Eine Vorlesung von Charles Dickens

Textdaten
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Autor: Corvin
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Titel: Eine Vorlesung von Charles Dickens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 612–614
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Vorlesung von Charles Dickens.


Der Name Charles Dickens ist in der ganzen Welt mit Recht beliebt und geachtet; seine köstlichen Bücher sind fast ebenso wohl bekannt in Deutschland, wie in England, und wir lesen sie mit immer neuem Vergnügen, obwohl uns die Hälfte ihrer Schönheit entgeht, theils wegen der Übersetzung, theils weil wir nicht im Stande sind, ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur wer lange in England gelebt hat, mit dem Volksleben vertraut und der englischen Sprache vollkommen mächtig ist, vermag zu beurtheilen, wie treffend und wahr seine Schilderungen englischer Zustände und Charaktere sind. Wir bewundern und lieben Dickens als den Schriftsteller des Volks, als den Verfechter des Fortschritts, der mit der scharfen und mächtigen Waffe des Humors schädliche Vorurtheile und Abgeschmacktheiten bekämpft und dessen Bücher sämmtlich von einem so reinen Geiste durchweht und trotz aller Schalkheit in einer Sprache geschrieben sind, die sie jedem Alter und jedem Geschlecht empfehlenswerth und zugänglich macht.

In England ist Dickens so populär, als nur immer ein Mann sein kann; allein natürlich nicht besonders beliebt unter den „obersten Zehntausend“ und den andern Tausenden, die sich an dieselben anhängen; Leute, die, wenn auch nicht das Bewußtsein, so doch stets eine Ahnung von ihrer eigenen Lächerlichkeit und Abgeschmacktheit, kurz sich selbst im Verdacht haben, „Futter für Humoristen“ zu sein.

Da wir Deutsche englische Sitten und Gebräuche mit deutschen Augen und Gefühlen ansehen, so wundern oder empören wir uns über manche Dinge, welche in England nicht den allergeringsten Anstoß, ja nicht einmal Verwunderung erregen.

Nicht nur auf mich, sondern auch auf viele andere Deutsche machte es stets einen peinlichen Eindruck, „anständige Männer“ Monate lang, Abend für Abend, dieselben Worte und Späße, dieselben Gebehrden wiederholen zu hören und zu sehen – einzig und allein um so schnell als möglich „Geld zu machen“. Ich muß gestehen, ich erröthete, als ich zuerst einer Vorlesung des berühmten Jägers Gordon Cumming beiwohnte. Ein großer Saal war mit all seinen afrikanischen Jagdtrophäen geschmückt; sein Reisewagen war aufgestellt; an dem einen Ende war eine Bühne; auf ihr erschien der schöne, stattliche Jäger in dem theatralischen Hochlandscostüm – das blanke Schwert in der Hand! Nachdem so jeder Anwesende für wenigstens zwei Pence von dem Eintrittschilling von seiner Person abgesehen hatte, stieg Herr Gordon Cumming auf eine Tribüne, die durch einen ungeheuern Elephantenschädel gebildet wurde, und während transparente Bilder erschienen, wiederholte er dieselben Geschichten, dieselben Scherze mehr als hundert Abende hintereinander. Verschwand er, um sich zu erfrischen, von der Bühne, dann machte sein Buschmann auf derselben seine Sprünge, und Beide schienen mir in dem Augenblick Wesen ganz derselben geistigen Ordnung.

Hier findet man an dieser Zurschaustellung der Person nichts Anstößiges, denn der Mann macht ja Geld! Freilich, so lange er Geld macht, ist er aus den höheren Kreisen der Gesellschaft ausgeschlossen, denn nur Geld haben ist aristokratisch, Geldverdienen plebejisch; allein man vergißt hier sehr bald, wie Geld gewonnen wurde, sobald es nur da ist. Was man aber nie vergißt und vergiebt, ist, kein Geld zu haben. Bei uns ist das einfach ein Unglück, in England ist es geradezu ein Verbrechen und zwar das größte, was noch hassenswerther und unanständiger als selbst Freigeisterei in religiösen Dingen ist; die Engländer schreiben nur G… statt Gott, um nicht geradezu einzugestehen, daß das Wort in ihrem Herzen meistens Geld ausgesprochen wird.

Wenn uns diese Art von Prostitution schon bei einem Mann wie Gordon Cumming auffällt, der doch nur ein „Gentleman“ und tüchtiger Jäger von nicht übertrieben feinem Gefühl ist, so berührt sie uns noch peinlicher, wenn wir sie von Männern ausgeübt sehen, die wir in Deutschland weit über den bloßen „Gentleman“ stellen, nämlich von talentvollen Schriftstellern. Albert Smith, zum Beispiel war ein solcher, und doch machte er Jahr aus Jahr ein alle Abende in einem aufgeputzten Locale dieselben alten Witze und erntete dafür alle Abende andere neue Schillinge, die sich bald zu Tausenden von Pfunden in der Bank anhäuften.

Als ich vor einigen Jahren hörte, daß Charles Dickens in der Art eines Schauspielers Scenen aus seinen eigenen Werken vorlese und zu diesem Ende überall in England umherreise, that [613] mir das leid, und ich konnte mich nicht entschließen, eine seiner Vorlesungen hier in London zu besuchen. Dickens schien mir dadurch eine Stufe herunter zu steigen, und andere Deutsche, mit welchen ich hier darüber sprach, hatten ganz dieselbe Empfindung. Es fehlt uns in Deutschland zwar nicht an ähnlichen Schriftstellern, allein wir betrachteten sie immer mehr als Lustigmacher, und unsere Achtung vor ihnen war nicht besonders groß. Ich erinnere an Sapphir und seine Nachahmer, mit denen Dickens wohl nicht gern gleichgestellt werden möchte.


Dickens als Vorleser.


Dramatische Vorleser und Schauspieler wiederholen zwar auch oft dasselbe, und wir hören sie stets mit Vergnügen und denken nicht, daß sie sich dadurch herabsetzen; ja, wir schätzen nicht einmal den Schauspieler gering, der den gestiefelten Kater spielt; allein was würden wir von dem Herrn Hofrath Tieck denken, wenn er hundert Abende hintereinander in dieser Rolle aufträte?

Als ich einst einer Vorlesung von Herrn und Madame Ronge über Kindergärten in der St. Martins-Halle in London beiwohnen wollte, freute ich mich, das Gedränge am Eingange zu sehen. Da wogte ein Meer von Köpfen, und die Leute, welche wegen Mangel an Raum abgewiesen wurden, machten sehr trübselige Gesichter, was mich für unsern Landsmann aufrichtig freute. Aber ach, meine Freude war voreilig, denn als ich am Eingange mein Billet vorzeigte, wies man mich mit der Bemerkung zurück, daß dies eine Vorlesung von Dickens sei. Die unseres Landsmanns fand in einem kleineren Locale desselben Hauses statt, und – am Eingange war kein Gedränge und im Saal viel mehr Platz für Zuhörer als Zuhörer.

Dickens hat großes dramatisches Talent, wie Alle versichern, die ihn auf Privatbühnen auftreten sahen. Erst gestern sah ich in einem Ladenfenster einen von Dickens selbst mit seinem Namen unterzeichneten Abdruck einer großen Lithographie, die ihn in einer Theaterscene darstellt. Da alle Leute, die ihn vorlesen hörten, den gehabten Genuß nicht genug rühmen konnten und ich in der That vor Begierde brannte, ihn ebenfalls zu hören, ein Wunsch, der durch meine persönliche Bekanntschaft mit ihm noch erhöht wurde, so beschloß ich meine vielleicht abgeschmackte Bedenklichkeit zu besiegen und seiner letzten Vorlesung in dieser Saison beizuwohnen.

Dieselbe sollte in der zwischen Piccadilly und Regentstreet sich ausdehnenden St. James-Hall stattfinden, wo Dickens einige Capitel aus „Dombey und Sohn“ und die Gerichtsscene aus den „Pickwickiern“ vorlesen wollte. Die Vorlesung fand am Abend statt. Der sehr große, wunderschöne Saal war so gefüllt, als er nur sein konnte, und es waren wohl zweitausend Zuschauer anwesend, wenn nicht mehr. Das will etwas heißen, wenn man bedenkt, daß Dickens dieselbe Vorlesung schon sehr oft gehalten hat und daß die Plätze von 20 Sgr. bis 1 Thlr. 20 Sgr. kosteten. Das Publicum gehörte meist der höheren Mittelclasse an; allein auf den Zweischillingplätzen sah man auch nicht nur Männer und Frauen aus dem Handwerkerstande, sondern selbst gewöhnliche Arbeiter, Soldaten und Seeleute. Es war angenehm ihre Gesichter zu beobachten. Man konnte auf allen lesen, daß man einen großen Liebling des Publicums erwartete, einen Liebling, den man nicht nur liebte, wie zum Beispiel einen komischen Schauspieler, sondern den man sehr verehrte und achtete, dem man dankbar dafür war, daß er sich herabließ, sein ihm neben dem größern Talent gefällig verliehenes geringeres zur Unterhaltung seiner Freunde und Verehrer auszuüben.

Auf der für das Orchester bestimmten Erhöhung – es werden in dem Saale fortwährend Concerte gehalten – stand ein Tisch mit einem kleinen Pulte und Wasserflasche und Glas. Hinter demselben war eine Wand von dunkelbraunrothem Tuch aufgestellt und vor dem Tisch, in der Höhe von etwa acht Fuß, eine Reihe von acht Gaslichtern angebracht, die das Publicum nicht sah und deren Schein den braunrothen Schirm und den Tisch erleuchtete. Personen gingen zwischen den Reihen der Zuhörer umher und boten „Dombey und Sohn“ und „The trial of Pickwick zum Verkauf aus, wie auch Papierfächer, auf denen Scenen aus diesen Romanen abgebildet waren.

Als Dickens erschien, wurde er mit einem achtungsvollen Applaus begrüßt, von dem er aus Grundsatz keine Notiz nahm, da man sich bestrebt, das widerliche und störende Bedanken für Applaus auch von der Bühne zu verbannen. Dickens ist ein hübscher, noch jung und blühend aussehender Mann, mit klugen Augen und einem humoristischen, etwas sinnlichen Munde. An jenem Abende erschien er mit weißer Weste und weißer Halsbinde und trug eine Blume im Knopfloch; kurz er war „in dress“ d. h. im Gesellschaftsanzug. Die beifolgende Abbildung, freilich in der grellen Beleuchtung von acht Gaslichtern aufgefaßt, ist sehr gut und ähnlich.

Die Vorlesung begann mit „Dombey und Sohn“. Da ich etwas entfernt von dem Vorleser saß, so gebrauchte ich mein Opernglas, welches mich in den Stand setzte, jeden Wechsel in seinen Zügen zu beobachten, wodurch ich das, was er las, noch besser verstand und genoß.

Der Ton und die Art des Vortrags der englischen „lecturers“ – Personen die Vorlesungen halten – ist ganz eigenthümlich und durchaus von den bei uns gebräuchlichen abweichend. Die meisten lesen außerordentlich schnell, und die immer wiederkehrende Modulation im Ton macht diese Vorlesungen sehr monoton. Es dauert eine ganze Weile, ehe ein Deutscher sich daran gewöhnt. Alle Stellen des Buches, in welchen Personen nicht redend eingeführt sind, liest Dickens in ähnlicher Weise; allein er thut es dennoch ebenso verschieden von andern, gewöhnlichen lecturers, als er selbst [614] von ihnen verschieden ist. Bei ihm fällt die Manier nicht unangenehm auf; ich meine selbst einem Deutschen nicht, denn die Engländer sind daran gewöhnt.

Sobald aber die Personen redend eingeführt werden, verwandelt sich der Vorleser in den Schauspieler, und man hat gerechte Ursache über Dickens’ großes Talent zu staunen. Er liest jede Person, wie er, deren Schöpfer, sie sich gedacht hat, und dieser Umstand giebt seiner künstlerischen Leistung ein noch ganz besonderes Interesse. Schließt man die Augen, so hört man nicht Dickens, sondern man hört den Doctor, die Wärterin, den kleinen, kranken Knaben und die andern Personen des Romans. Es ist erstaunlich, wie richtig Dickens alle Eigenthümlichkeiten der Classe von Personen, die er schildert, beobachtet hat, und noch erstaunlicher, daß er sie so täuschend copiren kann. Fast jeder der Zuhörer kennt einen Doctor, eine Wärterin etc., die gerade so reden wie Dickens, indem er sie darstellt, und das Gelächter bei den komischen Stellen ist nicht zu unterdrücken. Mich ziehen diese mehr an, als die rührenden; allein daß Dickens darin nicht weniger Meister ist, wird aus der Wirkung klar, die er hervorbringt, selbst unter den erschwerendsten Umständen. Als er auch die Stimme des kranken Kindes nachahmte, machte dies auf mich zuerst einen befremdenden Eindruck, den ich auch bis zum Ende nicht gänzlich los werden konnte; allein die englischen Zuhörer schienen nicht dasselbe Gefühl zu haben, denn viele Damen hielten ihre Taschentücher an die Augen, und eine, die mit ihrem Manne vor mir saß, weinte so laut, daß der letztere ganz ärgerlich wurde.

Die Gerichtsscene, in welcher Pickwick verurtheilt wird, der Wittwe Bardell für Brechung eines Eheversprechens eine bedeutende Summe zu zahlen, ist eine der besten des ganzen Buches. Sie enthält eine ganz köstliche Satire, deren Trefflichkeit nur von denen begriffen werden kann, welche mit dem englischen Gerichtsverfahren genau bekannt sind, und deren Humor keiner so vollkommen genießen kann, als wer sie von Dickens selbst vorlesen hörte. Alle darin auftretenden Personen waren so scharf und bestimmt durch Ausdruck, Ton und Manier ihrer Rede gezeichnet, daß man jede Individualität augenblicklich erkannt haben würde, wenn auch der Name des Redenden nicht genannt worden wäre. Der Richter Starnleigh war herrlich; der stotternde Mr. Winkle classisch komisch; Sam Weller köstlich; aber der Lichtpunkt der ganzen unübertrefflichen künstlerischen Leistung des Verfassers der Pickwickier war die Rede des Sergeant Bugfug für die Klägerin Mrs. Bardell! Jedes Wort war köstlich, jede Gebehrde der Natur abgelauscht und, obwohl nur ganz gelinde übertrieben, so überwältigend komisch, daß das Lachen kein Ende nahm und manche der Zuhörer beinahe den Lachkrampf vor Vergnügen bekamen. Ich muß gestehen, ich habe in meinem Leben nichts Komischeres und Amüsanteres gehört. Was das Verdienst dieser Vorlesung noch bedeutend erhöhte, war, daß ihre Wirkung nicht durch niedrige Buffonerie erzielt wurde; ein Fehler, in welchen komische Schauspieler so häufig verfallen. Es war da nicht eine Gebehrde, nicht ein Ton, der mich unangenehm für Dickens berührte; das Ganze war eine durchaus künstlerische, eines humoristischen, so bedeutenden Schriftstellers wie Dickens vollkommen würdige Leistung. Ich verließ den Saal, geheilt von meinem Vorurtheil, voll von Bewunderung für das Talent des Vorlesers und dankbar für den köstlichen Abend, den derselbe mir gewährte.

Corvin.