Textdaten
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Autor: August Topf
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Titel: Eine Tochter Nürnbergs
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 712–715
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Tochter Nürnbergs.
Der Flintensteinhandel. – Die „Märmel“ oder „Märbel“, – Die Märmelmühlen. – Die „Neustädter Reiterle“. – Die Papiermachéfabrikation. – Die Guttaperchaköpfe. – Die Terralithfiguren. – Die Täuflinge und die Papa- und Mamastimmen. – Die Holzschnitzerei. – Die Weißmacherarbeilen. – Geigen, Schnurren, Nußknacker, Drehorgeln. – Bewegliche Puppen und mechanische Spielwaaren. – Der Mustersaal. – Die „Herrgottle“. – Der Umsatz des Sonneberger Geschäfts. – Adolf Fleischmann. – Gefäße aus Terracotta in antiken Formen. – Helden- und Götterfiguren aus Terralith. – Siderolithwaaren in japanestscher Manier.

Ja, von einer Tochter der alten Reichsstadt wollen wir heute erzählen, von einer Tochter, die schon in früher Jugend alle schönen Tugenden der edlen Mutter sich zum Vorbilde nahm, um als reichgeschmückte Braut sich dem Thüringer Walde zu vermählen und als köstliches Juwel dieses reizenden Gebirges zu prangen.

Schon im Mittelalter wandte sich der umsichtige Blick des Nürnberger Kaufmannes nach den ihm zunächst gelegenen Theilen des südöstlichen Thüringer Waldes, wo der Reichthum an Holz willkommene Ausbeute an Pech und Kienruß verhieß und zahlreiche Wetzsteinlager dem Nürnberger Handel willkommene Artikel zuführten. In Folge dessen begann in Sonneberg, dem Mittelpunkt der jetzigen sogenannten Sonneberger Spielwaaren-Industrie, der im Meininger Oberlande am Fuße des Thüringer Waldes gelegen und seit einigen Jahren durch eine Zweigbahn mit der nur vier Stunden entfernten Nachbarstadt Coburg verbunden ist, schon vor Jahrhunderten eine rege Geschäfts- und Gewerbthätigkeit aufzublühen. Bereits in der Zeit von 1710–1740 besaßen viele Sonneberger Kaufleute Etablissements im fernen Auslande, in Stockholm und St. Petersburg, in Kopenhagen und Christiania, in Lübeck und London, ja in Moskau, Archangel und Astrachan.

In dieser ersten wichtigen Periode der Sonneberger Gewerbthätigkeit, während welcher dreißig Jahre Sonneberg neben seinem Vertrieb auch im fast ausschließlichen Besitze des Flintensteinhandels für die Heere Europa’s war, schien noch ein neues schönes Gestirn über der Sonneberger Industrie aufzugehen. Die Berchtesgadner Emigranten nämlich, durch ihre kunstfertigen Schnitzereien in Holz, Knochen und Elfenbein schon damals in hohem Ansehen, baten um Aufnahme in den Sonneberger Industriebezirk, und die Sonneberger Kaufleute suchten ihre Ansiedelung nicht nur aus religiösen, sondern auch aus mercantilen Interessen auf alle mögliche Weise zu betreiben. Allein der neue Hoffnungsstern für die weitere Hebung der Sonneberger Industrie sollte gar bald verbleichen vor einer dunklen Wolke, welche über dem grünen Regierungstische der Residenz Coburg aufstieg, zu welchem kleinen Gebiete Sonneberg bis zum Jahre 1735 gehörte, wie überhaupt Sonnebergs Blüthe sehr zu kränkeln anfing. Erst Herzog Georg von Sachsen-Meiningen, jener wahrhaft praktische und für das Wohl seines Landes unermüdlich besorgte Fürst, suchte durch die Ertheilung eines besonders Privilegiums, des sogenannten Sonneberger Privilegiums, im Jahre 1789 die Sonneberger Industrie wieder zu heben.

Während die Berchtesgadener Schnitzerei für das Meininger Oberland damals verloren ging, wurde doch durch Salzburger Emigranten vom Untersberg der Sonneberger Industrie ein neuer Handelsartikel zugeführt, welcher, an sich klein und unscheinbar, trotzdem von Interesse wurde und später zu hoher Wichtigkeit für den Sonneberger Verkehr gedieh. Es sind dies die in der Kinderwelt aller Zonen so beliebten Märmel oder Märbel, deren Namen in den verschiedenen Gegenden Deutschlands bekanntlich sehr verschieden sind.[1] Kinder und erwachsene Personen geben den zu den Märmeln geeigneten Kalksteinen durch Schlagen eine solche Form, daß dieselben in den von Bächen getriebenen sogenannten Märmelmühlen, deren sich bei Sonneberg und in dessen weiterer Umgebung vierundzwanzig finden, in kurzer Zeit in Kugelgestalt verwandelt werden können. Man nimmt an, daß jährlich wenigstens dreißig Millionen Märmelkugeln fabricirt werden, welche theils in ihrer rohen Gestalt, theils farbig und polirt nach allen Theilen der Erde versendet werden. In neuerer und neuester Zeit hat dieser Artikel zu der Fabrikation schöner Kiesel- und Jaspiskugeln und ebenso zu der Herstellung prachtvoller Porzellanmärmel und äußerst kunstvoller Glasmärmel geführt.

Außer zum Theil freilich noch sehr roh geschnitzten Holzspielwaaren der verschiedensten Art und den eben genannten Märmeln verfertigte man schon im vorigen Jahrhunderte auch Figuren aus einer plastischen Masse, die unter dem Namen „Teig“ bis auf den heutigen Tag bekannt ist und aus einer Mischung von Schwarzmehl und Leim besteht. Dieser Teig wird jetzt noch bei der Fabrikation eines der ältesten ordinären Artikel, der sogenannten „Neustädter Reiterle“, angewendet, indem die Bossirer die Glieder der Figur, deren Körper der Schnitzer aus Holz darstellt, aus freier Hand aus dieser Masse verfertigen. Die Bossirer bildeten bis vor wenigen Jahren, wo die Segnungen der Gewerbefreiheit in’s Land gezogen kamen, eine besondere Zunft, deren Mitgliederzahl durch eine Verordnung in gewisser Weise eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte. Auch die sogenannten Maler, welche den von den Bossirern und Schnitzern gefertigten Artikeln ein buntes Colorit geben, waren in früherer Zeit zünftig.

Das große Verdienst, die Papiermachéfabrikation vor etwa fünfundvierzig Jahren von Paris nach Sonneberg übergeführt zu haben, gebührt dem vor einigen Jahren verstorbenen wackeren Friedrich Müller aus Sonneberg, dem Gründer der Firma Fr. Müller und Straßburger daselbst. Die Papiermasse besteht aus einer Verbindung von Papierfaser, einem auf den Massemühlen fein gemahlenen Sande oder der sogenannten Drückmasse und aus schwarzem Mehle, wozu als Bindemittel noch Leim beigegeben wird. „Modelleure“ fertigen aus Thon die betreffenden Modelle an, welche hierauf in Schwefel abgegossen werden. Die „Former“ drücken alsdann die Papiermasse in die geölten „Formen“ ein. Weil die Papiermachéspielwaaren vor den Bossirerwaaren den großen Vortheil boten, daß sie hohl waren, so konnten in den [713] Figuren allerlei mechanische Vorrichtungen angebracht werden, mittels deren die Figuren gewisse Bewegungen erzeugten und selbst Laute von sich gaben. Daher kam es, daß die Papiermachéfabrikation in der Umgegend von Sonneberg, z. B. in Neustadt a. H., in Rodach bei Coburg, in Hildburghausen, in Gräfenthal auf dem Thüringer Walde etc., gar bald Nachahmung fand, wobei Puppenköpfe in den verschiedensten Größen lange Zeit hindurch den gangbarsten Artikel bildeten.

Viel später, im Jahre 1849, brachte ein Zeichenlehrer und Fabrikant Namens Bandorf einen Artikel in den Handel, welcher großes Aufsehen erregte. Er hatte jene aus Leim und Syrup bestehende gallertartig-elastische Masse, aus welcher die Buchdrucker ihre Walzen gießen, mit Blei- oder Kremserweiß versetzt, ihr damit das Gallertartige genommen und dieselbe zur Herstellung von Caricaturenköpfen, Thieren, wie Eidechsen, Schlangen, Fröschen und dergleichen, verwendet. Man konnte aus einem aus dieser Masse – der sogenannten Guttapercha – hergestellten Kopfe durch Ziehen und Drücken jede Fratze machen, was natürlich bei Jung und Alt viel Heiterkeit hervorrief. Bald kam diese Masse in die Hände mehrerer Fabrikanten, und es wurde in kurzer Zeit ein großer Umsatz mit der fraglichen Waare erzielt. Leider überlebte indeß dieser Artikel kaum einen Sommer. In der Wärme fing die Masse an klebrig zu werden, ja sie löste sich bei höherer Temperatur bis zum völligen Schmelzen auf. Als nun gar an mehrere Kaufleute ganze Kisten mit solchen völlig zerflossenen elastischen Köpfen aus Südamerika und Mexico zurückkamen, da war den Guttaperchaartikeln das Todesurtheil gesprochen, und es wurde seit jener Zeit nie wieder ein Stück der fraglichen Art verfertigt.

Seit vielen Jahren werden bekanntlich in Spanien und durch Spanier auch in Mexico feinere, buntgemalte Figuren in gebranntem Thone hergestellt, welche den Vortheil gewähren, daß sich an den den Formen entnommenen Abdrücken leicht „nachschärfen“ oder nachhelfen läßt, was bei der Papiermachéfabrikation nicht der Fall ist. Diese sogenannten Terralithwaaren werden seit 1847 ebenfalls in Sonneberg fabricirt und sind seit einer Reihe von Jahren eine gesuchte Waare. Anfangs fertigte man hauptsächlich sogenannte Theaterfiguren, d. h. Costümfiguren der hervorragenden Rollen beliebter Theaterstücke an. Die erste Anregung zur Verfertigung von Terralithwaaren hat ebenfalls der schon genannte Zeichen- und Modellirlehrer Bandorf gegeben, unter dessen Einfluß sich überhaupt die Plastik der Sonneberger Spielwaaren wesentlich veredelte. Unter seinen Schülern nehmen Chr. Döbrich in Sonneberg und Ernst Dorn in Neustadt a. H. eine hervorragende Stelle ein; während der erstere die berühmten Pariser gebrannten Thoncaricaturen vortrefflich nachahmt und dieselben rohfarbig oder bunt zum fünften Theil des Preises der in Paris gefertigten höchst geistreichen Originale herstellt, gehen aus dem Etablissement von Ernst Dorn in Neustadt a. H. überaus schöne Terralith-Statuetten berühmter Männer hervor.

Die Figuren mit beweglichen Gliedern, wie z. B. die von Sonneberg aus in ungeheueren Massen über die ganze Erde verbreiteten Täuflinge, sind zuerst aus China nach Europa gekommen. Paris liefert für Sonneberg häufig Muster von mechanischen Spielwaaren; doch fehlt es auch in Sonneberg nicht an erfinderischen Köpfen. So ist beispielsweise die Bewegung der Augen in den mit Papa- und Mamastimmen versehenen Figuren Sonneberger Ursprungs. Diese Papa- und Mamastimmen hat Christoph Motschmann nach Sonneberg gebracht, und der Mechaniker Hensold nach Pariser Mustern zuerst nachgeahmt. Gegenwärtig werden die sogenannten Papa- und Mamastimmen, sowie diejenigen der Schafe, Ziegen, Haushähne, Kakadus, Hunde, Ochsen, Pferde etc. auf den umliegenden Dörfern so täuschend naturgetreu und zugleich so billig hergestellt, daß solche Stimmen jetzt sogar von den ursprünglichen Pariser Erfindern und Fabrikanten von Sonneberg bezogen werden. –

Die Holzschnitzerei des Meininger Oberlandes beschäftigt gegenwärtig gegen eintausendeinhundert Familien, welche, je nachdem sie große, sehr schönes astfreies und gut spaltbares Holz bedingende, oder kleinere Artikel fertigen, als Groß- und Kleinschnitzer unterschieden werden. Der Gesammtbetrag des jährlich von den Schnitzern verarbeiteten Holzes betrug in den zwanziger Jahren vier- bis fünfhundert Klaftern, während gegenwärtig mehr als fünftausend Klaftern jährlich erforderlich sind. Rohe für die Verpackung bestimmte Gegenstände und Behältnisse, wie Faßdauben, Packfässer und Packlisten, Schachteln, große in Sätzen, d. h. viele ineinander gesteckt, ferner mittlere oder sogenannte Nachtlichterschachteln, dann kleine, zur Aufnahme von Schwefelhölzern, Pillen, Wichse, Zuckerbäckerwaaren und dergleichen Dingen bestimmt – das Alles sind Gegenstände der Sonneberger Industrie. Ein großer Theil dieser Dinge wird in Sonneberg selbst verbraucht, doch wird nicht wenig davon auch nach anderen Industriebezirken versandt. Zu den Schachteln und Trommel-Läufen, welche man mit Hülfe eines Hobels äußerst schnell herstellt, muß das Holz im grünem Zustande verarbeitet werden. Auch die verschiedene, Kasten, wie Porcellan-, Griffel-, Farben-, Glasmärmel- und Schmierkästen, ferner die Bandbretchen, sowie runde und ovale Bandrollen, ferner die nach Köln gehenden Eau de Cologne-Kästchen sind hier mit zu erwähnen. Die Buchenspähne, 18“ lang und 1’ breit, wovon der Bund zu fünfzig Stück drei Kreuzer kostet, werden ebenfalls unter Anwendung eines dazu geeigneten Hobels in ungemein kurzer Zeit gewonnen, indeß sind bei dieser Manipulalion stets zwei Arbeiter erforderlich. Diese Spähne wandern zu verschiedener Verwendung in Essigfabriken, Spiegelfabriken und in Bierbrauereien, breitere auch in Schusterboutiquen und dienen hauptsächlich in Sonneberg gleichfalls zur Verpackung.

Eine weitere Abtheilung der Sonneberger Schnitzerartikel bilden die sogenannten Weißmacherarbeilen, d. h. Theile von Gegenständen, welche von anderen Fabrikanten unter Anwendung von Papiermaché, Leim, Farben und dergl. ihre Vollendung erhalten. Hier sind zu nennen: Bretchen in allen Größen, welche mit der sogenannten Spaltklinge hergestellt werden, ferner Kästchen zu Untergestellen, Pferde, Reiter, fahrend und auf Bogen stehend, Cabriolets, Ställe, Thierrümpfe und Beine, Arme und Hände zu Täuflingen, Rädchen, Bälge, Gliederpuppen und dergleichen. Endlich liefern die Kleinschnitzer auch eine lange Reihe von Artikeln, die als reine Spielwaaren sofort in den Handel kommen. Zu den seit alter Zeit gefertigten Gegenständen, die unter diese Rubrik fallen, zählen wir die kleinen Koffer (das Dutzend von zwölf Kreuzern an), die kleinen Lädchen (das Dutzend von drei und einem halben Kreuzer an), die Geigen (das Stück von vier Kreuzern an) die Schnurren (das Dutzend von vier Kreuzern an), und manch andere noch. Von den gedrechselten Gegenständen primitivster Art nennen wir die Pfeifen, Flöten (das Dutzend von drei Kreuzern an), Posthörnchen und Trompeten (das Dutzend von vier Kreuzern an), die Nußknacker, Puppenmöbel und Puppenstuben, Trommelschlägel, Kegelspiele und dergleichen. Die Drechsler liefern vielerlei Thiere und Figuren, welche auf klingenden Kästchen stehen. In Gruppen zusammengestellt oder in besondere Ordnungen gebracht geben diese Gegenstände viele neue Artikel; hierher gehören z. B die Caroussels. Selbstverständlich sind alle diese Dinge mit verschiedenen Farben bemalt.

Auch Orgeln werden in Sonneberg construirt; die kleineren welche fünf bis sechs Choräle oder beliebte Volksmelodien spielen dienen zum „Anlernen“ der Gimpel oder Dompfaffen, während größere Drehwerke vorzugsweise über Hamburg nach verschiedenen Colonien exportirt werden.

Die Zahl derjenigen Artikel, welche aus Holz in Verbindung mit Papiermaché gefertigt werden, ist überaus groß, namentlich giebt es außerordentlich viele meist angekleidete mechanische Spielwaaren; ebenso finden wir alle möglichen Thiere, welche beweglich sind, Stimmen haben und mit natürlichen Fellen überzogen sind. Sehr reichhaltig sind auch die Lager von Papiermachéfiguren für den Nipptisch. Wir sehen hier Figuren und Caricaturen von einem Zoll bis zu drei Fuß Höhe mit beweglichen Köpfen, mit beweglichen Augen und beweglichem Munde in Tausenden von Varietäten.

Was überhaupt in Sonneberg und zwanzig zum Theil starkbevölkerten Orten der Umgegend von etwa eintausend Arbeitern gefertigt wird, das zeigt uns der Mustersaal eines jeden größeren Sonneberger Handelshauses. Hier erblicken wir je ein Exemplar von zehn- bis zwölftausend verschiedenen Artikeln, die im vollsten Sinne des Wortes eine immerwährende Weltausstellung repräsentiren. Menschen aller Racen, aller Zonen, aller Zeiten stehen hier vor uns. Alle Stände sind vertreten vom Savoyardenbüblein bis zum Kaiser. Hier wohnt ein Friede, wie er sonst nirgends auf der Erde wieder gefunden wird: ruhig stehen nebeneinander der Deutsche und der Däne, der Pole und der Russe, der Unionist und der Conföderirte Amerikas. An der Seite eines Brahminen hüllt [714] sich ein bärtiger Jude in seinen weiten Kastan; neben einem Franciscaner schreitet gemessen ein Derwisch einher. Um den grünen Tisch sitzen die Gesandten der englischen Conferenz, während eine andere Gruppe ebenfalls in naturgetreuen Figuren die letzte Fürstenversammlung zu Frankfurt a. M. darstellt. Dabei sind alle Zeitalter repräsentirt; wir gewahren moderne Trachten neben Gestalten aus dem Alterthume, dem Mittelalter und der Renaissance. Alle Männer der Gegenwart, welche in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft, in Politik und Literatur unser besonderes Interesse in Anspruch nehmen, begegnen uns hier wieder. Neben allerlei niedlichen musikalischen Instrumenten, Flöten, Geigen, Pfeifen, Trompeten und Pauken etc. gewahren wir ein reich ausgestattetes Arsenal von Flinten, Säbeln, Pistolen, Trommeln und Kanonen. Keine Menagerie, ja kein zoologischer Garten ist reichhaltiger, als die Sammlung von Thieren, welche uns der Mustersaal zeigt. Jeder pomologische Verein würde stolz sein auf die Ausstellung der hier ausgelegten Sorten von dem verschiedenartigsten Obst, von Weintrauben, Beeren, Kirschen in Glas, Porcellan und Papiermaché. Niemals hat einem Jockeyclub eine größere Auswahl von Pferden aller Racen zu Gebote gestanden, als hier vorhanden sind, ebenso würde ein Theaterregisseur wegen der zu beschaffenden Requisiten hier niemals in Verlegenheit kommen. Tausende von neckischen Geistern umhüpfen uns in Gestalt von Humoresken und Caricaturen. Vom ellenlangen Hampelmann und der tragikomischen Figur unseres Flotten-Fischers bis zu dem Herrn Doctor Eisele ließe sich eine lange, lange Reihe von äußerst schalkhaften und possirlichen Gegenständen dieses Genres nennen. Kurz, die Stecken- und Wiegenpferde der kleinen wie der großen Kinderwelt aller civilisirten und uncivilisirten Nationen sind hier zur Schau ausgestellt. Noch mehr Interesse gewinnt aber der Mustersaal für uns, sobald wir von dem uns begleitenden Kaufmanne einige Andeutungen darüber hören, nach welchen Ländern der eine und der andere Artikel seinen hauptsächlichen Absatz findet. Hier ist uns Gelegenheit geboten, die Eigenthümlichkeiten und namentlich die verschiedenen Geschmacksrichtungen der einzelnen Völker gründlich zu studiren.

Außer den im Sonneberger Bezirk selbst gefertigten Spielwaaren sehen wir hier zugleich den größten Theil aller übrigen in Deutschland und selbst im Auslande, wie z. B. in Paris, fabricirten Spielwaaren, da Sonneberg große Quantitäten dieser Artikel von allen Seiten bezieht und wieder ausführt. Aus dem sächsischen Erzgebirge und namentlich aus Seiffen bei Marienberg kommen ganz ordinäre kleinere Holzspielwaaren in Schachteln, Noahkästen, Pfennigpfeifen und dergl., während aus der Umgegend von Lichtenfels in Oberfranken eine Menge niedlicher Korbspielwaaren bezogen werden. Auch Böhmen und Schlesien führen nach Sonneberg verschiedene Artikel aus. In Westphalen sind es besonders die Städte Solingen und Lünen, welche für Sonneberg viele Artikel, z. B. metallene Kindersäbel, Kindermesser und -Gabeln und dergl. liefern. Die bekannten Berchtesgadner Schnitzereien sind in Sonneberg natürlich auch vertreten. Katholische Heiligenbilder und Crucifixe sendet Tirol, wo Gröden unter andern Artikeln auch eine Gattung von Crucifixen, jene erst neulich in der Gartenlaube erwähnten „Herrgottle“, aus Holz schnitzt, welche zwei bis drei Zoll lang sind und kaum neun bis zehn Kreuzer das Dutzend kosten. Selbstverständlich sind diese „Herrgottle“ außerordentlich roh gearbeitet. Dagegen bekommt man um wenige Kreuzer mehr „Herrgottle mit Muschculatur“, d. h. mit einigen Andeutungen eines Rippenkastens und einiger Hauptmuskelformen. Feinere, nicht aus Holz oder Papiermaché gefertigte Spielwaaren, die zunächst zur Belehrung und zu geistiger Unterhaltung dienen, kauft Sonneberg in Paris, Cassel, Stuttgart, Berlin und Nürnberg. Besonders mit dem letztern hat Sonneberg als eine gute Tochter viele Beziehungen unterhalten. Während Nürnberg selbst sehr viele Artikel von Sonneberg bezieht, sendet es den Sonneberger Kaufleuten vorzugsweise Blech-, Zinn- und Messingwaaren, wie Klingeln, Säbel, Küchengeräthe, ferner Baukästen, Cubus-, Geduld-, Metamorphosen- und Tivolispiele, Lottos, Kanonen, Gewehre, Harmonicas, Blechtrompeten, zinnerne und bleierne Ringe, Kinderuhren, Eisenbahnen, Hornwaaren, z. B. Hornschlangen, Kaleidoskope, Buchdruckerpressen für Kinder, magnetische Spielwaren, Guckkästen, Roulettespiele, Cartonagen, Bilder und Spiegel in Rahmen und dergleichen.

„Hoher Sinn liegt oft in kind’schem Spiel!“ Dies Wort wird durch die Sonneberger Spielwaarenindustrie von einer Seite aus illustrirt, an welche man gewöhnlich wohl nicht denkt. Sonneberg ergiebt mit seinen Erzeugnissen nämlich einen jährlichen Umsatz von anderthalb Millionen Gulden. In neuerer Zeit, wo unsere besten Künstler bestrebt sind, durch wahrhaft gute Bilderbücher die unheilvollen Struwwelpetriaden zu verdrängen, ist man auch in Sonneberg thätig, mehr und mehr feinere Spielwaaren herzustellen, wobei Geschmack, Eleganz und Naturtreue die leitenden Ideen sind. Zudem ist es ein besonderes Verdienst der Sonneberger Spielwaaren-Industrie, nicht nur plastisch schön geformte Spielwaaren zu produciren, sondern dieselben auch zu äußerst billigen Preisen zu liefern. Darum haben auch die Sonneberger Artikel überall in den gebildeteren Familien willkommene Aufnahme gefunden. Der Gedanke, daß ein gut geformtes Spielzeug in gewissem Sinn das Alphabet der Kunst genannt werden kann, gewinnt von Tag zu Tag mehr Terrain. In dieser Hinsicht können die Verdienste des Kaufmanns Adolf Fleischmann um die Sonneberger Industrie nicht hoch genug angeschlagen werden. Seit 1858 ist auch eine Zeichen- und Modellirschule in Sonneberg in’s Leben gerufen worden, welche wesentlich zur Heranbildung tüchtiger und künstlerisch schaffender Arbeiter beiträgt. Vom Staate unterstützt ist außerdem in jüngster Zeit unter der Leitung des aus Imst in Tirol hierher berufenen Holzbildhauers Klotz eine Schule für Kunst-Holzschnitzerei errichtet worden, in welcher auch eine Anzahl von Zöglingen aus dem Schnitzerdistricte Sonnebergs unentgeltlich Unterricht erhalten.

Kaum möchte heute das Sonneberger Geschäft an Umfang demjenigen Nürnbergs viel nachgeben. Gegenwärtig verschickt Sonneberg noch einmal so viel Waaren in die Welt, wie in den vierziger Jahren. Mehrere Chefs der großen Sonneberger Handelshäuser haben Jahre lang in New-York oder in London, in Brüssel oder in Paris gearbeitet und im Auslande große Reisen gemacht. Die Hauptabnehmer der Sonneberger Artikel sind die deutschen Zollvereinsstaaten, Frankreich, Holland, England, Rußland und Nord- und Südamerika. Da Jahr aus Jahr ein viele Grossisten aus den entferntesten Ländern nach Sonneberg kommen, so hat man hier im Interesse dieser Fremden seit einigen Jahren eine permanente Musterausstellung von auswärtigen, in das Sonneberger Fach einschlagenden Industrieerzeugnissen in’s Leben gerufen, wodurch zu gleicher Zeit dem Sonneberger Geschäfte neue Handelsartikel zugeführt werden.

Wenn durch die genannten Anstalten der Sonneberger Industrie Gelegenheit geboten ist, sich immer weiter und weiter zu entfalten und mehr und mehr der Kunst zu nähern, so hat die letztere selbst seit einigen Jahren ihren Einzug in Sonneberg gehalten durch das in seiner Art in ganz Deutschland einzig dastehende industrielle Etablissement von A. Schmidt. Was hier unser ganz besonderes Interesse in Anspruch nimmt, ist die Herstellung von antiken Gefäßen, welche den mit Patina überzogenen Bronce-Originalen auf das Täuschendste ähnlich sehen. Bekanntlich ist die blaugrüne oder chromgrüne Farbennüance der antiken Patina selbst auf wirklicher Bronce nur mittels eines französischen Geheimmittels herzustellen. Dem in Rede stehenden Etablissement ist es aber gelungen, nach antiken Originalen oder Originalabgüssen Gefäße aus Terracotta – gebranntem, naturfarbigem, rothem, gelbem und gelb-rothbraunem Thon – herzustellen, deren Patina von der antiken nicht zu unterscheiden ist. Die Producte der berühmten Kerameutik der Alten sind gegenwärtig wieder ein Lieblingsgegenstand zur Decoration der Salons, der Zimmer und Vorsäle geworden und haben deshalb seit geraumer Zeit in Neapel und einigen Fabriken Englands Nachahmung gefunden. Wir sehen in dem A. Schmidt’schen Etablissement die in dem großen Gerhard’schen Vasenwerke zusammengebrachten antiken Gefäße in einer Vollendung erstehen, daß wir uns unwillkürlich nach Pompeji und Herculanum versetzt glauben. Als höchst anschauliche Illustration zu den in alten Epopöen geschilderten Gesäßen ist jeder höheren Lehranstalt eine übersichtliche Gruppe derartiger Gesäße nicht genug zu empfehlen.

Nicht weniger sind wir überrascht beim Anblick der in Terralith ausgeführten Helden- und Götterfiguren des trojanischen Krieges nach der Ilias des Homer. Der Raum gestattet uns leider nicht, diese neun Zoll hohen Figuren, welche ebensowohl in bunter Ausführung, als auch in brauner, schwarz decorirter Terracotta zu sehen sind, hier ausführlich zu besprechen. Wir können [715] jedoch das A. Schmidt’sche Etablissement nicht verlassen, zugleich den nach japanischer Weise vergoldeten, broncirten und auch gemalten Siderolithwaaren der verschiedensten Art unsere Bewunderung zu zollen. Aus Terralith werden hier äußerst feine Figuren, Portraits, Gebrauchsgegenstände etc. hergestellt, deren Farben, was früher bekanntlich nicht der Fall war, unverwüstlich sind und deren Versilberung und Vergoldung polirfähig ist. Alcarazzas, Kühlgefäße, Weinkühler, Butterkühler u. dergl. Gegenstände, aus porösem weichen Thone fabricirt und mit doppelter Wandung versehen, gehen gleichfalls aus dieser Anstalt hervor.

Es ist eine Freude, zu gewahren, wie hier alle Kräfte harmonisch ineinander greifen. Die Früchte solcher Arbeit sind denn auch sichtbar. Sonneberg ist in den letzten zwanzig Jahren von dreitausend auf fünftausend Einwohner gestiegen, der Wohlstand wächst mit jedem Jahr, die Stadt selbst sieht sich genöthigt, aus der Enge des Waldthales immer weiter nach der Ebene hinabzusteigen, wo auch die Gasanstalt ihre Stelle erhielt und eine Reihe von großstädtischen Gebäuden den Blick auf sich zieht. Ueberhaupt gewährt die Stadt, die hoffentlich, wie bereits mit Coburg, bald auch mit Gera durch einen Schienenweg verbunden sein wird, vom Bahnhofe aus und namentlich zur Sommerzeit in der grünen Umrahmung der nahen Berge einen überaus malerischen Anblick. Weit oben über dem alten Stadttheile erhebt sich an der Stelle einer längst verfallenen Burg ein hoher Thurmbau, als ein Lueg in’s Land die Thalebene weit beherrschend, welcher den Rittern der Gegenwart, den Industriellen, als Vergnügungslocal dient. Da hat man denn Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß bei aller Intelligenz und Gewandtheit dem Sonneberger seine alte thüringische Gemüthlichkeit nicht abhanden gekommen ist. Rechts aber auf einer mäßigen Anhöhe prangt die schöne neue Stadtkirche, nach des unlängst verstorbenen Heideloff’s Zeichnung eine Nachbildung der St. Lorenzkirche in Nürnberg, ebenfalls zum Zeugniß dafür, daß Sonneberg auch in Zukunft mit Stolz genannt werden wird – eine Tochter Nürnbergs.
August Topf.



  1. In Salzburg kennt man für dieses Spielzeug nur die Namen Schusser oder Kucheln, in München heißen die Märmel „Antetscher“, in Augsburg „Glucker“, in Berlin „Murmel“, in Coblenz „Marbel“, in den Hansestädten spielt man mit „Marels“, in Düsseldorf mit „Klickern“, in Thüringen ist der Name „Klitscher“, im Voigtlande die Bezeichnung „Schnellkaulen“ üblich; die Holsteiner kennen die Märmel unter dem Namen „Nipser“, die Meininger loben sich ihre „Guterlei“, in anderen Gegenden wiederum sind die Namen „Schiffer“, „Ripperche“, und noch viele andere gebräuchlich.