten jungen Burschen. Der Wagen fuhr vor dem Wirthhause „Zum Wälschen“ an, allwo sich alsbald eine große Menschenmenge versammelte, um den Ankömmlingen, den Rainern, die Hand zum Gruße zu bieten. Die Brüder gingen ohne Verzug in’s Wirthshaus, um mit ihren Freunden das Wiedersehen zu feiern; die Frau aber eilte zum Färberhause, um ihr Kind aufzusuchen. Sie kam jedoch nicht weit, denn die Pflegemutter trat ihr bald mit dem Zöglinge entgegen, der sich aber anfangs vor ihr fürchtete.

„Schmerzlich weinte meine Mutter, als sie mich an’s Herz drückte; noch mehr weinte sie aber, als ich ihr erzählte, daß vor kurzer Zeit auch mein Vater hier gewesen sei, um mich zu besuchen, und mich herzlich geküßt habe. Und als er mich geküßt hat, sagte ich ihr, hat er fürchterlich geweint und gesagt: ‚Wenn nur Deine Mutter hier wäre!‘ Bei dieser meiner unschuldigen Erzählung brach meine Mutter in lautes Schluchzen aus; meine Pflegerin gebot mir hastig zu schweigen, und wir gingen darauf alle Drei in die Kirche hinein, damit es den Leuten nicht auffallen sollte. Hier betete ich das erste Mal mit meiner lieben Mutter.“

Nachdem sich diese etwas erholt, gingen sie zu den Anderen im Wirthshause, zu den Oheimen, welche den kleinen Neffen alle mit Geld beschenkten. Auch die Mutter gab ihm ein seidenes Beutelchen, das etwa zwanzig Gulden enthielt.

Das Knäblein war ganz außer sich vor Freude; aber als es befragt wurde, ob es nicht mit der Mutter nach Fügen gehen und bei ihr bleiben wolle, stellte es gleichwohl die Bitte, es bei seiner bisherigen Pflegerin zu belassen, welche ihm so theuer geworden war, daß es sich von ihr nicht trennen mochte.

Die Sänger aber, die von ihrem ersten Wallgange zurückgekommen, wurden jetzt im ganzen Zillerthale geliebt und verehrt. Unbeschreiblich war auch der Eltern Freude. Der Vater zog sich nunmehr leicht aus seiner bedrängten Lage und konnte sein Geschäft viel vortheilhafter und schwungvoller betreiben als zuvor.

Aber die weltgewohnten Sänger mochten die müßige Ruhe in dem stillen Fügen nicht lange ertragen. Nach zwei Monaten schon gingen sie auf eine zweite Reise, und dieses Mal zog auch Anton Rainer, ein anderer Bruder, mit, welcher eine herrliche [801] Baßstimme besaß. Er hatte bisher das Schneiderhandwerk betrieben; aber als ihm die Geschwister, die eben zurückgekommen von dem herrlichen Leben in der großen Welt erzählt, da schien es ihm auch angenehmer und rühmlicher, im schönen Alpencostüme auf decorirter Bühne zu stehen und der erstaunten Menschheit liebliche Lieder vorzusingen, als zeitlebens bucklig auf der Schneiderbude zu sitzen und eine Nadel nach der andern einzufädeln.

Auf dieser zweiten Reise kamen die Zillerthaler Sänger zum ersten Male nach England, wo sie an dem österreichischen Gesandten, Fürsten Esterhazy, einen mächtigen Gönner fanden. Georg der Vierte, sonst eben kein liebenswürdiger Patron, kehrte doch gegen die Tiroler seine angenehmsten Seiten heraus, beherbergte sie längere Zeit zu Windsor, ließ ihnen ihre ganze Tracht von Kopf zu Fuß vom feinsten Tuch und Seidenzeug neu machen, auch goldene Knöpfe mit dem großbritannischen Wappen daraufsetzen und schenkte ihnen neue Gürtel oder „Ranzen“, auf welchen silberne Schilde mit demselben Wappen. So wurden sie fashionable, fanden allenthalben in dem vereinigten Königreiche die freundlichste Aufnahme und ersangen sich ganz ungeahnte Summen.

Und eines Tages wurde dem alten Joseph Rainer zu Fügen ein Schreiben seiner Kinder überreicht, welches ihm kundgab, wie glücklich es ihnen bis dahin gegangen, und ihn einlud, „zu einem fröhlichen und feierlichen Wiedersehen“ nach Frankfurt am Main zu kommen. Dahin solle er auch die Mädchen bringen, mit denen sich die Brüder vor ihrer Abreise versprochen hatten, und Marie gab den Auftrag, dem Cassian Wildauer, Hausknecht beim Eigner Wirth in Fügen, freundlichst zu vermelden, daß sie ihn, da sie doch auf ihre erste Liebe verzichten müsse, zu ihrem Gemahl erkoren habe, wenn er damit einverstanden sei.

Dieser Cassian oder Cassel und sein Zwillingsbruder Anton galten übrigens zu derselben Zeit in der ganzen Gegend als große Meister und Helden im Raufen, „was damals im Zillerthale das schönste Geschäft war.“ Sie standen in gleichem Alter mit den jungen Rainern und wuchsen nachbarlich mit diesen auf. Vater Cassel erzählte später noch oft, daß sie in früheren Jahren viele Hundert Male mit einander gerauft hätten; nichtsdestoweniger waren die Zwillinge und die jungen Rainer in der Hauptsache immer die besten Freunde, und darum wurde auch die bevorstehende Heirath der Schwester mit dem Cassel von den Eltern und den Brüdern nicht ungern gesehen.

Nach wenigen Wochen hielten nun die sämmtlichen Geschwister, die also wieder hereingekommen, fröhliche Hochzeit zu Fügen in dem Dorfe. Die vier Jungen hatten sich sehr hübsche und, was noch besser, sehr brave Mädchen auserwählt. Vermögen hatte jedoch nur Eine, nämlich Bruder Anton’s Braut, welcher ihr Vater am Hochzeitstage eine ziemliche Mitgift auf den Tisch legte.

Etwa acht Tage vorher waren übrigens Marie Rainer mit ihrem Bräutigam in Zell erschienen, um ihr Söhnlein zur Hochzeit einzuladen und ihm seinen künftigen Vater vorzustellen. Sie brachte ihm viele hübsche Sachen mit und bezeigte ihm große Zufriedenheit, weil er in der Schule so brav gelernt hatte.

Bald darauf trat die Sängergesellschaft ihren dritten, in dieser Zusammensetzung letzten Wallgang an. Sie verbrachte die meiste Zeit abermals in England und blieb im Ganzen drei Jahre aus. Währenddessen ging Ludwig Rainer mit Ehren durch die Zeller Dorfschule. Er stand sich vortrefflich mit seinem Lehrer, der zu ihm und seiner Pflegemutter gar gerne in den Heimgarten kam, und von dieser und ihren beiden ledigen Schwestern welche bei ihr wohnten, immer freundlich aufgenommen und bewirthet wurde. Er erzählte dann den drei Frauenzimmern, die in Liebe zu ihrem Zögling wetteiferten, wie fleißig dieser lerne, ja er malte ihnen das Bild oft schöner aus, als es wirklich war. Deshalb ging er auch nie weg, ohne etwas im Kopfe oder in der Tasche davonzutragen und kam darum nur immer lieber wieder.

In diesen Tagen geschah es auch, daß die Großeltern zu Fügen ihre Fleischhackerei dem ältesten Sohne Johann übergaben, welcher dann sofort eine Wirthstochter aus dem nahen Hard zum Weibe nahm. So war die schöne Lene allein noch übrig. „Sie konnte sich aber keinen Edelmann erwarten“ und mußte sich zuletzt mit einem Fabrikarbeiter, der ein kleines Häuschen besaß, zufrieden geben.

Der Stiefvater, der überhaupt als etwas rauh und kalt geschildert wird, scheint sich übrigens um den jungen Ludwig sehr wenig gekümmert zu haben. Nur einmal während der dreijährigen Abwesenheit der Mutter kam er ihn zu besuchen nach Zell und machte ihm eine Tabakspfeife zum Präsent, die Mutter aber nahm ihm später das Geschenk wieder ab, da sie nicht haben wollte, daß ein so kleiner Spreizer schon rauchen solle.

Nach drei Jahren also kamen die Geschwister Rainer wieder nach Hause, legten ihren Wanderstab nieder, kauften sich schöne Anwesen und fingen ein häusliches Leben an. Frau Marie Wildauer fuhr dann auch wieder mit ihrem Gatten nach Zell, um den kleinen jetzt zehnjährigen Ludwig abzuholen, der sich von der Färberin und ihren Schwestern, die er unendlich liebgewonnen, nur schluchzend und jammernd trennte. Diese seine Zieheltern hatten sein Herz dermaßen eingenommen, daß er sich in unbefriedigter Sehnsucht lange abhärmte und im Vaterhause nur langsam eingewöhnte.

[821]
3.

So war wieder einige Zeit vergangen, und der Junge zwölf Jahre alt geworden, als ihm sein Stiefvater eines Tages eröffnete, er habe ihn dem Schwager Felix zur Verfügung gestellt, und dieser wolle ihn als Geiser (Ziegenhirt) auf der Alp Pfuns verwenden. Ludwig war froh, aus dem elterlichen Hause zu kommen, packte seine „sieben Zwetschgen“ in einen Korb zusammen und stieg, einem älteren Geiser folgend, zwei krumme Federn und einen hölzernen Löffel auf dem Hute, getrost hinauf nach Pfuns.

Dieses sein erstes Alpenleben beschreibt nun Ludwig Rainer in folgender Weise:

„Ich befand mich auf der Alpe ganz gut und wohl. Was ich da zu thun hatte, war Morgens und Abends meine Ziegen zu melken und meinem Melcher (Senner) in der Hütte sonst etwas behülflich zu sein. Der Melcher war ein prächtiger Mensch, desgleichen auch der Hüter und Halbkäser. Alle waren mir sehr zugethan, weil ich ihnen viel Kurzweil mit meinem Singen machte. Meine Stimme verbesserte sich auch von Tag zu Tag. Zeit und Gelegenheit, sie zu üben, war ja genug gegeben. Und da ich zu Hause überaus eingeschränkt gewesen, und immer das wilde Gesicht meines Stiefvaters, vor dem bereits Alles zitterte, zu fürchten hatte; so fühlte ich mich so frei und glücklich wie der Vogel in der Luft, der nach langer Gefangenschaft aus seinem Käfig entkommen. Ja, ewig bleibt das Sprüchwort wahr: ‚Nur wo die Gemsen springen, kann man von Freiheit singen.‘ O, wie zufrieden und glücklich fühlte ich mich, wenn ich auf einer hohen Bergspitze saß und in die Tiefen hinunterblickte, wenn die Ziegen so frisch um mich herum hüpften, wenn die dicken Nebelwolken gleich Pfeilen mit Windesschnelle aus den Thälern heraufschossen, wenn das ferne Geläute der Rinder so lieblich von Berg zu Berg tönte, wenn ich die fröhlichen Gesänge der Alpenhirten von den höchsten Felsen herunter beantwortete, daß es zehnfach im Gebirge widerhallte, oder mein Stücklein Butterbrod bei einem frischen Quell verzehrte!

So suchten wir uns denn die müßige Zeit oftmals mit Gesang zu vertreiben. Einer von den Sennern spielte auch die Geige, zwar sehr erbärmlich, aber dennoch horchten die Melcher hoch auf, wenn er seine Zaubertöne erschallen ließ, und wir Alle glaubten, auf unserer Alpe den zweiten Paganini zu haben. Er war auch ungeheuer stolz auf seine Kunst.“

In jenen Tagen seines heiteren Almenlebens widerfuhr unserem Freunde übrigens noch ein besonderes Abenteuer, welches hier erwähnt zu werden verdient. Die Erzählung, die wir freilich etwas kürzen mußten, lautet ungefähr so:

„Zur selbigen Zeit war auch ein guter Bekannter, Felix Margreiter von Fügen, bei uns auf der Alm. Er war eigentlich ein Handelsmann, welcher nur im Sommer, weil er immer etwas gebrechlich war, ein paar Monate auf der Alpe Pfuns zubrachte, da er ein guter Freund und Nachbar von Felix Rainer war. Er war dabei ein sehr fideler Kunde und wußte gewiß überall den rechten Tact zu schlagen, wenn etwas Lustiges vor sich ging.

Eines Abends nun, als es schon finstre Nacht geworden, saßen wir, wie gewöhnlich, beim Feuer beisammen; als wir plötzlich durch einen Schuß und fernes Jauchzen aufgeschreckt wurden und uns vor die Hütte begaben, um zu sehen, was dies bedeuten sollte. Wir sahen da tief unten im Thale beim Scheine einer Fackel drei Gestalten sich hin und her bewegen, die von Zeit zu Zeit durch lautes Juchhezen zu erkennen gaben, daß sie bei so dunkler Nacht den Weg nicht mehr finden konnten. Es wurde ihnen nun durch ein angemachtes Feuer das Ziel gezeigt, und zwei von den Melchern gingen ihnen mit brennenden Fackeln entgegen, um sie den nächsten Weg zu den Hütten zu führen. Als sie etwa eine Stunde später bei uns ankamen, und wir drei gute Freunde aus Fügen erkannten, welche den Felix besuchen wollten, so war die Freude, daß wir ihre Nothzeichen gehört und sie durch unsern Beistand so glücklich angekommen, nur desto größer.

Als nun nach eingenommenem Nachtmahle berathen wurde, was man am kommenden Morgen thun solle, machte Felix Margreiter den Vorschlag, über die Jöcher einen Ausflug nach Dux zu unternehmen. In drei Stunden könnte man leicht hinübergehen. [822] übergehen. Ich sollte auch mitkommen, um den Duxern etwas vorzusingen, und als Felix Margreiter tröstlich sagte: ‚Dich kostet’s Nichts, wir bezahlen Alles,‘ hat es mich bereits vom Boden gehoben vor Freude.

Nun fehlte mir aber noch die nöthige Kleidung zu dieser Wanderschaft. Ich hatte nur Holzschuhe anzulegen, meine Hosen waren voller Schmutz, mein Kittel ganz schmierig, doch fiel mir ein, daß mir meine Mutter beim Auszug auf die Alm auch ein neues Hemd und eine Unterhose eingepackt hatte. Letztere hatte zwar keinen Sack, ich vermißte ihn aber auch nicht, da ich doch keinen Geldbeutel einzustecken hatte. Felix Margreiter tröstete mich überdies: es sei Alles gut genug, denn die Duxer verstünden das nicht. – Das Beste von Allem war mein Hut mit den zwei krummen Federn.

Beim ersten Tagesgrauen waren wir schon auf dem Wege. Der Morgen war herrlich; der Auerhahn falzte in dem Gehölze, die Schneehühner zwitscherten fröhlich und die alten Jochgeier krächzten von den Felsenhöhlen herunter ihren Baß dazu. Nachdem wir etliche Stunden in der erhabensten Gebirgslandschaft gegangen und bis zum Dreieckstein gekommen waren, wo der Weg an den höchsten Abgründen hinführt, trafen wir etwas unter dem Gipfel ein wunderschönes grünes Plätzchen sammt einer prächtigen Quelle. Doch war es gar unheimlich, rings herum in die Abgründe hinunter zu schauen, und Jedem, der es versuchte, lief es eiskalt durch die Adern. Da die Sonne schon hoch und heiß über uns stand, so hieß es aber bald allgemein, wir sollten hier ein wenig ausruhen, denn wir kämen noch früh genug in’s Dux. So versank denn Einer nach dem Andern in einen erquickenden Schlummer und träumte, was ihm beliebte, als uns plötzlich ein fürchterlicher Donnerschlag aus dem Schlafe aufschreckte. Wie staunten wir Alle uns jetzt in völliger Finsterniß wiederzufinden! Wer eine Uhr hatte, sah zuerst auf diese, in der irrigen Meinung, wir hätten den ganzen Tag verschlafen und seien nun von der Nacht überfallen worden. Aber noch mehr staunten wir Alle, als die Uhr erst elf Uhr Mittags zeigte.

Es war also ein Gewitter über uns gekommen, ein furchtbares Hochgewitter, und die schwarzen Wolken lagen so hart an uns, daß wir keine zwei Klafter weit sehen konnten. Todtenbleich blickte Einer den Andern an, und Keiner wußte zu rathen oder zu helfen. Ringsum die fürchterlichen Abgründe und nirgends ein Schlupfwinkel, wo wir uns vor dem Andrang des Regens, der wie ein Wildbach auf uns niederstürzte, hätten schützen können.

In wenigen Augenblicken waren wir auch schon so naß, daß die Wässer unten bei den Hosen herausliefen. Dazu kam noch ein entsetzlicher Sturm, der uns in die grauenvolle Tiefe hinunterzuschleudern drohte; die Blitze schlugen rechts und links in das Felsgestein, und der Donner brüllte fort und fort, daß es das ganze Gebirge erschütterte. Bald fing es auch an zu schauern, so daß wir nach kurzer Zeit bis über die Knöchel in den Hagelkörnern standen, welche wie Baumnüsse auf unsere Häupter niederrieselten. Wir waren bereits starr vor Frost, aber als unser Elend aus das Höchste gestiegen, hatte Felix Margreiter wieder einen guten Einfall. Wir führte nämlich alle Fünf große Bergstöcke mit uns, und diese wurde jetzt auf seinen Vorschlag entzweigebrochen, einer davon auch klein gespalten, und so loderte in wenigen Minuten an der Felswand das schönste Feuer auf.

Während wir uns nun zu erwärmen und zu erheitern suchten, zog sich das Gewitter allmählich in das Thal hinab. Gegen vier Uhr stieg auch die Sonne, doch sehr matt und schwach, aus den dicken Wolken heraus, welche unter uns immer noch fortdonnerten. Wie froh waren wir aber, als wir dies schauerliche und doch so schöne Plätzchen wieder verlassen konnten! Doch ging es lange nur Schritt für Schritt an den Felswänden hin, weil das schmale Weglein sehr schlüpfrig geworden und unsere Bergstöcke verbrannt waren. Endlich um neun Uhr erreichten wir Lannersbach, den Hauptort im Duxerthal, und gingen sogleich zum Jörgel, dem berühmten Duxerwirth, welcher Anno neun unter Andreas Hofer eine große Rolle gespielt hatte und in der ganzen Gegend als ein lustiges Haus bekannt war. Er nahm uns sehr freundlich auf; wir setzten uns um einen runden Tisch, erzählten den Gästen, welche mit gespannten Ohren zuhörten, Alles, was wir seit dem Morgen erlebt, und fingen dann wacker zu zechen an. Alsbald erschien auch der Lehrer, und wir begannen nun zu singen. Die Duxer kamen schaarenweise in die Stube, bald war das ganze Haus geschlagen voll und Jörgel zeigte sich ungemein vergnügt, daß wir ihm heute einen so einträglichen Abend zu Wege gebracht. Uns ließ er eine Maß nach der andern aufsetzen, damit ja der Gesang nicht ausginge, und so blieben wir denn bis tief in die Nacht in fröhlichster Stimmung beisammen.

Den andern Morgen kam Jörgel zu guter Zeit mit einer Branntweinflasche an unser Bett und drängte uns, heute ja noch hier zu bleiben; wir sollten Alles frei haben. Da nämlich diesen Morgen das Begräbniß eines reichen Bauern und danach, wie es landesüblich, eine Todtenzehrung bevorstand, so gedachte Jörgel, die Leute durch unsere Unterhaltung je länger, je lieber festzuhalten, und er hatte wirklich, wie es sich später zeigte, ganz richtig speculirt. Bald kam auch der Lehrer und holte uns auf den Chor ab, wo wir bei dem Trauergottesdienst singen sollten. Ich hatte in meinem Leben freilich noch nie auf einem Chor gesungen, war auch noch nie in einer Unterhose in die Kirche gegangen, allein in Dux schaute mich Niemand drum an. Nach der Beerdigung begann das Hochamt, und wir Anderen fingen zu singen an, lauter bekannte Alpenmelodieen, in die wir nur die Worte: Requiem aeternam dona eis, domine einlegten. Die guten Duxer waren gleichwohl mit unseren Leistungen sehr zufrieden und nach beendetem Gottesdienste erwarteten uns über hundert Neugierige an der Kirchgasse, welche uns dann alle in’s Wirthshaus folgten.

Dort begann nunmehr das Todtenmahl, und wir wurden von den Erben Alle zur Tafel gezogen. Diese wollte lange gar kein Ende nehmen; nach den Nudeln kamen Kücheln, nach den Kücheln wieder Nudeln und dazu wurde immer tüchtig getrunken. Bald bat man uns auch, zu singen, und als wir unsere Lieder erschallen ließen, wurde Alles noch lebendiger, so daß man eher hätte glauben sollen, es werde eine fröhliche Hochzeit gefeiert. Die arme Seele im Fegfeuer war ganz vergessen, bis endlich Nachmittags um zwei Uhr wieder ‚Herr, gieb ihnen die ewige Ruhe‘ gebetet wurde, womit die Tafel zu Ende war. Die Leute gingen aber gleichwohl nicht aus dem Wirthshause, sondern zechten noch bis in die Nacht hinein, und auch wir kamen erst sehr spät zu Bette. Am andern Mittag traten wir nach freundlichem Abschiede und mit Dank überschüttet den Rückweg an und erreichten gegen Abend wieder unsere Alm.“

Aber auch dieser schöne Sommer verging, und es kam der Herbst und mit ihm die Zeit der Heimfahrt. Unser Freund schied sehr ungern von der Alm, denn er freute sich nicht viel auf das Vaterhaus und noch weniger auf die Schule, die er im Winter wieder besuchen sollte.

Nun ging’s also an die Heimfahrt, welche Ludwig Rainer schildert, wie folgt:

„Am Vorabend wurden alle Kuhglocken reinlich geputzt und Büschel gebunden für den Melcher, den Hüter, den Halbkäser und für mich. Am andern Morgen um vier Uhr wurde das Vieh aus dem Stalle gelassen, mit den Glocken behängt und ebenfalls mit Büscheln und Federn geziert. Dann wurde der Zug geordnet. Der Melcher trieb in seinem schwarzen Hemd und rothen Hosenträgern die reichgeschmückte Maierkuh, welche sich Zottel nannte, voraus; die übrigen Kühe folgten ihm nach voll Selbstgefühl, als wenn sie gewußt hätten, wie schön sie heute verziert waren. Hierauf kam der Hüter mit seinem aufgewichsten Schnurrbart, und diesem folgte das Rindvieh und die Schaar der Schweine, die der Halbkäser mit seinem großen Rautenstrauße auf dem Hute zu hüten und zu lenken hatte. Den Schluß des Zuges bildete ich mit meinen Geisen und Schafen, welche ich stolz vor mir hertrieb. Einer meiner Geisen hatte ich sogar einen Kranz mit Federn aufgesteckt, weil sie auf der ganzen Alpe Pfuns die Königin war.

Als wir abwärts kamen, strömten die Leute rechts und links aus den Häusern herbei, um unsern Zug zu sehen und uns freundlich die Hand zu reichen. Unser Vieh war allbekannt das schönste und schwerste in der ganzen Gegend, und wir bildeten uns nicht wenig ein darauf. Felix, mein Oheim, der Almbauer, wie man bei uns sagt, erwartete uns am Eingange des Dorfes mit einer Flasche Schnaps und begrüßte uns herzlich, sammt hundert anderen neugierigen Zuschauern. Meine Mutter dagegen jammerte hoch auf, als sie mich so schmutzig daherkommen sah; ich aber sagte ihr mit männlichem Ernste: ‚das ist bei uns Almern so der Brauch.‘ Ich war auch wirklich sehr stolz auf mein schwarzes [823] Hemd, welches ich mir zur Heimfahrt mit Fleiß noch schwärzer gemacht hatte.[2]

Als der Zug endlich bei meinem Oheim, unserm Almbauer, angekommen und das Vieh in den Ställen versorgt war, wurde uns mit Speis’ und Trank gar prächtig aufgewartet. Nachdem wir nun bis zum späten Abend so fröhlich beisammen gewesen, zahlte Felix einem Jeden seinen ausgemachten Lohn aus, wie es bei den Aelplern Sitte ist, weil sie nur für die Sommermonate angestellt werden, und dann nahmen wir Alle herzlichen Abschied von einander. Mir gab der Onkel einen Thaler extra, obwohl mir eigentlich kein Lohn gebührt hätte, da mich mein Vater nur aus Gefälligkeit abgegeben hatte. Dieser Thaler wurde zu meinem übrigen Schatzgeld gelegt, denn ich hatte schon gegen fünfzig Gulden schönes Silber beisammen.

Als ich nun an jenem Abend zu Hause ankam, hatte meine Mutter auch schon heißes Wasser und reine Wäsche in Bereitschaft. Ich wurde wider meinen Willen gleich einem Schäflein gebadet und säuberlich hergerichtet, und fühlte mich dann, obwohl ich von meinem schwarzen Almenhemde sehr ungern schied, doch frisch und froh wie neugeboren.“




4.

Im nächsten Jahre wurde Ludwig Rainer zur besseren Ausbildung in die dritte Classe der deutschen Schule nach Innsbruck gebracht. Er gesteht aber selbst ein, daß er dort, fast ohne Aufsicht gelassen, bald ein zügelloser Wildfang geworden sei und Nichts gelernt habe.

Als das Jahr vorüber und der Junge heimgekommen war, hatten die Eltern keine Lust mehr, ihn wieder in die Stadt zu schicken, behielten ihn vielmehr zu Hause und verwendeten ihn zur Bauernarbeit. Immer bemüht, dem Gatten Freude zu machen, ohne viel Dank dafür zu ernten, erkaufte die Mutter um diese Zeit dessen väterliches Anwesen, und damit gewann denn auch die ganze Wirthschaft einen höheren Schwung. Der Vater aber nahm seine Mutter, „eine alte Hexe“, seine Schwester und andere Verwandte in das Haus, denen der Stiefsohn Allen verhaßt war. Sie quälten ihn auch auf jede Art, und er hätte Hungers sterben können, wenn ihm nicht seine Mutter hin und wieder einen vertrauten Bissen zugesteckt hätte.

Unerwarteter Weise entschlossen sich damals die Geschwister Rainer noch einmal, eine Reise nach England zu unternehmen. Es lockte sie dazu die bevorstehende Krönung der jungen Königin (Juni 1838), und sie hofften noch einmal viel reiche Schätze zu ersingen. Doch kam die frühere Gesellschaft, wie wir schon oben bemerkt, nicht mehr unversehrt zusammen, denn Anton, der mittlerweile Postmeister zu Schwaz geworden, wollte sein Hauswesen nicht verlassen, so daß an seine Stelle ein Verwandter von Schlitters, Georg Hauser, eintreten mußte. Ludwig erhielt vor der Abreise von der Mutter noch die besten Lehren, und versprach ihr, geduldig auszuharren. Dieses Versprechen war aber leichter zu geben, als zu halten. Die Rohheit des Vaters vertrieb ihn bald aus dem elterlichen Hause und er ging als ein Flüchtling wieder nach Zell zu seinen Pflegerinnen, die ihn lieb und freundlich aufnahmen und ihm Herberge gaben, bis eines Morgens die Mutter ganz unverhofft zur Stubenthür hereintrat. Sie war unangemeldet aus England zurückgekommen, wo sie und ihre Gefährten wenig Seide gesponnen hatten. Es waren dort nämlich in der Zwischenzeit viele falsche Tiroler als Natursänger aufgetreten und hatten das Geschäft so verdorben, daß dieses Mal die echten Jedes bei sechshundert Gulden einbüßen mußten.

Die Mutter erfuhr nun, wie es ihrem Sohne mittlerweile ergangen, faßte einen festen Vorsatz und zerstörte das ganze Wespennest im Hause. Schwiegermutter, Schwägerin, Vettern und Basen, Alle mußten fort, was ihnen Jedermann vergönnte, denn es hatte sie Niemand leiden mögen. Auch der Vater erhielt ausnahmsweise einen derben Verweis, denn er hatte in der Gattin Abwesenheit wie ein Prasser gelebt und unnütz viel Geld verthan. Ludwig Rainer aber trat bei seinem Vater wieder als Roßknecht ein und ward von ihm viel besser behandelt, denn früher.

Nachgerade war auch die Zeit der ersten Liebe gekommen. Ludwig hatte von Jugend auf unschuldige Freundschaft mit einem Mädchen aus dem nahen Weiler Finsing gepflogen. Sie hieß Hannele und war die Tochter des Gassenwirths daselbst. Als sie mehr und mehr heranwuchsen und das alte Verhältniß aufrecht hielten, waren, wie es schien, auch die beiderseitigen Eltern nicht dagegen.

Als nun Ludwig Rainer wieder einmal auf Besuch zum Gassenwirth kam, fand er das Mädchen ganz traurig und niedergeschlagen. Ihr Vater, erklärte sie, habe beschlossen auf den Viehhandel nach Rußland zu gehen und sie bis zu seiner Wiederkunft in ein Kloster zu geben. Und wirklich wurde sie auch kurz darnach auf ein Jahr zu den Ursulinerinnen nach Innsbruck gebracht.

Nach mehreren Monaten traf es sich, daß Ludwig, den Herrn Verwalter, Doctor Werfer, nach Innsbruck zu führen hatte. Er hoffte, dort sein Hannele wiederzusehen, und freute sich unbeschreiblich darauf. In Innsbruck kehrten sie in der Sonne ein, wo sich der Verwalter drei Tage aufzuhalten gedachte. Ludwig schlich sich nun vorerst listig um das Kloster herum, pfiff, hustete, sang, aber Alles vergebens. Er stieg auf die Gartenmauer und lauerte, aber auch umsonst. Endlich fiel ihm ein, einen alten Cameraden von der Schule her zu besuchen, ein leichtsinniges verwegenes Bürschlein, mit dem er schon damals allerlei kecke Stücklein ausgeführt. Dieser, jetzt Student, wußte auch bald Rath.

„Da Hannele’s Bruder ebenfalls studirte, so lieh mir mein Freund seine Kleider, damit ich mich für ihren Bruder ausgeben konnte. Ferner schrieb er an das Mädchen einen Brief, als wäre er von ihrer Mutter – lauter belehrende und erbauliche Sprüche, weil ihn doch die Aebtissin in die Hände bekommen mußte. Auch verfaßte er mir ein falsches Zeugniß im Namen des Professors, bei welchem ihr Bruder in die Schule ging. So ausgerüstet begab ich mich an die Klosterpforte und zog mit klopfendem Herzen die große dumpfe Glocke. Nach langem Harren kam endlich die Portnerin und frug mit leiser Stimme nach meinem Begehr. Ich brachte meinen Brief zum Vorschein, sagte, daß ich im Kloster eine Schwester habe und ihr diesen übergeben möchte. Sie sei gebeten mich gefälligst bei der Oberin zu melden. Auch übergab ich ihr das falsche Zeugniß, damit jene wirklich sehe, daß ich der fragliche Bruder sei. Nach dieser Unterredung verschwand die Portnerin. Und wiederum nach einer langen Zeit erschien die Aebtissin von zwei Nonnen begleitet am Gitter der Pforte. Sie betrachtete mich eine gute Weile, frug mich bald Dieses, bald Jenes, erhielt aber immer unerschrocken Antwort, so daß sie zuletzt nicht mehr zweifelte, daß ich derjenige sei, für den ich mich ausgab. Sie stellte mir dann das Zeugniß zurück und befahl mir zu warten, bis sich die eiserne Pforte öffnen würde, die in das innere Gewölbe hinabführt; dort würde ich meine Schwester finden. Ich harrte. abermals lange – mein Blut rollte wild in meinen Adern auf und ab, das Herz pochte mir aus Furcht, vielleicht erkannt zu werden –, bis sich endlich die eiserne Pforte mit lautem Geprassel öffnete. Eine steinerne Wendeltreppe führte mich in ein unterirdisches Gewölbe. Dort hing in einer Ecke bei schwachem Lampenschein ein düsteres Bild des gekreuzigten Erlösers. Darunter stand ein kleiner Betschemel und auf diesem ein Todtenkopf. Alles war so still wie in tiefer Mitternacht. Alle Haare standen mir zu Berge, als ich wahrnahm, daß sich die Pforte, durch welche ich gekommen war, wieder schloß. Wenn ich entlarvt wurde, wie konnte es mir ergehen!

Auch an diesem schauerlichen Orte mußte ich lange warten. Endlich öffnete sich eine kleine Seitenthür und von zwei Nonnen behütet trat mein geliebtes Hannele herein. Bei dem schwachen Lampenschimmer erkannte sie mich anfangs nicht; auch meine Kleidung mochte sie irre machen – als ich aber näher trat, rief sie: ‚Ludwig!‘, riß den Klosterfrauen aus und hing an meinem Halse! Mir fuhr es wie ein Dolch durch das Herz; als ich meinen Namen hörte; doch die beiden Frauen schienen ihn zum Glück nicht verstanden zu haben. Gleichwohl zogen sie das Mädchen aus meinen Armen zurück; aber ich hatte der Geliebten schon zuflüstern können, daß ich als ihr Bruder hier sei, und hatte ihr auch schon einen andern Brief heimlich beigebracht, wogegen ich ihr das angebliche Schreiben ihrer Mutter unter den Augen der Nonnen übergab. Natürlich konnte ich mit ihr nur über heilige Sachen discurriren, aber unsere Augen verstanden sich ganz gut. Ich ersuchte auch und bat, man möge die Schwester doch [824] mit dem Bruder auf etliche Stunden in’s Freie lassen, fand aber keine Erhörung.

Endlich mußten wir uns trennen. Ich gab dem Mädchen noch einen langen Abschiedskuß; dann wurde sie von mir gerissen und in das dunkle Gemäuer des Klosters zurückgeführt.

Als sich die eiserne Pforte wieder hinter mir geschlossen hatte, schien mir Alles wie ein Traum. Traurig verließ ich den unheimlichen Ort. Auf der Gasse erwartete mich mein Nothhelfer und begleitete mich in’s Wirthshaus zu einer Flasche Wein, bei welcher ich bald wieder heiter wurde. Und nachdem der Herr Verwalter seine Geschäfte abgemacht, fuhren wir wieder in’s schöne Zillerthal zurück.“

[839]
5.

Es war im Jahre 1838, als sich im ganzen Lande Tirol große Unruhe und Geschäftigkeit zeigte. Alles Volk bereitete sich nämlich auf die Huldigung vor, welche der gute Kaiser Ferdinand im August zu Innsbruck einnehmen sollte.

Auch die Fügener Schützen boten alle Kräfte auf, um dem Kaiser die gebührende Ehre zu erweisen. Die Compagnie wurde unter Hauptmann Anton Ritzl, Hutmachermeister zu Fügen, bestmöglich zusammengestellt. Die Musikcapelle, in welcher Ludwig Rainer als Hornbläser wirkte, war ununterbrochen bemüht, neue Märsche und Gesänge einzustudiren, um sich in Innsbruck bestens hervorthun zu können. Täglich wurden Uebungen in der Gemeindeau gehalten, und die Gäste, die solchen Proben beigewohnt, waren alles Lobes voll, so daß der Compagnie im ganzen Innthal bis nach der Landeshauptstadt hinauf ein großer Ruf vorausging und die Bevölkerung in gespannter Erwartung war, die Fügener zu sehen und zu hören.

So marschirten sie denn eines Tages mit klingendem Spiel und unter allgemeinem Jubel aus und kamen am ersten Tage bis Schwaz. Dort wurden sie freundlichst begrüßt und hörten von allen Seiten, ihre Compagnie sei die schönste im Unterinnthale, was sie nicht wenig stolz machte.

Am nächsten Tage, als es schon dämmerte, rückten sie in die Stadt Hall ein, wo unzähliges Volk auf sie gewartet hatte, und beschlossen, dort zu bleiben. In der nahen Landeshauptstadt war freilich an diesem Abende eine wundervolle Beleuchtung, welche die Schützen mächtig anzog; allein die Hauptleute verboten strengstens hinaufzugehen, damit dort kein Fügener gesehen werde, ehedenn die ganze Compagnie ihren Einzug halte. Auf diesen Befehl begaben sich Alle in die Nachtquartiere; die Spielleute, unter ihnen Ludwig Rainer, meistentheils in das Wirthshaus ‚zu den drei Gilgen‘ (Lilien). Dort setzten sie sich zusammen und besprachen, wie man den Abend ausfüllen sollte. Nun waren aber Viele darunter, welche trotz des strengen Verbots die Beleuchtung gar gern gesehen hätten, und so ließ ihnen denn der Wirth zwei Stellwagen einspannen, in denen etwa dreißig Cameraden nach Innsbruck fuhren. Für ihre Zurückkunft sollte ihnen als Nachtlager frisches Stroh im neugebauten Pferdestall bereit gehalten werden.

Ludwig Rainer wäre ebenfalls gern mitgegangen, allein er und Onkel Franz und noch zwei andere Fügener hatten eine Einladung angenommen, beim Zeindt vor den Herren Bergbeamten zu singen, und so mußte er denn auf die vielversprechende Partie verzichten. Er sah jene seine Gefährten bei ihrer Abfahrt zum letzten Male lebendig.

Als der Gesang, der den vollen Beifall der Herren Beamten gefunden, zu Ende war, ließ Herr Bergrath Zöttl Forellen und Wein auftragen. Ludwig Rainer that sich dabei gütlich, bis um zwölf Uhr die Nachricht kam, die Schützen, welche nach Innsbruck gefahren, seien soeben wieder in den Drei Gilgen angekommen und gesonnen, sich noch mit Gesang und Tanz zu unterhalten. Unser Sänger wollte eben auch zu den Cameraden gehen, als ihm die hübsche Kellnerin zusprach, er solle doch bleiben, es könnte da ja auch noch lustig werden. Ueberdies kam noch ein guter Freund, Joseph Huber, der Fähndrich, dazu, bot ihm statt des Strohlagers in den Drei Gilgen sein Federbett an und bat ihn ebenfalls zu bleiben. So setzten sie sich denn zusammen und plauderten und scherzten bis noch ein Stündlein vergangen war.

Die Kellnerin wies ihnen hierauf die Schlafkammer an, die sie mit noch einigen anderen Schützen zu theilen hatten. Sie wollten sich eben zur Ruhe begeben, hatten auch schon das Licht ausgelöscht, als plötzlich auf der Gasse Lärm entstand. Zugleich hörte man die Trommler mit dumpfen Schlägen Alarm schlagen, einige Nothschüsse krachten und von allen Kirchthürmen erscholl ein schauerliches Sturmgeläute. Ludwig Rainer und der Fähndrich fuhren zusammen vor Angst und Schrecken, und weckten die Cameraden, die noch nicht selbst erwacht. Nun war aber auch schon im Hause Lärm entstanden.

Die Kellnerin kam schreiend und jammernd über die Stiege herauf, mit ihr der Hauptmann, der Landrichter, die Gerichtsschreiber und noch andere Leute, auch der Oberlieutenant, Franz Nißl, welcher eine große Laterne in der Hand führte. Als er Ludwig Rainer sah, stürzte er auf ihn zu, küßte ihn und sagte: „Gott sei Dank, daß Ihr da seid; wir glaubten auch Euch unter dem Schutthaufen!“

Jetzt erfuhren sie die traurige Geschichte ihrer Cameraden im Gilgenwirthshause und machten sich schnell fertig, um nach ihren Brüdern und Freunden zu sehen. Aber leider haben sie die meisten nicht mehr lebend gefunden! Auch der erwähnte Fähndrich hatte seine zwei Brüder verloren.

Was da nun vorgefallen, das erzählte dem Ludwig Rainer damals ein guter Freund, der sich gerettet hatte, Ludwig Werfer, des Schloßverwalters Sohn, und sagte:

„Es war ungefähr des Morgens um ein Uhr, als wir uns, gegen dreißig an der Zahl, Alle sehr heiter und etwas angetrunken, in den neuen Stall zur Ruhe begaben. Der Hausknecht begleitete uns mit einer Laterne und hängte diese mitten im Stalle an einen großen Pfeiler. Er bot uns noch Allen gute Nacht und schloß dann die Thür hinter sich zu. ‚Jetzt sind wir ja eingesperrt!‘ rief ich bedenklich aus.

‚Macht Nichts,‘ entgegnete ein Anderer, ‚so kann uns Niemand stehlen!‘

Der große Pfeiler theilte den Stall in zwei gleiche Theile. In der vordern Hälfte standen zwei starke Rosse, in der andern lagen die Schützen, darunter ich, als der nächste an dem Pfeiler. Als nun Alle bis auf den Lieutenant, welcher eben sein Seitengewehr abschnallte, sich niedergelegt hatten, hörte ich im obern Stock des Neubaus einen furchtbaren Kracher, so daß ich schnell auffuhr und ausrief: ‚Buben, das Haus bricht z’samm!‘ Was nun munter lag, lief schnell gegen die gesperrte Thür zu, aber während des Laufens brach auch schon das hintere Gewölbe herunter auf die armen Schläfer. Ich konnte noch deutlich sehen, [840] wie es den Lieutenant hinten im Stall, der Alles für Scherz hielt, niederwarf und zusammenschlug.

Bis zum Pfeiler war das ganze Gewölbe heruntergebrochen. Nur Einzelne, die meinem Rufe noch folgen konnten, entwischten und fanden sich diesseits bei den Pferden ein, welche nun aber im Schrecken auch losrissen und furchtbar zu toben anfingen. Unsere Lage bin ich wohl nicht im Stande zu schildern! Da der Sturz auch die Laterne zerschlagen so war Alles stockfinster – dazu die gesperrte Thür – die tobenden Rosse – das Jammern und Hülfegeschrei der noch lebenden Cameraden, die zum Theil nur halb verschüttet waren – der dicke Staub, der uns jeden Augenblick zu ersticken drohte, und die Angst, der noch stehende Theil des Neubaus könne auch jeden Augenblick herunterbrechen und uns lebendig begraben.

Endlich kam man helfend zur Thür, die aber auch erst gesprengt werden mußte, und setzte uns in Freiheit. Dann begann Alles mit Pickeln und Schaufeln den Halbverschüttften zu Hülfe zu kommen, ein gefährliches Unternehmen, weil man nicht wußte, ob nicht der ganze Neubau noch nachstürzen würde.“

Von denen, die ganz verschüttet waren, wurden nur zwei noch lebendig ausgegraben. Der Eine wurde bald geheilt, der Andere blieb leidend und starb ein paar Jahre später. Es war der Zimmerer Lux, der auf seinem Schmerzenslager eine Tafel malen ließ mit dem Leichenzuge aller sechszehn Cameraden, welche jetzt noch an der obern Kirchthür zu Fügen hängt. Auch von den Geretteten waren ihrer acht theils durch das Schlagen der Pferde verwundet.[3]

Um acht Uhr Morgens wurde die trauernde Compagnie von den Hauptleuten so gut als möglich zusammengerichtet. Wenn aus den verschiedenen Gassen noch ein verspäteter Schütze herbeieilte, war Alles froh, weil man ihn auch schon zu den Todten gerechnet hatte. Von den Fahnen, welche gestern noch mit bunten Blumen geziert waren, hingen heute lange schwarze Schleier herunter, die Trommeln waren mit schwarzem Tuch überzogen und tönten düster und melancholisch. Auf Verlangen des Kaisers marschirte die Compagnie vor die Residenz, wo ihr die ganze kaiserliche Familie das innigste Bedauern über die erschütternde Begebenheit aussprach. Von dort zog sie zum Adamsbräu nach Wilten, wo sie einquartiert wurde und das ganze Haus zur Verfügung hatte.

„Jetzt,“ erzählt Ludwig Rainer weiter, „eilten auch alle die Mütter, Frauen und Geschwister der Ausgezogenen nach Hall, um nach ihren Lieben umzusehen. Meine Mutter befand sich eben auf dem Wege nach Innsbruck, wo sie mit ihren Brüdern vor dem Kaiser singen sollte. Ihre Angst ist wohl zu denken, doch erfuhr sie schon in Volders, daß ich nicht beim Gilgenwirth gewesen.

Des Nachmittags ging ich, um etwas Zerstreuung zu suchen, auf den Rennplatz (vor der Residenz), wo jetzt tausend Neugierige auf- und abwogten. Darunter waren Viele, welche mich an meiner Tracht als einen Mann der unglücklichen Fügener Compagnie erkannten, auf mich zugingen und den ganzen Hergang zu hören begehrten. Dicht umringt, erzählte ich ihn, so gut ich konnte, und erzählte immer wieder, bis sich ein Hofbedienter durch den Haufen drängte und mir eröffnete, daß der Kaiser und der Erzherzog Johann, welche mich vom Fenster aus gesehen, mit mir zu sprechen verlangten. Ich folgte also dem Bedienten, welcher mich in einen großen Saal führte, wo mir der gute Herzog Johann schon entgegenkam. Nachdem er mich gefragt, ob ich von der Fügener Compagnie sei, und ich dies bejaht hatte, fragte er weiter, ob nicht Stanislaus Eigner, ein Wirthssohn von Fügen, den er aus der Taufe gehoben, auch unter den Verunglückten sei. Darauf konnte ich ihm zu seiner Freude sagen, daß dieser noch lebe und sich bei uns in Innsbruck befinde. Unterdessen war auch der Kaiser aus einem Nebenzimmer gekommen und ich mußte die Geschichte noch einmal erzählen, wodurch Beide tief ergriffen wurden. Der Erzherzog drückte mir zum Schlusse zwei Kronenthaler in die Hand und trug mir auf, meinen Hauptleuten sogleich zu melden, daß sie der Kaiser in der Residenz erwarte, um zu berathen, was für die Hinterlassenen geschehen könne. Ich richtete meinen Auftrag unverzüglich aus, die Geladenen begaben sich sogleich in die Burg, und der Kaiser setzte noch am nämlichen Abende fur die Betroffenen großmüthige Pensionen aus.“

Die vorige Schreckensnacht hatte aber noch ein seltsames Nachspiel. Die Schützen lagen nämlich beim Adamsbräu zum Theile im Hause, zum Theile – ihrer achtzig – auf der Malztenne. Unter diesen war auch Ludwig Rainer, der noch immer – es war gegen ein Uhr – an die gestrige Begebenheit und seine Cameraden dachte. Beim trüben Scheine der Laterne glaubte er nun einen Mann hereintreten zu sehen und meinte den Ruf zu hören: „Auf, es bricht Alles zusammen!“ Mit einem Male wer das ganze Haus in Aufruhr. Die Schützen auf der Malztenne drängten sich, stießen sich, sprangen einander über die Köpfe weg auf die Thür zu. Auch zu den Fenstern wollten sie hinaus, doch waren diese glücklicherweise vergittert. Als nun Alles im Vorhofe zusammeneilte, kam auch der Hauptmann und brachte die traurige Nachricht, daß sie oben im Hauptgebäude denselben Lärm gehört, und daß sein Sohn aus Angst und Schrecken vom ersten Stock auf das Straßenpflaster heruntergesprungen sei. Dieser wurde auch eben auf einer Tragbahre zum Thore hereingebracht und hatte noch lange zu leiden. Nun fragten sich aber Alle kreuz und quer, was denn eigentlich an der Sache sei, und Keiner konnte einen Aufschluß geben. Auch Ludwig Rainer kam zur Einsicht, daß er den rufenden Mann nur im Traume gehört. So blieb denn nichts Anderes übrig, als den ganzen Auftritt für eine unerklärliche Nachwirkung des Schreckens der vorigen Nacht anzusehen.

Am andern Morgen, als am Huldigungstage, marschirte die Compagnie also von Wilten in die Stadt. Zu einigem Troste in ihrer Traurigkeit befahl der Kaiser, daß ihr für diesen Tag die Ehrenwache in der Hofburg übertragen würde. Dort konnte sie auch den herrlichen Festzug am gemüthlichsten betrachten und übersehen.

Des Nachmittags wurde die Mutter mit den vier Brüdern in die Residenz geladen um dort vor dem Kaiser zu singen. Auch Ludwig Rainer und viele andere gute Bekannte erhielten Zutritt. Nachdem der Gesang zu Ende, durften sich Alle an eine gedeckte Tafel setzen und mit goldenen Löffeln essen, welch Letzteres den Meisten ganz neu und ungewohnt gewesen sein soll.

Am andern Tage des Morgens um vier Uhr brachen alle Compagnien aus dem Unterinnthale in Innsbruck auf und marschirten nach Hall, um den erschlagenen Cameraden die letzte Ehre zu erweisen. Die Schützen weinten den guten lieben Jungen manche Thräne nach. Sie wurden zu Hall auf dem Friedhof alle sechszehn in ein Grab gelegt und harren dort einer fröhlichen Auferstehung.




6.

Ludwig Rainer war nun siebenzehn Jahre alt und ein ziemlich leichtsinniges Bürschlein geworden. Indem er dies selbst hervorhebt, erlaubt er sich auch manchen scharfen Tadel uber die männliche Jugend seines Thales. Zechen und Müßiggehen gelte ihr für fashionable, und wer nicht mithalte, werde leicht als ein Kopfhänger oder Betbruder verschrieen. Da es Einer dem Andern im Leichtsinn und Uebermuth zuvorzuthun suche, so werde mancher gute Junge schon früh verdorben und zu Grunde gerichtet. – Salvo meliori. –

„Nun besuchte uns eines Tages,“ heißt es in den Aufzeichnungen Rainer’s, „ein Befreundeter, Johann Masserer nämlich, der mit seinem Bruder Franz, mit Simon Holaus von Zell und der Margaretha Sprenger von Kupferberg als Tiroler Sänger auf Reisen gewesen war. Dieser sagte zu meiner Mutter, er habe mich auf dem Chore singen hören, und meine Stimme habe ihm so gefallen, daß er mich, wenn sie es erlaubte und ich dazu Lust hätte, auf seine bevorstehende Reise als Sänger mitnehmen würde.

Meine Mutter überlegte sich die Sache. Sie mochte wohl finden, daß es besser sein dürfte, den jungen Schwärmer in die weite Welt zu schicken als ihn zu Hause in schlechter Gesellschaft verkommen zu lassen, und gab daher. nach kurzem Bedenken den Bescheid: ‚Ja, wenn Du glaubst, daß Du mit dem leichtsinnigen Bürschlein etwas machen kannst, so nimm ihn nur mit – schlimmer kann er nimmer werden, als er ist.‘ Diese Worte habe ich in meinem Leben nicht mehr vergessen. Ich nahm mir von dieser [841] Stunde an vor, ein anderer Mensch und recht sparsam zu werden, und der Mutter bald zu zeigen, daß ich mich gebessert habe. Es war auch wirklich das größte Glück für mich, daß ich von Fügen fortkam.

So war nun Alles zur Abreise fertig. Meine Mutter gab mir achtzehn Gulden Zehrpfennig mit, und mein Onkel Franz führte uns mit seinem Gefährte bis Kufstein. Beim Dreikönigswirth gaben wir dort das erste Concert, und ich trat da zum ersten Male vor einem Tiroler Publicum als Sänger auf. Ich benahm mich so couragirt, als wäre ich schon viele Jahre auf der Bühne gestanden. Unser Gesang fand ungemeinen Beifall, und wir machten schon in Kufstein ganz gute Geschäfte.

Von da reisten wir nach München, wo wir eine geraume Zeit verweilten und sehr beliebt waren. Wir hatten auch die Ehre, öfter vor dem Herzog Maximilian von Baiern zu singen. In kurzer Zeit schon hatte ich mir achtzig Gulden erspart. Dafür habe ich meinem Freunde Holaus viel zu danken. Er behandelte mich sehr gut, lehrte mich sparsam sein und doch dabei zu leben, wie es einem anständigen Menschen geziemt.

Eines Tages kam in München mein Freund Felix Margreiter zu uns, welcher eben auf der Heimreise begriffen war, um wieder eine Sommerfrische auf der Pfunser Alpe zu nehmen. Diesem gab ich die ersparten achtzig Gulden für meine Mutter auf mit dem Bemerken, der Leichtsinnige lasse sie Alle schön grüßen und er sei setzt schon ein besserer Mensch geworden. Es läßt sich denken, daß sie darüber zu Hause eine große Freude hatten.“

Die Reise wurde nun unter günstigen Bedingungen fortgesetzt – von München über Nürnberg, Bamberg nach Kissingen, von da nach Würzburg, Frankfurt bis Bad Ems und von da wieder zurück nach Karlsruhe und Baden-Baden. Hier aber ward ihrem Singen ein unerwünschtes Ziel gesetzt. Simon Holaus nämlich wurde krank und lag lange Zeit am Nervenfieber darnieder. Er erholte sich sehr langsam, und an eine Fortsetzung der Kunsteise war vor der Hand nicht zu denken. So traten sie denn den Rückweg nach Fügen an, wo sie eines Abends um zehn Uhr ankamen und bei Franz Rainer einkehrten.

„Wir unterhielten uns diesen Abend sehr angenehm; alle unsere Freunde strömten zusammen, und meine Mutter hatte eine große Freude, mich so umgeändert wiederzusehen.“




7.

So weit der erste Folioband, der aber kaum zum vierten Theile beschrieben, übrigens auch erst spät, im Jahre 1851, begonnen worden ist, als Herr Rainer einst von einer Schriftstellerlaune befallen wurde und sich erinnerungsselig hinsetzte, um seine Memoiren oder wenigstens die Geschichte seiner Jugend für Kinder und Enkel schriftlich herzustellen. Aelter und gleichzeitig entstanden ist das Tagebuch der Reise nach Amerika, etliche dreihundert enggeschriebene Seiten, auf welchen Herr Rainer vom 1. Januar 1840 bis in den Mai 1863 Tag für Tag seine Erlebnisse verzeichnete. Diesen reichhaltigeren Stoff zu verarbeiten will ich aber gern einem richtigeren Nachfolger überlassen. Gleichwohl mag in Kürze erwähnt werden, daß die erste Idee, die Fügener nach Amerika zu führen, von einem französischen Abenteurer, Eugen Burnand, ausging. Dieser erschien eines Tages im „Gasthaus zum Hackelthurm“, suchte die Sänger kennen zu lernen und „gaschierte sie dann auf zwei Jahre zu einer Kunstreise an“. Die anderen Glieder der Gesellschaft waren Simon Holaus, Margaretha Sprenger und Ludwig’s Base, Helena Rainer, eine Tochter des Onkels Johann Simon Holaus; der älteste unter ihnen zählte kaum zweiundzwanzig Jahre. Diese junge Gesellschaft, unerfahren und voll Vertrauen, wurde von dem Franzosen arglistig betrogen. Als sie nach vierzehn Monaten endlich Abrechnung und Auszahlung ihres Verdienstes verlangte, war Jener bald verschwunden und kam nicht wieder zum Vorschein. Die Zillerthaler saßen nun ohne alle Mittel, ganz verlassen zu New-Orleans; aber mit Hülfe einiger Schweizer Kaufleute gingen sie wieder unverzagt ihrem Berufe nach und errangen sehr schöne Erfolge, bis sie in Boston ein neues Mißgeschick befiel. Helena Rainer, ein reizendes, unverdorbenes Mädchen, hatte sich nämlich heimlich mit einem Amerikaner versprochen und eröffnete den Anderen erst wenige Tage vor der Hochzeit, daß sie aus der Gesellschaft treten werde.

Da alle Bitten und Vorstellungen vergeblich waren, so standen die Verlassenen allein, ohne Sopran, in der Welt und mußten sich schleunig um einen Ersatz umsehen. Als solcher fand sich ein hübscher irischer Knabe, in welchem Ludwig Rainer zufällig Anlage zum Jodeln entdeckt hatte. Die armen Eltern ließen den Jungen gern ab und so trat er denn nach einiger Uebung zu Boston mit den Zillerthalern als Tiroler auf und fand allgemeinen Beifall. Dies dauerte aber auch nicht lange; nach einem halben Jahre schlug des jungen Irländers feiner Sopran in eine Baßstimme um und die Gesellschaft war wieder in großer Noth. Sie schrieb nach Fügen und bat um Hülfe. Nachdem sie in Halifax drei Monate sehnsüchtig geharrt, kamen auch zwei Zillerthaler an, aber leider solche, „die besser mit der Heugabel umzugehen wußten, als mit Alpengesang!“ Die Enttäuschung war sehr bitter und es blieb nichts übrig, als in die Heimath zurückzukehren.

Damals brachte jedes Mitglied sechstausend Gulden nach Hause. Wäre Alles nach Wunsch gegangen und die letzte Widerwärtigkeit nicht eingetreten, so hätte, meint Ludwig Rainer, jeder Theilnehmer ebenso leicht sechszigtausend Dollars heimbringen können. Nach dieser Reise geschah es, daß ich den vielgewanderten Sänger 1844 zu Fügen traf und kennen lernte. Nunmehr entschloß er sich zu heirathen und zwar dieselbe Margareth Sprenger, welche mit ihm in Amerika gewesen. Sie starb aber bald nach ihrer ersten Entbindung. Von Gastwirths Hannele war nicht mehr die Rede; doch soll sie schon lange in Wien eine ganz glückliche Gattin und Besitzerin einer großen Meierei mit Milchwirthschaft sein. Nachdem sich Ludwig Rainer wieder verehelicht, kaufte er das Hirschenwirthshaus in Rattenberg. Im Jahre 1848 zog er gegen Garibaldi und seine Schaaren als Schützenlieutenant nach Wälschtirol. Als das Jahr 1851 und mit ihm die erste große Weltausstellung in London herankam, regte sich aber wieder eine tiefe Sehnsucht nach dem alten Wander- und Sängerleben in der weiten Welt. Auch Freund Holaus wollte nicht mehr zu Hause bleiben und so stellten sie wieder ein Quintett zusammen, welches sie nach London führten. Das Unternehmen hatte sehr guten Erfolg; die Zillerthaler sangen sogar mehrmals in Windsor Castle vor der Königin Victoria, von welcher ihr Hauptmann eine goldene Uhr zum Geschenk erhielt. Auch in Schottland und Irland ließen sie ihre Lieder erschallen und der große Name Rainer übte noch allenthalben seinen Zauber. Kaum zurückgekehrt, zog unser Held auch singend nach Italien und im Jahre 1855, von Graf Morny eingeladen, zur Weltausstellung nach Paris, wo er und seine Gesellschaft mehrmals in die Tuilerien beschieden wurden. Von Paris wandten sie sich nach dem Norden und sangen an den skandinavischen Höfen. Im Jahre 1858 nahm Ludwig Rainer ein langes Engagement in St. Petersburg an und blieb, wie schon erwähnt, gegen zehn Jahre dort. Da auch seine zweite Frau gestorben, so vermählte er sich am Newa-Strand zum dritten Male, und zwar mit Anna Prantl, der Wirthstochter von Margreten, welche, wie schon früher berichtet, eine Schwester der beiden schwarzen Gestalten ist, die ich damals zu Schwaz gesehen. Das war eine sehr lustige Hochzeit, ganz nach Tiroler Art, und mußten dabei auch die geladenen Gäste, mehrere hundert an der Zahl, in Tiroler Tracht erscheinen. Es störte die Freude keineswegs, daß das Brautpaar von deutschen und russischen Freunden auch mit sehr kostbaren Geschenken beehrt wurde.

Aus Rußland zog den Sänger 1868 das Wiener Schützenfest heraus. Er blieb mit seiner Gesellschaft sechs Monate in der Kaiserstadt an der Donau, bereiste dann Ungarn, Siebenbürgen, das Land der Walachen und drang selbst in die Türkei vor.

Vergangenen Herbst haben wir ihn und seine Gesellschaft in München gesehen und gehört. Damals gedachte er wieder ein halbes Jahr auf Wanderschaft zuzubringen. Die freie Zeit, welche er zwischen hinein in seiner Heimath verlebte, hatte er rührig benützt, um am Achensee nicht weit von der bekannten Scholastica, einen neuen Gasthof zu gründen. Eine Zubehör desselben, die Veranda oder das Kaffeehaus, sehr elegant an’s Gestade hingestellt, ist schon seit ein oder zwei Jahren eröffnet. Das Hôtel selbst soll im kommenden Sommer fertig sein. Während der unternehmende Mann in den europäischen Hauptstädten Zillerthaler Lieder singt, waltet dort in der Einsamkeit Frau Anna Rainer, die züchtige Hausfrau, jetzt von den Gästen des Achenthals nicht minder hochgestellt als freundliche tüchtige Wirthin, wie vordem von Russen und Tataren als kunstreiche Jodlerin. Möge das Unternehmen vor allen tellurischen Nationen Gnade und so das Gedeihen finden, das es verdient.





  1. Diese Erzählung vom Anfange der Rainer’schen Unternehmungen läßt sich allerdings mit dem Berichte, den ich einst von Joseph Rainer erhalten (Drei Sommer, S. 540) nicht leicht vereinigen, doch fand ich mich nicht berufen, etwas daran zu ändern.
  2. Die Schwärze des Hemdes, welches auf der Alm nie gewechselt wird, soll nämlich andeuten, daß die Senner, fern von aller Ueppigkeit, auch der des Waschens, sich fleißig mit dem Vieh befaßt, keine Mühe und Arbeit gescheuet haben etc.
  3. Das Wirthshaus zu den drei Gilgen wurde später niedergerissen, noch ein anstoßendes Haus dazu gekauft und auf der erweiterten Stelle der jetzt rühmlich bekannte „Gasthof zum Bären“ erbaut. – Die Tafel an der Kirche zu Fügen ist aber vor einiger Zeit entfernt worden und daher jetzt nicht mehr zu sehen.